Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Prof. Dr. Isabel von Keitz
Tz. 168
Stand: EL 42 – ET: 11/2020
Ein weiteres, fortwährend prominenter werdendes Thema in der Rechnungslegung ist mit dem Aspekt "künstliche Intelligenz" (KI) verbunden, bspw. die Bilanzierung von auf künstlicher Intelligenz basierender Software. Vereinfacht ausgedrückt soll mit künstlicher Intelligenz (intelligentes) Verhalten automatisiert werden, indem (EDV-)Systeme geschaffen werden, "die in der Lage sind, Daten zu sammeln und mithilfe von (lernenden) Algorithmen Entscheidungen zu treffen und (abgegrenzte) Probleme zu lösen" (Ziskovsky, DK 2019, S. 395 mwN). Hiermit verbundene Methoden sind bspw. das machine learning und das deep learning. Die Idee hierbei ist, dass die künstliche Intelligenz – zT durch menschliches Zutun/Kalibrierung – mithilfe von Datensätzen zu einem spezifischen Thema trainiert wird, Muster bzw. Regeln analysiert/erkennt und sich hierdurch fortwährend weiter verbessert. Bspw. könnte eine auf künstliche Intelligenz aufbauende Software darauf trainiert werden, Buchungsbelege eigenständig zu erfassen und zu verarbeiten, wodurch die Effizienz/Effektivität der Buchhaltung insgesamt erhöht wird.
Tz. 169
Stand: EL 42 – ET: 11/2020
Besondere Herausforderungen bei der Bilanzierung von selbst erstellter, auf künstlicher Intelligenz basierender Software bestehen bei der Abgrenzung zwischen der Forschungs- und der Entwicklungsphase, insbesondere mit Blick auf die Frage, ab welchem Zeitpunkt erstmals ein aktivierungspflichtiger immaterieller Vermögenswert vorliegt (zum Erwerb vgl. Ziskovsky, DK 2019, S. 396f.; Hanke, WPg 2020, S. 509f.). Das bereits allgemein auftretende Abgrenzungsproblem zwischen der Forschungs- und der Entwicklungsphase wird bei künstlicher Intelligenz noch dadurch verstärkt, dass diese Phasen sachverhaltsbedingt regelmäßig nicht sequenziell verlaufen (vgl. Hanke, WPg 2020, S. 510). So besteht die Idee von künstlicher Intelligenz ja gerade darin, in Schleifen (bspw. durch Versuch-und-Irrtum-Logiken) neue (potenzielle) Muster/Regeln zu suchen, diese (potenziellen) Muster/Regeln auf neue Sachverhalte anzuwenden und dadurch stetig den Algorithmus zu verbessern. Vor diesem Hintergrund wird die Trennung der Phasen regelmäßig scheitern, sodass die aufgewendeten Kosten dann nicht aktiviert, sondern vielmehr gem. IAS 38.53 direkt als Aufwand in der GuV zu erfassen sind (hierzu vgl. Tz. 55). Die erstmalige Erfüllung der in IAS 38.57 angelegten, konkretisierenden Ansatzkriterien für selbst erstellte immaterielle Vermögenswerte wird angesichts der beschriebenen Umstände insofern bei auf künstlicher Intelligenz basierender Software im Vergleich zu anderen Sachverhalten – wenn überhaupt – erst zu einem relativ späten Zeitpunkt der Selbsterstellung/Herstellung möglich sein. So muss das berichterstattende Unternehmen bspw. zur Erfüllung des Kriteriums der technischen Realisierbarkeit (IAS 38.57 (a); vgl. Tz. 66) nachweisen, dass die Entwicklung und Testung des Algorithmus bereits so weit vorangeschritten ist, dass die weitere Entwicklung zur Marktgängigkeit der softwarebasierten KI wahrscheinlich ist, dh. keine wesentlichen Risiken mehr bestehen (vgl. zu den Kriterien ausführlich Ziskovsky, DK 2019, S. 397f.; Hanke, WPg 2020, S. 510f.). Neben der Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem die anfallenden Aufwendungen aktivierungsfähig sind, ist auch die Bestimmung des Endes der Entwicklung mit Blick auf die bei künstlicher Intelligenz immanente Intention der fortlaufenden Verbesserung des Algorithmus herausfordernd. Ein Indikator für das Erreichen des betriebsbereiten Zustands ist, wenn das avisierte Soll-Objekt erreicht wurde, was nicht zwingend erst der Fall ist, wenn die KI alle Daten richtig verarbeitet (vgl. ähnlich Ziskovsky, DK 2019, S. 398).
Die Ansatzvorschriften des IAS 38 werden im Ergebnis dazu führen, dass ein Großteil der Aufwendungen direkt als Aufwand in der GuV zu erfassen ist. Dies in Verbindung mit den bereits auf allgemeiner Basis bestehenden Ermessensspielräumen bei der Anwendung der Kriterien des IAS 38.57 (vgl. Tz. 57 u. 62) kann dazu führen, dass den primären Adressaten der Berichterstattung das wirtschaftliche Potenzial, das mit einer KI basierten Software verbunden ist, zum Ansatzzeitpunkt nicht ersichtlich wird. Auch im Rahmen der Folgebewertung wird dem wirtschaftlichen Nutzenpotenzial in IAS 38 nicht Rechnung getragen, da eine Folgebewertung anhand des Neubewertungsmodells und mithin eine Fair-Value-Bewertung angesichts des fehlenden aktiven Marktes von KI basierter Software ausscheidet (vgl. zu dieser Einschätzung auch Loitz, DB 7/2017, S. M5; Hanke, WPg 2020, S. 512).