Prof. Dr. Isabel von Keitz, Prof. Dr. Peter Wollmert
1. Grundsatz der Bewertung mit dem best estimate
Tz. 97
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Bei der Bewertung von Rückstellungen sind Schätzungen hinsichtlich der Höhe und/oder des Zeitpunkts des Abflusses von Ressourcen mit wirtschaftlichem Nutzen zur Erfüllung der Verpflichtung angesichts der Rückstellungen immanenten Ungewissheit schlechterdings nicht zu vermeiden (vgl. auch Tz. 36). Indes beeinträchtigt die Notwendigkeit von Schätzungen nicht per se die Verlässlichkeit (reliability) eines Abschlusses (IAS 37.25).
Tz. 98
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
IAS 37.14 (c) erklärt die Möglichkeit einer zuverlässigen Schätzung (reliable estimate) einer Verpflichtung zu einer Ansatzvoraussetzung von Rückstellungen (vgl. Tz. 61 ff.). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Schätzung eines Wertes innerhalb einer Bandbreite denkbarer Ereignisse möglich, begründbar und nachvollziehbar ist (vgl. ADS Int 2002, Abschn. 18, Tz. 46 f.).
Für die Bewertung von Rückstellungen wird diese Ansatzvoraussetzung durch den Grundsatz, Rückstellungen mit dem bestmöglichen Schätzwert zu bewerten, konkretisiert. Danach ist eine Rückstellung mit dem Betrag anzusetzen, der nach der bestmöglichen Schätzung (best estimate) des Managements des Unternehmens erforderlich ist, um die gegenwärtige Verpflichtung am Bilanzstichtag zu erfüllen bzw. abzulösen (IAS 37.36). Best estimate ist also der Betrag, den das Unternehmen bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung (rationally) zur Erfüllung der Verpflichtung (= Erfüllungsbetrag) oder zur Übertragung der Verpflichtung auf einen Dritten (= Ablösebetrag) am Bilanzstichtag aufwenden müsste (IAS 37.37). Dies ist bei Geldleistungsverpflichtungen der Nennwert und bei Sach- oder Dienstleistungsverpflichtungen der Geldwert der Aufwendungen, die zur Bewirkung der geschuldeten Leistung erforderlich sind. Mögliche (zB rechtliche) Hinderungsgründe für eine tatsächliche Erfüllung oder Übertragung der Verpflichtung zum Bilanzstichtag sind für die Bewertung irrelevant. Entscheidend ist der Erfüllungs- bzw. Ablösebetrag bei einer ggf. fiktiv unterstellten Erfüllung bzw. Ablösung der Verpflichtung am Bilanzstichtag.
Tz. 99
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Der Standard anerkennt, dass die Erfüllung oder Übertragung der Verpflichtung zum Bilanzstichtag in vielen Fällen unmöglich oder prohibitiv teuer sein kann (IAS 37.37), hält aber die bei dieser fiktiv unterstellten Transaktion ermittelten Beträge dennoch für die bestmögliche Schätzung der zur Erfüllung der gegenwärtigen Verpflichtung erforderlichen Ausgaben. Mit dem Hinweis auf die Übertragung der Verpflichtung auf Dritte, die in der Praxis allenfalls bei Unternehmenszusammenschlüssen (business combinations) oder der Veräußerung von Geschäftsbereichen (zB im Zuge einer Restrukturierung) praktische Bedeutung erlangt, soll das Ermessen des Unternehmens bei der Bewertung von Rückstellungen objektiviert werden. Neben Erwartungen des Unternehmens hinsichtlich Höhe und/oder Zeitpunkt des Abflusses von Ressourcen mit wirtschaftlichem Nutzen werden die Erwartungen der Marktteilnehmer als bewertungsrelevant (meist bewertungsbegrenzend) erklärt.
Tz. 100
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Die Ermittlung des best estimate obliegt der vernünftigen kaufmännischen Beurteilung durch das Management. Dabei sind die Erfahrungen mit ähnlichen Verpflichtungen aus der Vergangenheit sowie alle zusätzlichen, durch Ereignisse nach dem Bilanzstichtag entstandenen substanziellen Hinweise zu berücksichtigen (IAS 37.38). In Einzelfällen kann die Expertise von unabhängigen Sachverständigen und Gutachtern (zB bei Verpflichtungen aus Rechtsstreitigkeiten oder aus Umweltschutz sowie bei versicherungsmathematischen Gutachten) notwendig oder geboten sein; indes bleibt auch in diesen Fällen das Management des Unternehmens für die ordnungsgemäße Rechnungslegung von Rückstellungen verantwortlich.
Tz. 101
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Bei der Schätzung des Abflusses von Ressourcen mit wirtschaftlichem Nutzen zur Erfüllung einer Verpflichtung sind unterschiedliche bewertungsrelevante Merkmale einer Verpflichtung im Bewertungskalkül zu berücksichtigen. So etwa, ob Einzelverpflichtungen (zB bei einer Umweltaltlast) oder Massenverpflichtungen (zB bei Gewährleistungen) zu bewerten sind, oder wie der Eintritt unterschiedlicher Ereignisse (ggf. mit unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten und unterschiedlichen Erfüllungsbeträgen) bei der Erfüllung einer Verpflichtung im Bewertungskalkül zu reflektieren ist. Dem versuchen die Anweisungen in IAS 37.39f. Rechnung zu tragen. Danach ist best estimate
- falls der Verpflichtung eine große Zahl gleichartiger Ereignisse zugrunde liegt (zB im Falle von Gewährleistungen), der statistische Erwartungswert (expected value; IAS 37.39 mit einem Beispiel; vgl. auch ADS Int, Abschn. 18, Tz. 76), bei dem alle möglichen Erfüllungsbeträge mit ihren (subjektiven bzw. objektiven) Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichtet werden;
- falls bei derartigen Verpflichtungen eine kontinuierliche Bandbreite gleich wahrscheinlicher Erfüllungsbeträge besteht, der Mittelpunkt ...