Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückforderung von Kindergeld
Leitsatz (NV)
Einer Rückforderung von Kindergeld steht der Grundsatz von Treu und Glauben nur entgegen, wenn Umstände vorliegen, welche die Geltendmachung eines solchen Anspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1; AO 1977 § 37 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) ist die Mutter der am 22. Dezember 1981 geborenen Tochter D. Die Antragstellerin erhielt für D auch für die Zeit nach Erreichung der Volljährigkeit Kindergeld, weil sich die Tochter in Berufsausbildung befand. Das Geld wurde auf Wunsch der Antragstellerin unmittelbar auf ein Konto von D ausbezahlt. Im August 2002 wurde dem Antragsgegner und Beschwerdegegner, der Familienkasse (Familienkasse), im Rahmen einer Ausbildungsbescheinigung mitgeteilt, dass sich D in Erziehungsurlaub befinde. Die Familienkasse stellte hierauf im Rahmen eigener Ermittlungen fest, dass D im April 2001 ein Kind geboren hatte und im Anschluss an die im Juni 2001 endende achtwöchige Mutterschutzfrist ihre Berufsausbildung zwecks Wahrnehmung der Elternzeit nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) für die voraussichtliche Dauer bis August 2003 unterbrochen hatte. Tatsächlich setzte D bereits im April 2003 ihre Berufsausbildung fort.
Durch den Bescheid vom 23. Oktober 2002 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für D mit Wirkung ab Juli 2001 auf. Zugleich wurde die Antragstellerin in dem Bescheid aufgefordert, das bereits geleistete Kindergeld für die Zeit von Juli 2001 bis Juli 2002 von insgesamt 1 906,30 € zurückzuzahlen. Diesem Bescheid beigefügt war ein als Anlage zum Rückforderungsbescheid vom 18. Oktober 2002 bezeichnetes Schreiben vom 23. Oktober 2002. In diesem Schreiben wurde die Antragstellerin darauf hingewiesen, sie könne die Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens dadurch vermeiden, dass sie das überzahlte Kindergeld bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erstatte.
Gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 23. Oktober 2002 erhob die Antragstellerin Klage. Über diese wurde nach Lage der Akten noch nicht entschieden.
Nachdem die Familienkasse einen dort gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) abgelehnt hatte, begehrte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des angefochtenen Bescheids vom 18. Oktober 2002 auszusetzen. Hierbei berief sie sich im Wesentlichen darauf, dass die Wahrnehmung der Elternzeit ebenso wie die Zeit des Mutterschutzes nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) oder Zeiten einer Erkrankung nicht kindergeldschädlich seien. Auch stehe der Rückforderung des Kindergelds entgegen, dass der Familienkasse bereits im Februar 2001 die Entscheidung, das Elternjahr zu nehmen, mitgeteilt worden sei. Die Rückforderung des in Kenntnis dieses Umstands geleisteten Kindergelds verstoße daher gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Das FG ging davon aus, dass der Aussetzungsantrag gegen den Bescheid vom 23. Oktober 2002 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und gegen die in diesem Schreiben enthaltene Rückforderung des überzahlten Kindergelds gerichtet war.
Diesen Antrag lehnte das FG ab. Es vertrat hierbei im Wesentlichen die Auffassung, die Wahrnehmung der Elternzeit nach § 15 BErzGG sei eine kindergeldschädliche Unterbrechung der Berufsausbildung.
Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde macht die Antragstellerin in formeller Hinsicht geltend, das FG habe über einen Antrag auf AdV des Aufhebungsbescheids vom 23. Oktober 2002 entschieden. Begehrt worden sei aber die AdV des Rückforderungsbescheids vom 18. Oktober 2002. Zwar sei nur mit einem Schreiben vom 18. November 2002 Einspruch eingelegt worden, das sich aber sowohl gegen den Aufhebungsbescheid vom 23. Oktober 2002 als auch gegen den Rückforderungsbescheid gerichtet habe, unabhängig davon, ob der zuletzt genannte Bescheid vom 23. Oktober 2002 oder vom 18. Oktober 2002 datiere. Dementsprechend betreffe die ergangene Einspruchsentscheidung vom 27. Oktober 2002 sowohl den Aufhebungs- als auch den Rückforderungsbescheid, und zwar unabhängig von dessen Datum.
