Prof. Dr. Bettina Thormann, Prof. Dr. Marius Gros
1. Prüffelder und Sachverhaltsermittlung
Tz. 106
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Grundsätzlich orientieren sich der Verfahrensablauf einschließlich der Prüffelder und der Sachverhaltsermittlung an den "ESMA Guidelines on enforcement of financial information" (vgl. Feldmüller/Probst, WP-Handbuch2023, Tz. 273). Obgleich bei Prüfungsanordnung der Umfang der einzelnen Prüfung festgelegt werden "soll" (§ 107 Abs. 1 Satz 4 WpHG), ist bei Auswahl der Prüffelder und Sachverhaltsermittlung zwischen Anlass- und Stichprobenprüfungen zu differenzieren. Bei Anlassprüfungen wird der Prüfungsumfang regelmäßig zunächst die konkreten Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften betreffen, die zur Anlassprüfung geführt haben (vgl. Tz. 85ff.). Eine Erweiterung des Prüfungsumfanges ist möglich, sofern sich bei der Anlassprüfung weitere konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften ergeben und ein öffentliches Interesse an der Klärung besteht. Somit ist grundsätzlich ausgeschlossen, dass bei einer Anlassprüfung ohne konkrete Anhaltspunkte für weitere Verstöße gegen Rechnungslegungsvorschriften, stichprobenartig weitere Prüffelder eröffnet werden (vgl. Anzinger/Hönsch in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl., § 107 WpHG, Rz. 30).
Tz. 106a
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Bei der Eingrenzung der Sachverhaltsermittlung ist der BaFin im Rahmen von Anlassprüfungen ein weiter Ermessenspielraum zuzubilligen, um die Ziele des Bilanzkontrollverfahrens erreichen zu können, insbesondere die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts. Eine restriktive Auslegung stünde der Intention des FISG entgegen, die Aufsicht zu stärken. Der BaFin muss es möglich sein, die Sachverhaltsermittlung so weit vorzunehmen, dass eine verlässliche, auch forensische Prüfung der zutreffenden Anwendung der einschlägigen Rechnungslegungsvorschriften ermöglicht wird (vgl. Anzinger/Hönsch in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl., § 107 WpHG, Rz. 34).
Tz. 106b
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Zur Auswahl der Bereiche, die bei Stichprobenprüfungen näher untersucht werden sollen, kommen mehrere Quellen in Betracht. Neben den "European common enforcement priorities" (vgl. Tz. 107 und 26) dienen hierzu in erster Linie die Geschäftsberichte der Unternehmen sowie die ggf. angeforderten Prüfungsberichte des Abschlussprüfers und etwaige Aufstellungen nicht gebuchter Prüfungsdifferenzen. Insbesondere gibt der deutsche "long-form"-Prüfungsbericht, wie von § 321 Abs. 2 HGB gefordert, wichtige Hinweise auf kritische Abschlussposten. Es ist davon auszugehen, dass künftig auch die Nachhaltigkeitsberichterstattung und deren Einklang mit der Finanzberichterstattung besondere Aufmerksamkeit erfahren wird.
Tz. 107
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Bei Stichprobenprüfungen wird die BaFin den jährlich angekündigten Prüfungsschwerpunkten besondere Relevanz schenken: "Die BaFin richtet sich bei ihren Schwerpunkten auch nach den Prioritäten, die die ESMA setzt" (Hanenberg/Kostjutschenkow, BaFin-Journal Dezember 2021, S. 17). Die Prüffelder umfassen deshalb regelmäßig zunächst die von der ESMA jährlich publizierten "European common enforcement priorities" (vgl. Tz. 26) und werden von der BaFin durch Veröffentlichung nationaler Prüfungsschwerpunkte auf deren Internetseite ggf. ergänzt. Auch bei Stichprobenprüfungen ist das Enforcement-Verfahren jedoch nicht auf diese Themenschwerpunkte beschränkt. Die BaFin kann und wird weitere für das geprüfte Unternehmen wesentliche Geschäftsvorfälle, Bilanz- und GuV-Posten oder auch andere Angabepflichten hinterfragen (vgl. zB Kliem/Hillemeyer/Funk, KoR 2023, S. 6).
Tz. 107a
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Ebenfalls bei Stichprobenprüfungen wird die Soll-Vorschrift des § 107 Abs. 1 Satz 4 WpHG, nach der der Umfang der einzelnen Prüfung in der Prüfungsanordnung festgelegt werden soll, weit zu interpretieren sein. Hierfür spricht bereits der Sinn und Zweck des Enforcement-Verfahrens bzw. von Stichprobenprüfungen (vgl. Anzinger/Hönsch in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl., § 107 WpHG, Rz. 29). Wird der in der Prüfungsanordnung ursprünglich festgelegte Prüfungsgegenstand ausgeweitet, wird die BaFin dies gegenüber dem Emittenten regelmäßig begründen müssen. Fraglich ist, ob die BaFin bei konkreten Anhaltspunkten für eine fehlerhafte Rechnungslegung, von denen sie im Laufe einer Stichprobenprüfung Kenntnis erlangt, auf den Jahres- oder Konzernabschluss zusätzlich zur Stichprobenprüfung eine Anlassprüfung einleiten wird oder ob sie diese Aspekte im Rahmen der Stichprobenprüfung untersuchen wird.
Tz. 107b
Stand: EL 53 – ET: 05/2024
Ausführliche Verlautbarungen zur Durchführung der Prüfung durch die BaFin wurden bislang nicht veröffentlicht. Aus Publikationen der BaFin ergibt sich im Wesentlichen die Organisationsstruktur (siehe hierzu zB Hanenberg/Kostjutschenkow, BaFin-Journal Dezember 2021, S. 16). Es ist jedoch davon auszugehen, dass in Anlehnung an die Praxis des bis zum 31.12.2021 geltenden Enforcement-...