Entscheidungsstichwort (Thema)
Nicht mit Gründen versehene Entscheidung; unterschiedliche Rechtsauffassung von Kläger und Prozessvertreter
Leitsatz (NV)
- Eine Entscheidung ist i.S. des § 119 Nr. 6 FGO (teilweise) nicht mit Gründen versehen, wenn mit der Klage geltend gemacht wird, bestimmte Aufwendungen seien entweder als Anschaffungskosten oder als Werbungskosten steuerlich zu berücksichtigen, das FG den Sachverhalt in einer klageabweisenden Entscheidung aber ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Anschaffungskosten würdigt.
- Vertreten der Kläger persönlich und sein Prozessvertreter in der mündlichen Verhandlung unterschiedliche Rechtsauffassungen zur steuerrechtlichen Behandlung bestimmter Aufwendungen, darf sich das FG nicht darauf beschränken, den Sachverhalt allein unter Auseinandersetzung mit der Rechtsauffassung des Prozessvertreters zu würdigen.
Normenkette
FGO § 119 Nr. 6; ZPO § 137 Abs. 2, 4
Tatbestand
I. Im Klageverfahren war zwischen den Beteiligten u.a. streitig, ob Zinszahlungen steuermindernd zu berücksichtigen sind, die der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) im Streitjahr auf eine Darlehensverbindlichkeit einer GmbH, bei der er Geschäftsführer gewesen war, geleistet hatte. Die Kläger, Eheleute, wurden im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Der Kläger war alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der A-GmbH; Gesellschafter waren seine Eltern. Die A-GmbH erwarb bebaute Grundstücke, wandelte sie in Wohnungseigentum um und veräußerte die einzelnen Einheiten.
Im Jahr 1983 erwarb die A-GmbH in GbR mit der E-GmbH das Grundstück X. Veräußerin war u.a. Frau S. S stellte der GbR in Höhe von 280 000 DM einen Teilbetrag des Kaufpreises als Darlehen zur Verfügung. Tilgungen wurden nicht vorgenommen.
Im Jahr 1986 fiel die E-GmbH in Konkurs. Am 14. August 1986 wurde auch die Auflösung der A-GmbH beschlossen und der Kläger zu deren Liquidator bestellt. Die A-GmbH wurde am 28. August 1989 wegen Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöscht.
Während der Liquidation erwarb der Kläger im Wege der Zwangsversteigerung insgesamt neun Eigentumswohnungen, die zuvor im Eigentum der A-GmbH gestanden hatten, darunter auch zwei Wohnungen im Grundstück X. Der Kläger veräußerte alle erworbenen Wohnungen innerhalb von bis zu fünfeinhalb Jahren weiter; die beiden Wohnungen im Grundstück X wurden in den Jahren 1987 bzw. 1992 veräußert. Zwischen den Beteiligten ist in der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) unstreitig geworden, dass der Kläger damit einen gewerblichen Grundstückshandel betrieben hat.
Im Streitjahr 1990 zahlte der Kläger an S auf das von dieser an die GbR gewährte Darlehen Zinsen in Höhe von 8 517,50 DM. Am 31. Juli 1991 schlossen S, der Kläger und der frühere Geschäftsführer der E-GmbH ―die beiden Letztgenannten sowohl für sich persönlich als auch für die früher von ihnen vertretenen Gesellschaften handelnd― einen Abfindungsvertrag. Danach sollten mit einer weiteren Zahlung von 217 000 DM sämtliche Ansprüche ―auch gegen die Geschäftsführer persönlich― erledigt sein.
Im Klageverfahren begehrten die Kläger u.a. die Berücksichtigung der im Streitjahr gezahlten Zinsen entweder als nachträgliche Anschaffungskosten für die Objekte X oder als Werbungskosten zu den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit. Dazu behaupteten sie, der Kläger und der Geschäftsführer der E-GmbH hätten gegenüber S Garantieerklärungen des Inhalts abgeben, wonach sie persönlich dafür einstehen würden, dass die beiden GmbH's das von S gewährte Darlehen aus den Erlösen aus der Veräußerung der einzelnen Wohnungen zurückführen würden. Nachdem Tilgungen aber trotz entsprechender Veräußerungen unterblieben und die beiden GmbH's vermögenslos geworden seien, habe S dem Kläger die Inanspruchnahme aus einer Schadensersatzverpflichtung angedroht.
