Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs; kumulative Begründung
Leitsatz (NV)
1. Will ein Verfahrensbeteiligter eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügen, muß er schlüssig dartun, das FG habe ein Vorbringen in unzutreffender Auslegung und Anwendung des § 79 b FGO zu Unrecht wegen Verspätung unberücksichtigt gelassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt keinen Schutz gegen gerichtliche Entscheidungen, die den Vortrag eines Beteiligten aus materiell-rechtlichen oder formellen Gründen ganz oder teilweise außer Betracht lassen.
2. Eine nur mit geringem Aufwand auch ohne Mitwirkung des Beteiligten durchzuführende Ermittlung des Sachverhalts durch das FG scheidet generell für Umstände im Wissensbereich des säumigen Prozeßbeteiligten aus.
3. Das FG braucht eine Glaubhaftmachung von Entschuldigungsgründen für eine Verzögerung nur dann zu verlangen, wenn solche Gründe überhaupt schlüssig vorgetragen worden sind.
Normenkette
FGO § 79b Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 3 S. 1 Nrn. 1-2, § 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer) hat den Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --, § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen bezeichnet (vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Satz 3 FGO).
Dazu muß der Beschwerdeführer schlüssig Tatsachen vortragen, aus denen sich -- ihre Richtigkeit unterstellt -- ein Verfahrensmangel ergibt und ferner dartun, daß das angefochtene Urteil unter Zugrundelegung der insoweit maßgebenden materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Finanzgerichts (FG) auf ihm beruhen kann (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 12. April 1994 VII S 31/93, BFH/NV 1995, 57, m. w. N.; vom 10. August 1994 IX B 148/93, BFH/NV 1995, 218).
Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten grundsätzlich ein Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Diesem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern bei seiner Entscheidung auch in Erwägung zu ziehen. Das Recht auf rechtliches Gehör gewährt indessen keinen Schutz gegen gerichtliche Entscheidungen, die den Vortrag eines Beteiligten aus materiell-rechtlichen oder formellen Gründen ganz oder teilweise außer Betracht lassen. Dementsprechend muß die Beschwerde schlüssig rügen, das FG habe das Vorbringen des Klägers in unzutreffender Auslegung und Anwendung des § 79 b FGO zu Unrecht als verspätet unberücksichtigt gelassen (vgl. BFH-Urteile vom 9. April 1991 IX R 57/90, BFH/NV 1992, 51, m. u. w. N.; vom 6. Februar 1987 VI R 235/83, BFH/NV 1987, 455, m. w. N.; vom 28. Mai 1986 I R 75/83, BFHE 146, 573, BStBl II 1986, 753, 754).
a) Solche Tatsachen hat der Beschwerdeführer indessen hier nicht hinreichend bezeichnet. Der Beschwerdeführer meint, eine Verzögerung des Rechtsstreits wäre nicht durch die Prüfung der erst in der mündlichen Verhandlung übergebenen gemeinsamen Einkommensteuererklärung für 1992 eingetreten. Mit geringem Aufwand hätten die Angaben mit den beigefügten Unterlagen und Belegen innerhalb von vielleicht 30 Minuten überprüft und die sich ergebende Einkommensteuer ermittelt werden können. Es wäre auch nicht erforderlich gewesen, die Entfernungen anhand einer Straßenkarte zu überprüfen. Zumindest hätte es ausgereicht, einen nahen Verkündungstermin anzuberaumen.
Nach § 79 b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO kann das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die -- wie im Streitfall -- erst nach Ablauf einer vom Berichterstatter gesetzten Ausschlußfrist (vgl. zur Ausschlußfrist nach § 79 b Abs. 1 Satz 1 FGO in Schätzungsfällen BFH-Urteil vom 12. September 1995 IX R 78/94, BFHE 178, 549, BStBl II 1996, 16, 17, m. w. N.) vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn u. a. ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Eine Verzögerung wird regelmäßig angenommen, wenn der Prozeß bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger als ohne dessen Zulassung dauern würde (vgl. Urteile des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 10. März 1986 II ZR 107/85 (KG), Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1986, 3193, 3194; vom 12. Juli 1979 VII ZR 284/78, BGHZ 75, 138, 141, m. umf. N.; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 5. Mai 1987 1 BvR 903/85, BVerfGE 75, 302, 315, das die Anwendung des absoluten Verzögerungsbegriffs grundsätzlich billigt; zustimmend ferner Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 79 b FGO Rz. 7; Stöker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 79 b FGO Rz. 63 und 84).
