Prof. Dr. Peter Wollmert, Prof. Dr. Peter Oser
Tz. 59
Stand: EL 48 – ET: 10/2022
Die Entscheidung über die Gültigkeit, die Auslegung und die Rechtsfortbildung von europäischem Gemeinschaftsrecht obliegt nach Art. 9f Abs. 1 des Vertrags von Lissabon (ABl. EU C 306 vom 17. Dezember 2007, S. 1) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Für das sekundäre Gemeinschaftsrecht ordnet Art. 9f Abs. 3b des Vertrags von Lissabon hierzu das Rechtsinstitut der Vorabentscheidung durch nationale Gerichte an. Danach sind unterinstanzliche Gerichte berechtigt und letztinstanzliche Gerichte (zB das OLG Frankfurt a.M. bei Enforcementverfahren) verpflichtet, Fragen zur Auslegung der endorsten IFRS dem EuGH vorzulegen, sofern sie für die Urteilsfindung erheblich sind und "die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts [nicht] derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt" (vgl. EuGH, Rs. C-283/81, EuGHE 1982, S. 3415).
Tz. 60
Stand: EL 48 – ET: 10/2022
Mitunter kann es auch durch die Mehrsprachigkeit der in das Gemeinschaftsrecht übernommenen IFRS zu Problemen bei der Wortlautauslegung kommen. Zwar ist prinzipiell die amtliche EU-Übersetzung als geltendes Recht anzuerkennen, allerdings gilt für das Europarecht der Grundsatz der Vielsprachigkeit, der die Rechtsanwender dazu verpflichtet, die Vorschrift "nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck, namentlich im Licht ihrer Fassung in [allen Amts-]Sprachen auszulegen" (vgl. EuGH, Rs. 29/69 vom 12. November 1969, Slg 1969, S. 425). Offenkundige Übersetzungsfehler (vgl. hierzu Niehus, DB 2005, S. 2477ff.) sind teleologisch zu korrigieren, um einen möglichst hohen Grad an Vergleichbarkeit der Abschlüsse zu erzielen; sie dürfen indes zu keinen materiellen Änderungen der IASB-Verlautbarungen führen (ausführlich hierzu vgl. IFRS-Komm., Teil B, IAS 8, Tz. 66).
Tz. 61
Stand: EL 48 – ET: 10/2022
Gibt es keinen expliziten Standard oder keine explizite Interpretation, wird der EuGH zunächst auf das in IAS 8.10–12 kodifizierte spezielle Auslegungsinstrumentarium der IFRS rekurrieren (vgl. Schön, BB 2004, S. 766; ausführlich zur Quellenhierarchie vgl. Tz. 25). Ferner wird er auch die in Art. 3 Abs. 2 IAS-VO enthaltenen Endorsement-Kriterien beachten, um die Vereinbarkeit der Rechnungslegung mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Europäischen Union zu gewährleisten (vgl. Wüstemann/Kierzek, BB 2006, S. 17).