Dipl.-Finanzwirt Karl-Heinz Günther
Leitsatz
Voraussetzung für den Anspruch auf Kindergeld ist bei einem Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaates unter anderem, dass er nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 FreizügG/EU und § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist. Ein möglicher Verstoß des Arbeitgebers gegen arbeitnehmerschützende Vorschriften kann nicht zur Versagung von Familienleistungen in Deutschland führen.
Sachverhalt
Im Streitfall ging es um den Kindergeldanspruch für ein Kind, das in einem gemeinsamen Haushalt des Anspruchsberechtigten und der Kindesmutter in Südosteuropa lebt. Der anspruchsberechtigte Vater des Kindes ist unbefristet in Deutschland nichtselbstständig tätig. Der Anspruchsberechtigte hält sich alle 3 bis 6 Monate im gemeinsamen Haushalt der Familie auf.
Die Kindergeldkasse lehnte die Gewährung von Kindergeld ab, da ein Kindergeldanspruch nicht durch eine Beschäftigung, eine selbstständige Erwerbstätigkeit oder den Bezug einer Rente ausgelöst werde. Südosteuropa sei daher aufgrund des dortigen Wohnsitzes des Kindes vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig. Dort würden auch vergleichbare Leistungen gewährt. Ein Anspruch auf (Differenz-)Kindergeld bestehe in Deutschland in diesem Fall nicht.
Die vom Anspruchsberechtigten ausgeübte Tätigkeit als Arbeitnehmer stelle keine Beschäftigung im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004 dar, da es sich um ein illegales Beschäftigungsverhältnis handele, mit dessen Durchführung Straf- und Ordnungswidrigkeiten begangen würden. Die Tätigkeit unterfalle dem Begriff der "Schwarzarbeit".
Entscheidung
Das FG gab der gegen die Einspruchsentscheidung erhobenen Klage statt. Der Anspruchsberechtigte ist freizügigkeitsberechtigt, da er sich als Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaates nach Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland als Arbeitnehmer aufhält (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Er ist auch Arbeitnehmer im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und geht einer nichtselbstständigen Arbeit im Sinne von § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nach.
Der Umstand, dass in diesem Arbeitsverhältnis möglicherweise gegen das Mindestlohngesetz (MiLoG) verstoßen wird bzw. wurde und sich die Arbeitgeberin nach § 266a StGB strafbar gemacht haben könnte, ändert daran nichts. Das FG stellte heraus, dass es schon vom Schutzzweck der genannten Vorschriften (Wahrung der Interessen des Arbeitnehmers) nicht zulässig wäre, den Steuerpflichtigen bei (möglichen) Rechtsverstößen seiner Arbeitgeberin durch die Aberkennung der Kindergeldberechtigung zu sanktionieren. Ist die Familienkasse daher davon überzeugt, dass der Arbeitgeberin entsprechende Rechtsverstöße anzulasten sind, hat sie den Sachverhalt näher aufzuklären und/oder durch Mitteilung an die zuständigen Behörden im Rahmen von § 30 AO und § 31a AO für eine Verfolgung der Arbeitgeberin zu sorgen (§ 14 MiLoG).
In den Streitzeiträumen bestand eine Konkurrenzsituation mit südosteuropäischen Familienleistungen. Die sich daraus ergebene Anspruchskumulierung ist nach Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 (sog. Grundverordnung) dahingehend aufzulösen, dass Deutschland die Familienleistungen als vorrangig zuständiger EU-Mitgliedsstaat nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004 zu erbringen hat.
Hinweis
Das FG hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage zugelassen, ob ein Arbeitsverhältnis, welches gegen gesetzliche Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer verstößt, eine ausreichende Beschäftigung darstellt.
Link zur Entscheidung
FG Baden-Württemberg, Gerichtsbescheid v. 30.03.2023, 1 K 2050/22