Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung, Revisionsbegründungsfrist, angestellter Steuerberater
Leitsatz (NV)
- Der Kläger muss sich das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 85 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO). Dabei ist der angestellte, verantwortlich tätige Berufsträger (hier: Steuerberater), der nicht nur unselbständige Hilfs- oder Bürotätigkeiten ausübt, einem Bevollmächtigten des Klägers i.S. des § 85 Abs. 2 ZPO gleichgestellt.
- Verfügt ein angestellter Steuerberater die Löschung einer Revisionsfrist auf dem mit dem Stempelaufdruck der Kanzlei versehenen FG-Begleitschreiben, ohne sich über die für ihn nicht ersichtliche Notierung der Revisionsbegründungsfrist zu vergewissern, so ist die auf der nicht notierten Frist beruhende Versäumung der Revisionsbegründungsfrist nicht unverschuldet.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1, § 120 Abs. 2 S. 1; ZPO § 85 Abs. 2
Tatbestand
I. Im vorliegenden Rechtsstreit wurde das Urteil des Finanzgerichts (FG) vom 19. Februar 2001 der Prozessbevollmächtigten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) ―einer Steuerberatungsgesellschaft― gegen Empfangsbekenntnis am 26. März 2001 zugestellt. Die Prozessbevollmächtigte legte mit Schriftsatz vom 20. April 2001, Eingang beim Bundesfinanzhof (BFH) am 23. April 2001, Revision ein.
Mit Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten vom 5. Juni 2001 wurde die Revision begründet und auf die Verletzung der § 9 Abs. 1, § 22 Nr. 3, § 20 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gestützt; die der Höhe nach unstreitigen Aufwendungen seien als einkünfterelevante Werbungskosten abzuziehen. Unter dem 6. Juni 2001, zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 11. Juni 2001, wies der Vorsitzende des IX. Senats die Prozessbevollmächtigte auf den verspäteten Eingang der Revisionsbegründung hin.
Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2001, Eingang beim BFH am 18. Juni 2001, beantragte und begründete die Prozessbevollmächtigte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. Dazu trägt sie vor:
Frau CB sei seit dem 1. Juni 1997 als Sekretärin beschäftigt und seitdem ständig mit der Fristenkontrolle betraut, so auch am 26. März 2001, dem Tag des Eingangs des FG-Urteils. Anlass
zu Beanstandungen habe es diesbezüglich nie gegeben. Die Fristenkontrolle sei stets einwandfrei und die Mitarbeiterin immer zuverlässig gewesen. Dies hätten auch ständige, mindestens alle zwei Monate bei allen mit Fristennotierung und Fristenkontrolle befassten Mitarbeitern durchgeführte Kontrollen bestätigt.
Am 26. März 2001 habe CB in dem auf dem Begleitschreiben des FG (vom 23. März 2001) angebrachten Fristenstempel die notwendigen Inhalte, nämlich den "26.04.2001" als Fristablauf und den "23.04.2001" als Rotfrist (auch Promptfrist), eingetragen. In den Fristenstempel seien auch eingetragen worden die laufende Nummer des Vorganges (1392) und das Handzeichen der CB. Bei der Fristnotierung habe CB zwar auch die Rechtsmittelbelehrung beachtet, sie habe jedoch bei der Eintragung die zweite in der Rechtsmittelbelehrung enthaltene Frist übersehen, nämlich die Frist für die Revisionsbegründung, die mit der Zustellung am 26. März 2001 angelaufen und am 28. Mai 2001, einem Montag, abgelaufen wäre.
Die Revision sei ohne Begründung unter dem 20. April 2001 von Steuerberater JB diktiert worden; die Revisionsschrift habe am selben Tag die Kanzlei verlassen. Steuerberater JB und Steuerberater MD hätten an dem vorhergehenden FG-Verfahren gearbeitet. Am 23. April 2001 sei die Akte aufgrund der eingetragenen Rotfrist für die Revisionseinlegung gezogen und dem Steuerberater MD vorgelegt worden. Dieser habe nach Überprüfung, dass die Revision eingelegt war, auf dem Begleitschreiben des FG verfügt, dass die Frist gelöscht würde und sein Handzeichen hinzugesetzt.
Da die Revisionsbegründungsfrist, wie vorstehend ausgeführt, bedauerlicherweise nicht notiert gewesen sei, sei die Akte auch nicht rechtzeitig gezogen worden. Bei der nächsten Wiedervorlage sei festgestellt worden, dass die Revisionsbegründung nicht erfolgt sei und diese versäumte Handlung sei unter dem 5. Juni 2001 nachgeholt worden.