Nach dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem FG am 25. Juni 2002 erklärte der Kläger darin persönlich, er habe als Geschäftsführer gegenüber S eine persönliche Einstandspflicht übernommen. Daraufhin äußerte sein damaliger Prozessvertreter, dieser Komplex solle im Rahmen des gewerblichen Grundstückshandels als Erhöhung der Anschaffungskosten behandelt werden. Nach einer Unterbrechung der mündlichen Verhandlung zum Zwecke der Zwischenberatung wies der Kläger selbst erneut auf eine seiner Meinung nach bestehende persönliche Schadensersatzverpflichtung gegenüber S hin. Zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung wurden danach drei Schreiben des damals beurkundenden Notars, Rechtsanwalt F, gemacht. Darin erklärte dieser, der Kläger habe als Geschäftsführer "praktisch eine Garantieerklärung gegenüber S übernommen". Auch gegen ihn selbst habe ein Amtshaftungsanspruch bestanden, weil er die Auszahlungsvoraussetzungen aus den einzelnen Verträgen nicht ausreichend geprüft habe. Deshalb habe er den Kläger im Innenverhältnis teilweise von Ansprüchen der S freigestellt.
Das FG wies die Klage ab. Als Anschaffungskosten könne sich die Zinszahlung jedenfalls im Streitjahr 1990 nicht auswirken, da in diesem Jahr keines der Objekte X veräußert worden sei. Darüber hinaus brauche das FG nicht zu entscheiden, ob die Zinszahlung als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt werden könne, da sich die Kläger darauf festgelegt hätten, diese als Erhöhung der Anschaffungskosten zu behandeln. Eine dem Willen der Kläger entgegenstehende Zuordnung der Aufwendungen zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit sei dem Gericht verwehrt.
Mit der dagegen erhobenen Beschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels. Das FG hätte die einerseits vom Kläger persönlich und andererseits vom damaligen Prozessvertreter abgegebenen widersprüchlichen Aussagen und Anträge hinterfragen und die rechtliche Zuordnung klären müssen. Die Kläger sehen darin einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht. Das FG hätte auch unter dem Gesichtspunkt der Auffassung des Klägers eine Entscheidung zu den in Rede stehenden Zinsaufwendungen treffen müssen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) tritt der Beschwerde entgegen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG.
Es liegt ein Verfahrensmangel vor. Denn das angefochtene Urteil ist teilweise nicht mit Gründen versehen i.S. des § 119 Nr. 6 FGO.
1. Die Kläger haben diesen Verfahrensmangel in zulässiger ―den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügender― Weise gerügt.
Zwar geben sie in ihrer Beschwerdebegründung vor allem ihrer Auffassung Ausdruck, das FG habe gegen seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO) verstoßen, ohne dabei indes anzugeben, welche Beweise das FG auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen hätte erheben müssen (vgl. zu diesem Begründungserfordernis Senatsbeschluss vom 25. Juni 2002 X B 199/01, BFH/NV 2002, 1332).
Darüber hinaus rügen die Kläger aber ―wenn auch sehr knapp―, dass das FG eine Entscheidung zu den Zinsaufwendungen auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Werbungskostenabzugs hätte treffen müssen. Die ―hier fehlende― ausdrückliche Angabe der von den Klägern für verletzt gehaltenen Verfahrensnorm ist nicht erforderlich (Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 22. März 1993 XI R 23, 24/92, BFHE 170, 308, BStBl II 1993, 514).
2. Die Beschwerde ist auch begründet, da die Vorschrift des § 119 Nr. 6 FGO verletzt ist.
a) Danach ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.
Dabei genügt es, wenn die Gründe nur zum Teil fehlen, vor allem, wenn das Gericht einen selbstständigen Anspruch oder ein selbstständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen hat. Unter selbstständigen Ansprüchen und selbstständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbstständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (Entscheidungen des BFH vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492; vom 17. Juli 2000 IX R 66/99, BFH/NV 2001, 51).
