Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Überraschungsurteil; Änderungsbescheid nach § 165 Abs. 2 AO 1977 wegen geänderter steuerlicher Beurteilung
Leitsatz (NV)
1. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt nicht, daß das Gericht den Beteiligten zuvor alle maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte anzudeuten hat.
2. Eine vorläufige Steuerfestsetzung kann nicht im Hinblick auf eine geänderte steuerliche Beurteilung geändert werden. Bezieht sich allerdings die die Vorläufigkeit rechtfertigende tatsächliche Ungewißheit auf eine vorrangige Frage, kann das FA in einem Änderungsbescheid bezüglich nachrangiger Fragen auch eine andere Rechtsauffassung vertreten.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 2; AO 1977 § 165
Tatbestand
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) Verfahrensmängel und Divergenz als Zulassungsgründe geltend.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des FA ist unbegründet, da ein Grund zur Zulassung der Revision i. S. von § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht vorliegt.
1. Das Finanzgericht (FG) hat dem FA nicht den Anspruch auf rechtliches Gehör versagt.
Nach § 96 Abs. 2 FGO darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Darüber hinaus soll der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) die Beteiligten auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen schützen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Februar 1976 I R 77/74, BFHE 118, 361, BStBl II 1976, 431 m. w. N.).
Das FG stützt seine der Klage teilweise stattgebende Entscheidung darauf, daß der Bescheid vom 8. Februar 1982, einschließlich der darin erfolgten Anordnung der Vorläufigkeit, zumindest in formelle Bestandskraft erwachsen sei, das FA jedoch gleichwohl nicht nach § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zum Erlaß des angefochtenen Änderungsbescheids vom 29. September 1982 befugt gewesen sei. In dieser Begründung ist - entgegen der Auffassung des FA - keine unzulässige Überraschungsentscheidung zu sehen. Die Wirksamkeit des Änderungsbescheids vom 29. September 1982 war einer der Hauptstreitpunkte des Verfahrens. Auf das BFH-Urteil vom 25. April 1985 IV R 64/83 (BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648), auf das das FG seine Entscheidung insoweit stützt, wurden die Beteiligten lt. Protokoll über die mündliche Verhandlung ausdrücklich hingewiesen. Selbst wenn bei der Erörterung mit den Beteiligten die materielle Fehlerhaftigkeit des (unbegründeten) Vorläufigkeitsvermerks im Bescheid vom 8. Februar 1982 im Vordergrund gestanden hat, mußte es für die Beteiligten die sich von selbst aufdrängende nächste Frage sein, ob das FA bei (materieller oder formeller) Wirksamkeit des Bescheids vom 8. Februar 1982 dann nach § 165 Abs. 2 AO 1977 zum Erlaß des angefochtenen Änderungsbescheids befugt gewesen war. Auch wenn der dritte Leitsatz der angezogenen BFH-Entscheidung, der zu dieser Rechtsfrage eine Aussage trifft, in der mündlichen Verhandlung nicht verlesen worden sein sollte, konnte sich das FG wegen des notwendigen und engen (Folge-)Zusammenhangs zwischen diesen Fragen ohne Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs in seinem Urteil auch auf diesen Rechtsgedanken der BFH-Entscheidung stützen. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt nicht, daß das Gericht den Beteiligten alle maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte zuvor anzudeuten hat (vgl. BFH-Urteil vom 28. Februar 1989 VIII R 303/84, BFHE 157, 51, BStBl II 1989, 711). Der Anspruch auf rechtliches Gehör hindert die Gerichte nicht daran, rechtliche Gesichtspunkte, die im bisherigen Verfahren nicht im Vordergrund standen, in der Entscheidung als maßgebend herauszustellen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 17. Januar 1979 2 BvR 1055/78, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1979, 160). Nach dem Verlauf des Verfahrens bestand für das beklagte FA auch ohne Hinweis des Gerichts Veranlassung, auch zur Frage der Änderungsbefugnis nach § 165 Abs. 2 AO 1977 Stellung zu nehmen (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 118, 361, BStBl II 1976, 431).
Soweit das FA eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör auch darin sehen will, daß das FG die mündliche Verhandlung aufgrund des Schriftsatzes der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) vom 28. Juni 1989 nicht wieder eröffnet hat, ist diese Verfahrensrüge insoweit bereits nicht ordnungsgemäß begründet (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO). Es wäre erforderlich gewesen, daß das FA insoweit in der Begründung vorgetragen hätte, was es bei Gewährung des rechtlichen Gehörs - hier Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung - seinerseits vorgetragen hätte. Dies hat das FA jedoch versäumt. Sein entsprechender Vortrag (Bl. 6 des Schriftsatzes vom 19. März 1990) bezieht sich offensichtlich nur auf die - oben bereits erörterte - Frage der das FA nach seiner Auffassung überraschenden Entscheidungsbegründung des FG. Im übrigen konnte durch die Versagung der von der Klägerin beantragten Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung dem FA nicht das rechtliche Gehör versagt werden.