Im Rahmen der Kanzleiorganisation seien alle Vorkehrungen getroffen worden, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen ausschlössen. Es existiere eine Anweisung zur Fristenkontrolle versehen mit Beispielen, die sich über vier Blatt erstrecke. Die mit der Fristenkontrolle betrauten Bürokräfte (ausschließlich Sekretariatskräfte) würden regelmäßig überwacht und belehrt. Durch geeignete Stichproben werde festgestellt, dass die Anordnungen auch befolgt würden. Die ausgebildete und sonst stets zuverlässige Mitarbeiterin CB habe bei der Notierung der Revisionsfrist am 26. März 2001 ausnahmsweise übersehen, dass eine zweite Frist für die Revisionsbegründung zu notieren war. Dies sei ursächlich für das Fristversäumnis, das nicht auf einen Organisationsfehler zurückzuführen sei.
In der Kanzlei werde ein elektronisches Fristenkontrollbuch mit der Programmbezeichnung "Der Fristenwächter" geführt. Exemplarisch werde auch die Fristenkontrollbuchseite dieses elektronischen Fristenwächters für die Eingänge vom 26. März 2001 beigefügt. Darin sei unter dem Vorgang mit der laufenden Nummer 1392 die hier in Rede stehende Sache eingetragen worden. Es sei in zutreffender Weise der Fristablauf mit 26.04.2001 für die Revisionsfrist angegeben und der Tag, an dem die Frist gelöscht wurde, der 23.04.2001. Diese Anwendung sei danach einwandfrei. Die Anweisung zur Fristenkontrolle stelle sicher, dass die zutreffend eingetragenen Fristen jedenfalls bearbeitet würden. Die Fristensachen seien, wie in der Anweisung ausgeführt, vorzulegen und würden, wenn die Vorgänge erledigt seien, zum Löschen verfügt. Dazu schreibe der Bearbeiter auf den Vorgang den Vermerk "löschen". Die zuständige Sekretärin dürfe das Haus nicht verlassen, bevor die an dem jeweiligen Tag zur Rotfrist vorgelegten Fristen zum Löschen verfügt worden seien. Damit sei sichergestellt, dass kein Vorgang unbearbeitet bleibe. Auf den abgesandten Schriftstücken sei ein "Ab-Vermerk" anzubringen. Dieser Ab-Vermerk dürfe erst angebracht werden, wenn die Schriftstücke postfertig gemacht worden seien. Erst dann dürfe auch der Vorgang als erledigt in das Fristenkontrollbuch eingetragen werden. Die Fristberechnung im vorliegenden Sachverhalt weise keinerlei besondere Schwierigkeiten auf. Die Revisionsfristen seien in der Kanzlei weder ungewöhnlich noch in irgendeiner Weise zweifelhaft, auch seien die Angestellten über die entsprechenden Änderungen nach dem 2.FGOÄndG informiert worden.
Nach dem geschilderten Sachverhalt und unter Berücksichtigung der Organisationsvorkehrungen sei das Fristversäumnis unverschuldet und daher Wiedereinsetzung zu gewähren.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und unter Aufhebung des FG-Urteils und Änderung des Einkommensteuerbescheids 1996 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. September 1999 die Einkommensteuer 1996 unter Berücksichtigung von sonstigen negativen Einkünften in Höhe von … DM auf 0 DM festzusetzen, hilfsweise, die Einkommensteuer 1996 unter Berücksichtigung weiterer Werbungskosten aus Kapitalvermögen in Höhe von … DM anderweitig festzusetzen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Das FA trägt dazu vor: Eine Wiedereinsetzung wegen Versäumnis der Revisionsbegründungsfrist komme nicht in Betracht, denn vorliegend sei ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten zu bejahen. Das Vorbringen der Prozessbevollmächtigten im Wiedereinsetzungsantrag sei darauf gerichtet, die Fristversäumung mit einem Fehlverhalten der Mitarbeiterin CB zu erklären; dieser Vortrag reiche jedoch nicht aus, da auch das eigene Verhalten der Prozessbevollmächtigten als Fehlerursache in Betracht komme. Das eigene Verschulden liege darin, dass die Prozessbevollmächtigte ihr Personal nicht auf das im Fristenkontrollbuch einzutragende Ende der Revisionsbegründungsfrist hingewiesen habe. Nach eigenem Vortrag der Prozessbevollmächtigten sei die Akte dem Steuerberater MD aufgrund der eingetragenen Frist vorgelegt worden; dieser habe sich jedoch nicht vergewissert, ob die Revisionsbegründungsfrist auch notiert worden sei. Ein