Der Amtsträger hat die Rechtslage unter Zuhilfenahme der ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen und sich danach aufgrund vernünftiger Überlegungen eine Rechtsmeinung zu bilden. Dazu muss er alle üblichen Erkenntnisquellen ausnutzen: ESt- Richtlinien und Hinweise, Veröffentlichung im BStBl. oder in anderen Fachzeitschriften, Verfügungen der zuständigen Oberbehörden, Kommentare und grundlegende Lehrbücher. Dies gilt unabhängig vom Grad der Organisation innerhalb des jeweiligen FA.
Der Amtswalter ist zur eigenen Prüfung der in Frage stehenden Sach- und Rechtsfragen verpflichtet. Er kann sich daher nicht "blind" auf die Stellungnahmen von anderen Fachbehörden verlassen. Er muss überprüfen, ob die Auskunft die von ihm aufgeworfenen Fragen abdeckt.
Die fehlerhafte Rechtsanwendung ist zwar objektiv immer amtspflichtwidrig. Aber nicht jeder objektive Rechtsirrtum begründet einen Schuldvorwurf. Kommt als Amtspflichtverletzung allein die von einem FG als fehlerhaft bewertete Rechtsanwendung in Betracht, steht einer hierauf gestützten Inanspruchnahme ein mangelndes Verschulden entgegen, wenn die vom FA vertretene Rechtsauffassung zumindest vertretbar war. Die fehlerhafte Rechtsanwendung ist nur vorwerfbar, wenn sie gegen die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung oder den klaren und eindeutigen Wortlaut des Gesetzes verstößt. Schon eine einzige Gerichtsentscheidung kann eine Klärung herbeiführen.
Auch die Nichtbeachtung bekannter, aber noch nicht veröffentlichter Rechtsprechung stellt eine Amtspflichtverletzung dar.
Eine schuldhafte Amtspflichtverletzung durch fehlerhafte Rechtsanwendung liegt nicht vor, wenn
- der Amtsträger zwar von einer höchstrichterlichen Entscheidung oder gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung abweicht, zu der abweichenden, aber gut vertretbaren Auffassung jedoch erst nach sorgfältiger Auseinandersetzung mit der Entscheidung bzw. gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung gelangt,
- im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung eine umstrittene oder unklare Rechtslage vorlag und der Sachbearbeiter sorgfältig und unter Zuhilfenahme aller ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel die Rechtslage geprüft hat oder
- ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die entsprechende Amtstätigkeit als pflichtgemäß und objektiv rechtmäßig beurteilt (= Kollegialgerichtsrichtlinie), da von einem einzelnen Amtsträger keine besseren Rechtskenntnisse als von einem mit mehreren Richtern besetzen Gericht erwartet werden können. Hierzu gibt es aber zahlreiche Ausnahmen. Die Kollegialgerichtsrichtlinie greift beispielsweise nicht ein, wenn das Gericht eine gesetzliche Bestimmung handgreiflich falsch ausgelegt hat, wenn das Gericht für die Beurteilung des Falls wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat oder sich bereits in seinem rechtlichen Ausgangspunkt von einer rechtlich verfehlten Betrachtungsweise nicht hat freimachen können.