Tz. 358

Stand: EL 37 – ET: 2/2019

Die Finanzmarktkrise der Jahre 2007 bis 2010 hat mehrere Schwachstellen im weltweiten Finanzsystem offenbart. Die Neuordnung der Verbriefungsmärkte, die Stärkung der Finanzinstitute mit höheren Eigenmittelanforderungen sowie die Verlagerung des Derivategeschäfts aus dem reinen OTC-Markt über Clearing-Häuser stellten erste wichtige Schritte für eine Straffung dar. Ein Thema, das noch nicht vollends aufgearbeitet wurde, gilt den weithin zum Einsatz gelangenden Referenzzinssätzen, namentlich den Interbankengeldmarktsätzen (InterBank Offered Rates, kurz IBOR). Die drei bedeutendsten derartigen Referenzzinssätze sind jene, die auf dem britischen, europäischen und japanischen Geldmarkt ermittelt werden (Libor, Euribor und Tibor). Diese Zinssätze erhalten ihre Bedeutung va. dadurch, dass sie weit über den reinen Bankensektor Anwendung finden. So werden variabel verzinsliche Kreditbeziehungen vielfach unter Zuhilfenahme dieser Sätze mit einem Preis unterlegt; die Hauptbedeutung erlangen sie aber durch breite Verwendung im Derivategeschäft, wo Banken ihre Quotierungen für eine unbesicherte Geldaufnahme bestimmter Kombinationen aus Währung und Fristigkeit einstellen. Das Kernproblem dieser Zinssätze liegt darin, dass sie nicht auf realen Transaktionen fußen (oder nur in sehr geringem Ausmaß), sondern in hohem Maße ermessensbehaftet und damit schwer objektivierbar sind. Hinzu kommt, dass die Zinssätze auf den drei genannten Märkten jeweils nur von sehr wenigen Instituten abgegeben werden, den sog. Panel-Banken (auf die stattgefundenen Manipulationen, die weiterhin Gegenstand von Ermittlungen sind, soll hier nicht eingegangen werden).

 

Tz. 359

Stand: EL 37 – ET: 2/2019

Vor diesem Hintergrund baten die G-20-Staaten den Finanzstabilitätsrat um eine grundlegende Überprüfung der wichtigsten Referenzzinssätze und die Erarbeitung eines neuen Systems, mit dem sichergestellt werden könne, dass die Zinssätze belastbar sind und von den Marktteilnehmern sachgerecht angewendet werden. Am 22. Juli 2014 veröffentlichte der Finanzstabilitätsrat einen Bericht mit dem Titel Reforming Major Interest Rate Benchmarks. In diesem stellte er zwei Eckpunkte für ein alternatives Referenzzinssystem vor: Zum einen sollte die bestehenden Referenzzinssätze so weit wie möglich mit realen Geschäftsvorfällen substantiiert und damit gestärkt werden (Marktteilnehmer sprechen in diesem Zusammenhang von IBOR+); zum anderen sollten alternative Referenzzinssätze entwickelt werden, die nahezu risikofrei sind (risk-free rates, RFR; vgl. FSB 2014, S. 2). Seitdem haben einige Rechtskreise Maßnahmen ergriffen, die auf die Schaffung alternativer Zinssätze auf der Basis von Tagesgeld abzielen. Als Beispiele seien die Secure Overnight Funding Rate (SOFR) in den USA sowie der Sterling Overnight Index Average (SONIA) genannt.

 

Tz. 360

Stand: EL 37 – ET: 2/2019

Auch wenn die IBOR-Reform per se kein originäres Bilanzierungsthema ist, hat sie dennoch erhebliche Ausstrahlungswirkung auf andere Rechtsgebiete – und dabei eben auch auf die Rechnungslegung. Sollten die Referenzzinssätze wegen zunehmender Bedenken von Regulatoren aus dem Verkehr gezogen und nicht mehr unterstützt werden, könnten eine Vielzahl bestehender Transaktionen mit einem Mal ohne eine Preisstellung dastehen. Dieses hätte zweifelsohne erhebliche Auswirkungen für die bilanzielle Bewertung derartiger Geschäfte. Auch könnten Marktteilnehmer eine Änderung ihrer Finanzierungsvereinbarungen vornehmen, bei der ein IBOR durch einen risikofreien Tagesgeldsatz ersetzt wird. Sind derartige Geschäfte dann Gegenstand des Hedge Accounting, stellt sich eine ähnliche Frage wie seinerzeit bei der EMIR-Reform: Der Austausch von Derivaten oder ein harter Eingriff in die Vertragsmerkmale von Grund- und/oder Sicherungsgeschäft führt ohne ergänzende Flankierung durch den Standardsetzer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Abbruch der Sicherungsbilanzierung. Angesichts der im Raum stehenden Volumina dürfte deutlich werden, dass dieses Thema eine erhebliche Sprengkraft besitzt. Dem wurde sich auch der IASB bewusst, der im Juni 2018 aufgrund der Dringlichkeit der Thematik für eine Aufnahme in sein Forschungsprogramm beschlossen hat und im Dezember 2018 über den weiteren Projektfortgang entscheiden will (vgl. dazu Agendapapier 19 von der Junisitzung des IASB, abrufbar unter https://www.ifrs.org/-/media/feature/meetings/2018/june/iasb/ap19-ibor.pdf). Dabei ist allerdings zu konstatieren, dass dem Standardsetzer so lange faktisch die Hände gebunden sind, wie die maßgeblichen Marktakteure bei der Neugestaltung des Referenzzinssystems keine nennenswerten Fortschritte erzielen. Zum Trost sei erwähnt, dass der IASB dieses Schicksal mit dem FASB teilt: Zwar hat dieser unlängst die Secure Overnight Funding Rate als Referenzzins für Zwecke der Sicherungsbilanzierung nach ­US-GAAP akzeptiert (vgl. ASU 2018–16), vertritt aber die Ansicht, dass er mehr Zeit benötige, um die Konsequenzen eines Übergangs von dem ein...

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