Solche selbstständigen Ansprüche bzw. Angriffs- und Verteidigungsmittel sind abzugrenzen zu lediglich lückenhaften Begründungen. Darunter sind fehlende Begründungserwägungen zu einzelnen Tatbestandsmerkmalen einer Rechtsnorm (vgl. BFH-Beschluss vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351) oder zu knapp ausgefallene Begründungen (BFH-Beschluss vom 14. Dezember 1989 III R 49/89, BFH/NV 1991, 288) zu verstehen.
b) Im Streitfall hat das FG das Vorbringen des Klägers, die Schuldzinsen seien wegen einer bestehenden Schadensersatzpflicht als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit abzuziehen, in keiner Weise in seine Entscheidung einbezogen. Bei dem Werbungskostentatbestand des § 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) handelt es sich um eine mit selbstständiger Wirkung ausgestattete Rechtsnorm, die sich von den für die Ermittlung von Veräußerungsgewinnen geltenden Rechtsnormen hinreichend unterscheidet.
Das Begehren des Klägers, die Schuldzinsen unter dem Gesichtspunkt der Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit zu würdigen, ergibt sich ―entgegen der Auffassung des FA― mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem FG: Der Kläger hat mehrfach darauf hingewiesen, die Einstandspflicht "als Geschäftsführer" übernommen zu haben. Jedenfalls in Verbindung mit den vorbereitenden Schriftsätzen kann dieses Vorbringen nur dahin gehend verstanden werden, die entstandenen Aufwendungen steuerrechtlich der Geschäftsführertätigkeit zuzuordnen.
c) Das FG war einer Prüfung des Werbungskostentatbestands auch nicht deshalb enthoben, weil der Prozessvertreter der Kläger in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten hatte, die Schuldzinsen seien als Anschaffungskosten zu berücksichtigen.
Zum einen ist das Gericht hinsichtlich der rechtlichen Würdigung nicht an die von einzelnen Beteiligten oder ihren Vertretern vorgebrachten Rechtsauffassungen gebunden. Die FGO sieht eine Bindung des Gerichts nur insoweit vor, als dieses über das Klagebegehren nicht hinausgehen darf (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO). Die rechtliche Würdigung ist hingegen allein Sache des Gerichts und kann durch die Beteiligten nicht beschränkt werden (vgl. zur sog. "tatsächlichen Verständigung" BFH-Urteil vom 31. Juli 1996 XI R 78/95, BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625).
Zum anderen hätte sich das FG ―selbst wenn es irrig davon ausging, durch Erklärungen der Beteiligten gebunden zu werden― nicht allein an die Erklärung des Prozessvertreters halten dürfen. So ordnet § 137 Abs. 4 der Zivilprozessordnung (ZPO), der über § 155 FGO auch im finanzgerichtlichen Verfahren gilt (BFH-Beschluss vom 31. März 1982 I B 13/81, juris Nr. STRE825033860), an, dass selbst in Anwaltsprozessen neben dem Anwalt auch der Partei selbst auf Antrag das Wort zu gestatten ist. Diese Norm ermöglicht der Partei ―wie sich aus § 137 Abs. 2 ZPO ergibt― über § 85 Abs. 2 ZPO hinaus nicht allein Äußerungen zu tatsächlichen Fragen, sondern auch zu Rechtsfragen. Aufgrund der Regelung des § 137 Abs. 4 ZPO bleibt die Partei auch im Anwaltsprozess ―um einen solchen handelt es sich im Verfahren vor dem FG noch nicht einmal― Herr des Verfahrens (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. März 1995 VI ZR 122/94, BGHZ 129, 108). Gleiches ergibt sich aus § 278 Abs. 2 Satz 2, 3 ZPO in der Fassung des ZPO-Reformgesetzes vom 27. Juli 2001 (BGBl I 2001, 1887). Wenn aber die Partei (hier: der Beteiligte) das Recht zu solchen Äußerungen hat, folgt daraus gleichzeitig, dass das Gericht nicht befugt ist, unter Hinweis auf abweichende Rechtsausführungen des Anwalts von einer inhaltlichen Befassung mit diesen Äußerungen abzusehen.
3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 954356 |
BFH/NV 2003, 1193 |