OFD Karlsruhe, Verfügung vom 18.3.2022, S 0466 (§ 239 Karte 1)
1 Allgemein
Die Zinsfestsetzungsfrist beginnt in den Fällen des § 235 AO gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (Alt. 1) mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Festsetzung der hinterzogenen Steuern unanfechtbar geworden ist, jedoch nicht (Alt. 2) vor Ablauf des Kalenderjahrs, in dem ein eingeleitetes Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden ist.
Ein Strafverfahren ist dann eingeleitet, sobald die Finanzbehörde, die Polizei, die Staatsanwaltschaft, eine ihrer Ermittlungspersonen oder der Strafrichter eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen (§ 397 Abs. 1 AO).
Die förmliche Einleitung des Strafverfahrens ist der Regelfall einer einleitenden Maßnahme. Aber auch Ermittlungen zur Prüfung der Frage, ob der Verdächtige durch eine Selbstanzeige Straffreiheit erlangen kann oder nicht, sind erkennbar strafrechtliche Maßnahmen, denn Ziel ist, den Sachverhalt umfassend zugunsten wie zuungunsten des Beschuldigten zu erforschen, um den Strafverfolgungsorganen die Entschließung darüber zu ermöglichen, ob die Erhebung der öffentlichen Klage geboten erscheint oder das Verfahren einzustellen ist (BFH-Urteil vom 29.4.2008, VIII R 5/06, BStBl 2008 II S. 844).
Die Verfahrenseinleitung erstreckt sich grundsätzlich auf den Vorgang in seiner Gesamtheit einschließlich aller damit zusammenhängender und darauf bezüglicher Vorkommnisse und tatsächlicher Umstände, die nach der Auffassung des Lebens eine natürliche Einheit bilden (Tat im prozessualen Sinn gem. § 264 StPO). Sie umfasst alle sich daraus ergebenden Rechtsverletzungen, unabhängig davon, ob diese in einem Einleitungsvermerk vollständig, rechtlich zutreffend oder überhaupt benannt sind. So umfasst die Einleitung eines Strafverfahrens „wegen Abgabe einer falschen Einkommensteuererklärung 01” die Verkürzung der Einkommensteuer 01, des Solidaritätszuschlages 01 und bei Vorliegen der Voraussetzungen der Vorauszahlungen für Folgejahre.
Die Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist gem. Alt. 2 greift nur für Steuerfestsetzungen, für die das Strafverfahren eingeleitet wurde, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Strafverfahren bis zum Ablauf des Jahres eingeleitet wurde, in dem die Festsetzung der hinterzogenen Steuern unanfechtbar geworden ist (vgl. BFH-Urteile vom 24.8.2001, VI R 42/94, BStBl 2001 II S. 782; vom 29.4.2008, VIII R 5/06, a.a.O.). Eine Einleitung wirkt allerdings dann nicht anlaufhemmend, wenn sie sich nach den für die Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Einleitung bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen (ex ante Betrachtung) als greifbar rechtswidrig darstellt (vgl. BFH, VIII R 5/06, a.a.O.) (z.B. Einleitung trotz offensichtlicher Verjährung der Tat).
Soweit Taten nicht strafrechtlich verfolgt werden (z. B. wegen strafrechtlicher Verjährung) oder greifbar rechtswidrig eingeleitete Steuerstrafverfahren vorliegen, beginnt der Lauf der Festsetzungsfrist für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen stets mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Festsetzung der hinterzogenen Steuern unanfechtbar geworden ist (Alt. 1).
2 Hemmung des Anlaufs der Festsetzungsfrist bzgl. der Festsetzung von Hinterziehungszinsen auf verkürzte Vorauszahlungsbeträge
Fußt die Hinterziehung von Vorauszahlungen auf unvollständigen bzw. unrichtigen Angaben in einer Jahressteuererklärung eines vorangegangenen Veranlagungszeitraums, reicht es für die Hemmung des Anlaufs der Festsetzungsfrist (Alt. 2) bezüglich der Hinterziehungszinsen auf Vorauszahlungsbeträge eines der Jahressteuererklärung nachfolgenden Veranlagungszeitraums aus, wenn das Strafverfahren hinsichtlich der ausgeführten Tathandlung eingeleitet wurde. Es ist nicht erforderlich, dass der Taterfolg „Verkürzung von Vorauszahlungssteuerbeträgen” bei Einleitung des Strafverfahrens explizit genannt wurde.
Beispiel
Ein Steuerbürger hat in seiner Einkommensteuererklärung des Jahres 01 seine Einnahmen aus Gewerbebetrieb in zu geringer Höhe erklärt. Hierdurch wurden neben den Jahressteuerbeträgen (ESt, Solz) 01 auch die Vorauszahlungssteuerbeträge (ESt, Solz) des 3. und 4 Quartals 02 und des 1. bis 4. Quartals 03 in zu geringer Höhe festgesetzt. Die zuständige Straf- und Bußgeldsachenstelle leitete mit folgendem Vermerk das Strafverfahren ein: „Einleitung eines Strafverfahrens wegen Nichterklärung bzw. unzutreffender Erklärung von Einnahmen aus ... in der Einkommensteuererklärung 01, hierdurch wurde die Einkommensteuer des Jahres 01 verkürzt”.
Rechtliche Würdigung
Die Einleitung des Strafverfahrens mit oben genanntem Einleitungsvermerk bewirkt, dass der Anlauf der Zinsfestsetzungsfrist bezüglich der Festsetzung von Hinterziehungszinsen auf die verkürzten Steuerbeträge Jahreseinkommensteuer 01, Vorauszahlungseinkommensteuer 3. und 4. Quartal 02, 1. bis 4. Quartal 03 hinausgeschoben wurde.
Normenkette
AO 1977 § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3