Auch mit der weiteren Behauptung, das FG habe sich in seiner Entscheidung nicht mit dem vollständigen Vorbringen des FA auseinandergesetzt, wird der Verfahrensmangel eines Verstoßes gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs bereits nicht schlüssig dargetan.
2. Auch die weiteren vom FA geltend gemachten Verfahrensmängel sind - wie es zu einer ordnungsgemäßen Erhebung der Rüge erforderlich wäre - nicht schlüssig dargetan.
Mit der Behauptung, das FG habe eine entscheidungserhebliche Tatsache unberücksichtigt gelassen, wird ein Verstoß gegen die Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen nach § 76 FGO bereits nicht schlüssig dargetan. Dies gilt auch für die Behauptung, der Tatbestand des Urteils sei nicht vollständig.
3. Die Entscheidung des FG weicht nicht ab i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO von dem Urteil des BFH in BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648, und von dem Beschluß vom 22. Dezember 1987 IV B 174/86 (BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234).
Nach Auffassung des FG ist der Änderungsbescheid vom 29. September 1982 deswegen rechtswidrig, weil eine nach § 165 Abs. 1 AO 1977 vorläufige Steuerfestsetzung nicht im Hinblick auf eine veränderte steuerliche Beurteilung geändert werden kann, und zwar auch dann nicht, wenn die Finanzbehörde einen entsprechenden Vorbehalt aufgenommen hat und dieser Vorbehalt wirksam sein sollte. Mit diesem entscheidungserheblichen Rechtssatz befindet sich das FG in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Rechtssatz im Urteil des BFH in BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648, auf das sich das FG stützt. Der BFH vertritt in der angezogenen Entscheidung die Auffassung, daß § 165 Abs. 2 AO 1977 es nicht erlaube, eine geänderte steuerliche Beurteilung durchzusetzen. Eine Einschränkung dieses allgemeinen Grundsatzes ist - entgegen der Auffassung des FA - diesem Urteil des BFH nicht zu entnehmen.
Die Entscheidung des FG weicht auch nicht ab von dem Beschluß des BFH in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234. Dieser Entscheidung läßt sich allerdings der Grundsatz entnehmen, daß im Rahmen einer Änderung nach § 165 Abs. 2 AO 1977 auch von der tatsächlichen Ungewißheit nicht betroffene rechtliche Fehlbeurteilungen korrigiert werden können. Diese Möglichkeit besteht jedoch auch nach dieser Entscheidung des BFH nicht uneingeschränkt. Sie wird vielmehr ausdrücklich beschränkt auf nachrangige Fragen. Bezieht sich die die Vorläufigkeit rechtfertigende tatsächliche Ungewißheit auf eine vorrangige Frage (im vom BFH entschiedenen Fall die Frage, ob überhaupt Einkünfte aus selbständiger Arbeit vorlagen), so kann das FA die (rechtliche) Nachprüfung aller nachrangigen Fragen (im vom BFH entschiedenen Fall die Abzugsfähigkeit bestimmter Aufwendungen als Betriebsausgaben) zurückstellen. Bezüglich dieser nachrangigen Frage, deren Prüfung das FA bei Erlaß des vorläufigen Bescheids zulässigerweise zurückgestellt hat, kann das FA in einem auf § 165 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO 1977 gestützten Bescheid eine andere Rechtsauffassung vertreten.
Die Entscheidung des FG enthält weder ausdrücklich noch sinngemäß einen allgemeinen Rechtssatz, der dieser Auffassung des BFH widerspricht. Mit dem Bescheid vom 8. Februar 1982 hat das FA die Auffassung der Klägerin akzeptiert, daß der für die Bemessungsgrundlage u. a. maßgebliche Wert der neuen Gesellschaftsrechte nach dem Stuttgarter Verfahren unter Berücksichtigung von Ertragsaussichten zu ermitteln sei. Dem FA war dabei bekannt, daß es sich um eine Neugründung der GmbH handelte und die Aktiva und Passiva des bisher unselbständigen Betriebsteils erst nach der Einbringung der Grundstücke übertragen wurden. Die tatsächliche Ungewißheit konnte sich daher insoweit nur auf die für die Durchführung der Schätzung im einzelnen erforderlichen - und von der Klägerin mangels Unterlagen noch nicht beizubringenden - Zahlenangaben im einzelnen handeln. Jedenfalls liegt insoweit keine gegenüber dem von der tatsächlichen Ungewißheit erfaßten Bereich nachrangige Frage im Sinne des angezogenen BFH-Beschlusses vor. Die Tatsache, daß die Anwendung einer Schätzungsmethode keine Rechtsfrage im eigentlichen Sinne ist (vgl. z. B. BFH-Entscheidung vom 2. Februar 1982 VIII R 65/80, BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409), ändert an diesem Ergebnis nichts.
Fundstellen
Haufe-Index 418045 |
BFH/NV 1992, 719 |