Prozessbevollmächtigter müsse aber durch geeignete Anordnungen dafür Sorge tragen, dass er selbst die Fristberechnung in ungewöhnlichen und zweifelhaften Fällen kontrolliere. Dazu gehöre auch die Revisionsbegründungsfrist; die Prozessbevollmächtigte müsse damit rechnen, dass diese Frist seinem Personal nicht bekannt sei. Dies gelte insbesondere vorliegend, weil sich § 120 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hinsichtlich der Fristen geändert habe. Gerade angesichts dieser gesetzlichen Neuerung hätte die Prozessbevollmächtigte besonderes Augenmerk auf die Notierung der Revisionsbegründungsfrist legen und die Notierung auch selbst überwachen müssen. Nach den dargestellten Umständen lasse sich ein Organisationsmangel nicht ausschließen, so dass Wiedereinsetzung nicht zu gewähren und die Revision daher als unzulässig zu verwerfen sei. Im Übrigen seien die geltend gemachten Aufwendungen weder Werbungskosten bei den sonstigen Einkünften noch bei den Einkünften aus Kapitalvermögen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unzulässig und daher durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 FGO). Der Kläger hat die Revisionsbegründung nicht fristgerecht eingereicht; eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist nicht zu gewähren.
Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 (1. Halbsatz) FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Unstreitig hat der Kläger die Revisionsbegründung nach Ablauf des 28. Mai 2001 und damit verspätet eingereicht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO kann ihm nicht gewährt werden, denn er war an dem Fristversäumnis nicht unverschuldet verhindert.
Der Kläger muss sich das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung ―ZPO― i.V.m. § 155 FGO). Dabei ist der angestellte, verantwortlich tätige Berufsträger, der nicht nur unselbständige Hilfs- oder Bürotätigkeiten ausübt, einem Bevollmächtigten des Klägers i.S. des § 85 Abs. 2 ZPO gleichgestellt (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 28. Mai 1974 VI ZR 145/73, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1974, 1511; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 16. Oktober 1984 9 C 453/82, NJW 1985, 1178; BFH-Beschluss vom 3. Oktober 1985 V B 88/84, BFH/NV 1987, 335; BGH-Beschlüsse vom 1. April 1992 XII ZB 21/92, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht ―NJW-RR― 1992, 1019; vom 30. März 1993 X ZB 2/93, NJW-RR 1993, 892; s. auch Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 56 Rz. 7; Söhn in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 56 FGO Rz. 186, 187).
An der vorliegenden Streitsache hat Steuerberater MD als angestellter Berufsträger ―nach eigenem Bekunden der Prozessbevollmächtigten― mit dem geschäftsführenden Steuerberater im FG-Verfahren gearbeitet; auch hat Steuerberater MD die Klageschrift unter dem Namen der Prozessbevollmächtigten (allein) unterschrieben. Darüber hinaus war er offenbar befugt, die Löschung der Revisionsfrist zu verfügen. Anhaltspunkte dafür, dass er lediglich unselbständige Hilfstätigkeiten ausgeübt hat, sind jedenfalls innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 FGO nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich.
Die Prozessbevollmächtigte war nicht ohne Verschulden (leichte Fahrlässigkeit reicht, vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 56 Rz. 11) verhindert, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Denn spätestens in dem Zeitpunkt, in dem Steuerberater MD das mit dem Stempelaufdruck der Kanzlei versehene FG-Begleitschreiben vom 23. März 2001 vorlag und er darauf nach der vorgesehenen Überprüfung den Löschen-Vermerk (betr. die notierte Revisionsfrist) nebst Handzeichen setzte, hätte ihm zumindest die im Stempelaufdruck nicht ersichtliche Notierung einer Revisionsbegründungsfrist auffallen können und müssen. Unterlässt er eine entsprechende Nachfrage zur Aufklärung, mit der die Nichtnotierung dieser Frist aufgedeckt und im Wege der Nachnotierung rechtzeitig hätte behoben werden können, ist dies nicht unverschuldet.
Fundstellen