Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung von Klageverfahren bei anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG
Leitsatz (NV)
1. Eine Aussetzung des Klageverfahrens kann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, dem FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (Bestätigung des BFH-Beschlusses vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408).
2. Eine Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluß des FG ist auch dann erfolglos, wenn diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegen, das FG den Aussetzungsbeschluß aber auf andere Gründe gestützt hat.
Normenkette
FGO §§ 74, 132
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) wurde im Streitjahr (1985) mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Nach erfolglosem Vorverfahren wehrte sie sich mit der Klage dagegen, daß der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) in dem angegriffenen Steuerbescheid Aufwendungen für die Anschaffung eines Wäschetrockners nicht als außergewöhnliche Belastung anerkannt hatte. Das Finanzgericht (FG) setzte das Klageverfahren ,,bis zur Klärung der Folgerungen, die hinsichtlich des Grundfreibetrages aus den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl II 1990, 653, und vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86, BStBl II 1990, 664, zu ziehen sind, zunächst bis 31. Dezember 1991" aus.
Hiergegen richtete sich die Beschwerde des FA. Das FA machte geltend, die vom FG angeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hätten keinen rechtlichen Einfluß auf den von der Klägerin angestrengten Rechtsstreit. Sie beträfen nur die Verfassungsmäßigkeit der Kinderfreibeträge für das Streitjahr und nicht die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages. Außerdem sei die Aussetzung eines Verfahrens allenfalls wegen eines bei einem anderen Gericht noch anhängigen Verfahrens zulässig. Die vom FG genannten Verfahren vor dem BVerfG seien aber abgeschlossen gewesen.
Nach Ablauf des 31. Dezember 1991 nahm das FG das Verfahren wieder auf. Daraufhin erklärten sowohl das FA als auch die Klägerin die Hauptsache des Beschwerdeverfahrens für erledigt.
Entscheidungsgründe
Durch die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ist der Rechtsstreit über die Aussetzung des Klageverfahrens erledigt. Offen kann daher bleiben, ob auch eine Erledigung durch den Zeitablauf des angegriffenen Beschlusses des FG eingetreten ist (vgl. Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 138 Rdnr. 11 mit zahlreichen Nachweisen).
Nach § 138 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der erkennende Senat nur noch nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Dabei ist der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen. Aufgrund der bei dieser Kostenentscheidung nur gebotenen summarischen Prüfung sind nach dem bisherigen Sach- und Streitstand die Kosten des Beschwerdeverfahrens dem FA aufzuerlegen. Denn die Beschwerde des FA hätte keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Das FG hat das Klageverfahren im Ergebnis zu Recht ausgesetzt.
1. Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91 (BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) entschieden, daß bei bereits anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG unter folgenden Voraussetzungen eine Aussetzung des Verfahrens durch das FG geboten ist: In dem Verfahren vor dem BVerfG muß es unmittelbar um die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden gesetzlichen Regelung gehen. Das Verfahren vor dem FG muß insoweit ein echtes Parallelverfahren sein. Bei den FG muß eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle zu der verfassungsrechtlichen Streitfrage (Massenverfahren) anhängig sein. Die Verfahren vor dem BVerfG dürfen nicht als offenbar aussichtslos erscheinen, und der Aussetzung des Verfahrens durch das FG darf kein berechtigtes Interesse eines der Verfahrensbeteiligten entgegenstehen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diesen Beschluß, der wie der Streitfall die Aussetzung des Klageverfahrens wegen der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages betrifft, Bezug genommen.
All diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Das FG Münster hat mit Beschluß vom 1. Februar 1991 16 K 936/90 F (Entscheidung der Finanzgerichte - EFG - 1991, 253) beim BVerfG ein konkretes Normenkontrollverfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Grundfreibetrages (§ 32 a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) für die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1984 eingeleitet. Die Entscheidung des BVerfG in diesem Vorlageverfahren muß zwangsläufig auch die Regelung des Grundfreibetrages für das Streitjahr betreffen, da diese Regelung mit derjenigen für die Streitjahre 1981 bis 1984 übereinstimmt. Außerdem sind beim BVerfG bereits ein Vorlageverfahren und Verfassungsbeschwerden zur Höhe der Grundfreibeträge für 1986 bis 1988 (Vorlagebeschluß des Niedersächsischen FG zum 15. Januar 1991 IX 427 u. 437/90, EFG 1991, 260; u. a. Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des erkennenden Senats vom 8. Juni 1990 III R 14/90, BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969) und ein Vorlageverfahren zur Höhe des Grundfreibetrages für 1991 (Vorlagebeschluß des FG des Saarlandes vom 19. März 1991 1 K 84/91, EFG 1991, 330) anhängig. Die Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 und für 1991 sind erheblich höher als der Grundfreibetrag für das Streitjahr. Würde das BVerfG diese Grundfreibeträge für verfassungswidrig erklären, müßte dies somit ebenfalls zwangsläufig Auswirkungen auf den Grundfreibetrag für das Streitjahr haben. Dem BVerfG liegen daher bereits mehrere Musterverfahren vor. Es handelt sich insoweit um echte Parallelverfahren zu dem von der Klägerin angestrengten Klageverfahren, als es um die Höhe des Grundfreibetrages geht.
Sowohl bei den FG als auch beim Bundesfinanzhof (BFH) sind zu dieser verfassungsrechtlichen Frage bereits eine Vielzahl gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) anhängig. Die Musterverfahren vor dem BVerfG erscheinen auch nicht als offenbar aussichtslos (s. näher Beschluß des erkennenden Senats vom 7. Februar 1991 III B 24, 25/91). Das FA hat gegen die Aussetzung des Klageverfahrens im Streitfall auch keine Gesichtspunkte vorgebracht, die ein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG vor der Entscheidung der Musterverfahren durch das BVerfG begründen könnten.
2. Unerheblich ist, daß das FG die Aussetzung des Klageverfahrens nicht mit den beim BVerfG anhängigen Musterverfahren, sondern mit der Unsicherheit über die aus den Beschlüssen des BVerfG in BStBl II 1990, 653 und im BStBl II 1990, 664 zu ziehenden Folgerungen begründet hat. Die Aussetzung des Klageverfahrens durch das FG ist nach § 74 FGO eine Ermessensentscheidung, auch wenn sich die Aussetzung des Verfahrens bei vor dem BVerfG anhängigen Musterverfahren zu einer Aussetzungspflicht verdichten kann. Bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung des FG hat der erkennende Senat ein eigenes Ermessen auszuüben (vgl. Beschluß des BFH vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 102 FGO Rdnr. 3). Unabhängig von der Begründung des Aussetzungsbeschlusses durch das FG ist somit entscheidend, daß der erkennende Senat die Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens für gegeben hält.
3. Auch die Tatsache, daß die Musterverfahren vor dem BVerfG zum Zeitpunkt des Aussetzungsbeschlusses des FG (21. Dezember 1990) zum Teil noch nicht anhängig waren, hätte der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen können. Zum einen lag dem BVerfG zu diesem Zeitpunkt bereits die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des erkennenden Senats in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 vor. Zum anderen ist maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Begründetheit der Beschwerde der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (vgl. Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 132 Rdnr. 12 m. w. N.) oder hier im Streitfall der Zeitpunkt der Erledigung der Hauptsache. In diesem Zeitpunkt lagen die Voraussetzungen für die Aussetzung des Klageverfahrens vor.
Fundstellen
Haufe-Index 418283 |
BFH/NV 1992, 754 |