Die Feststellung der Verzögerung ist der Beweiserhebung entzogen. Sie leitet sich vielmehr aus der freien Überzeugung des Gerichts ab (vgl. List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 79 b FGO Rz. 11).
Die Beschwerde behauptet selbst nicht, daß die vom FG gegebene Begründung für die Annahme einer Verzögerung unvertretbar und etwa durch sachfremde Erwägungen bestimmt sei (vgl. zu den Grenzen der Nachprüfbarkeit Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl., § 87 b Rz. 14). Bereits die von der Ehefrau des Beschwerdeführers geltend gemachten und mit der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführten umfangreichen Werbungskosten -- Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte an 214 Tagen mit 70 Entfernungskilometern, Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer in Höhe von 2 520 DM sowie umfangreiche Kosten der als Diplom-Psychologin tätigen Ehefrau für eine Fortbildung zur Psychoanalytikerin in Höhe von insgesamt 15 984,60 DM -- erhellen, daß das FG und der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) zu Recht eine kurzfristige Überprüfung vor Ort als ausgeschlossen angesehen und die Behauptung des Beschwerdeführers, es wäre eine abschließende Prüfung nebst Berechnung der Ein kommensteuer innerhalb von "vielleicht 30 Minuten" möglich gewesen, in offensichtlichem Widerspruch zur eigenen Darstellung des streitigen Sachverhalts steht.
b) Ein schlüssiger Vortrag fehlt auch für die weitere Behauptung, eine Überprüfung sei i. S. des § 79 b Abs. 3 Satz 3 FGO insbesondere "mit geringem Aufwand" möglich gewesen.
Nach § 79 b Abs. 3 Satz 3 FGO kann das Gericht das verspätete Vorbringen nicht zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln. Diese Voraussetzung lag offensichtlich nicht vor; denn das FG hätte die vorgenannten -- verspätet -- geltend gemachten Aufwendungen ebensowenig wie zuvor das FA im Rahmen der von ihm vorgenommenen Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ohne große Ermittlungen und ohne Mitwirkung des säumigen Beschwerdeführers feststellen können. Dementsprechend wird dieser Ausnahmetatbestand generell für Umstände im Wissensbereich des säumigen Prozeßbeteiligten für nicht anwendbar angesehen (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 79 b Rz. 20; ebenfalls Stöcker/Beermann, a.a.O., § 79 b FGO Rz. 129 und 136).
c) Ein Verfahrensmangel wird schließlich auch nicht damit substantiiert gerügt, das FG habe ohne ein entsprechendes Verlangen die Entschuldigungsgründe nicht als nicht glaubhaft gemacht beanstanden dürfen (vgl. § 79 b Abs. 3 Satz 2 FGO).
Vor einer entsprechenden Aufforderung muß der säumige Kläger indessen die Entschuldigungsgründe (§ 79 b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO) zunächst schlüssig vorgetragen haben. Nur solche Gründe sind überhaupt der Glaubhaftmachung zugänglich (BGH in NJW 1986, 3193, 3194; Stöcker/Beermann, a.a.O., § 79 b FGO Rz. 110). Einen derartigen schlüssigen Vortrag von Entschuldigungsgründen -- Arbeitsüberlastung des Beschwerdeführers und zeitlich nicht näher spezifizierte Erkrankungen der Ehefrau bzw. "in der Familie des Beschwerdeführers" -- hat das FG indessen nicht zuletzt im Hinblick auf die dem Beschwerdeführer für die Abgabe der gemeinsamen Einkommensteuererklärung für 1992 bis zum Jahre 1996 insgesamt und zudem auch noch ab der Verfügung des Berichterstatters nach § 79 b FGO vom 30. Januar 1996 bis zur mündlichen Verhandlung am 9. Mai 1996 zur Verfügung stehenden hinreichenden Zeit zur Bearbeitung verneint, ohne daß der Beschwerdeführer auch insoweit Zulassungsgründe i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FGO geltend gemacht hätte. Der Hinweis des FG auf die fehlende Glaubhaftmachung stellt erkennbar eine kumulative Begründung dar. Dies erfordert, daß hinsichtlich jeder Begründung ein Zulassungsgrund geltend gemacht werden muß (vgl. BFH-Beschlüsse vom 18. April 1991 V B 94/90, BFH/NV 1992, 156, m. w. N.; vom 2. Mai 1974 IV B 3/74, BFHE 112, 337, BStBl II 1974, 524, 525).
Einer weiteren Begründung der Entscheidung bedarf es nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 422337 |
BFH/NV 1997, 875 |