Der im gerichtlichen Verfahren gestellte Antrag auf AdV vom 2. April 2003 sei hingegen ausdrücklich nur gegen den Bescheid der Familienkasse vom 18. Oktober 2002 gerichtet, weil dieses Datum in dem Bescheid vom 23. Oktober 2002 genannt worden sei.
Der Antrag auf AdV dieses Rückforderungsbescheids sei auch begründet. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung sei rechtswidrig gewesen. Die Unterbrechung der Berufsausbildung während der Mutterschutzfrist und die Wahrnehmung des Erziehungsurlaubs seien rechtlich gleich zu behandeln. Auch sei entgegen der Ansicht des FG die Existenz der Antragstellerin bedroht. Sie sei nicht in der Lage, den Rückforderungsbetrag zu begleichen. Die Gefahr, eine eidesstattliche Versicherung abgeben zu müssen, gefährde die Antragstellerin daher beruflich und finanziell. Die Rechtswidrigkeit des Rückforderungsbescheids folge auch daraus, dass die Familienkasse das Kindergeld weiter gezahlt habe, obwohl ihr rechtzeitig mitgeteilt worden sei, die Tochter der Antragstellerin werde das Elternjahr nehmen.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den angefochtenen Beschluss der Vorinstanz aufzuheben und die AdV des Rückforderungsbescheids vom 23. November 2002 anzuordnen.
Die Familienkasse beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen.
1. Der erkennende Senat legt den Antrag der Antragstellerin dahin aus, dass ihr Begehren im Beschwerdeverfahren darauf gerichtet ist, die Vollziehung des unter dem Datum vom 23. November 2002 ergangenen Bescheids über die Rückforderung von überzahltem Kindergeld auszusetzen. Denn nur insoweit liegt ein vollziehbarer Rückforderungsbescheid vor, dessen Rechtmäßigkeit der Senat überprüfen kann. Hingegen existiert, wie noch darzulegen ist, der von der Klägerin angesprochene Rückforderungsbescheid vom 18. November 2002 nicht.
Einer Auslegung in dem dargelegten Sinn steht nicht entgegen, dass die rechtskundig vertretene Antragstellerin im Beschwerdeverfahren zunächst geltend gemacht hat, nicht die Vollziehung des Bescheids vom 23. November 2002, sondern die des Bescheids vom 18. November 2002 sei auszusetzen. Die Antragstellerin hat nämlich mit ihrem Schriftsatz vom 10. November 2003 in Bezug auf das beim FG anhängige Klageverfahren klargestellt, die Klage richte sich (auch) gegen den Rückforderungsbescheid, und zwar unabhängig davon, ob dieser unter dem Datum vom 18. oder dem vom 23. November 2002 ergangen sei. Den in diesem Schriftsatz enthaltenen Hinweis, der Antrag auf AdV sei gegen den Bescheid vom 18. November 2002 gerichtet, versteht deshalb der Senat nicht in dem Sinn, dass die Antragstellerin auf der AdV des "Bescheids" vom 18. November 2002 beharrt, sondern dass sie damit lediglich zum Ausdruck bringt, sie begehre ausschließlich die AdV des (tatsächlich ergangenen) Rückforderungsbescheids und nicht diejenige des Bescheids über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung.
Eine Überprüfung des "Bescheids" vom 18. November 2002 käme deshalb nicht in Betracht, weil gegenüber der Antragstellerin kein Rückforderungsbescheid vom 18. November 2002 ergangen ist, dessen Vollziehbarkeit durch den erkennenden Senat ausgesetzt werden könnte.
Die Antragstellerin hat in ihrem Schriftsatz vom 10. November 2003 selbst eingeräumt, dass ihr gegenüber kein Rückforderungsbescheid vom 18. November 2002 ergangen ist. Mangels Bekanntgabe an die Antragstellerin liegt insoweit daher kein Verwaltungsakt mit einem vollziehbaren Inhalt vor. Die Existenz eines solchen leitet sie nur daraus ab, dass in einer Anlage, in der auf die straf- bzw. bußgeldrechtlich befreiende Wirkung einer Rückzahlung des Kindergelds hingewiesen worden ist und das auch keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, im Betreff ein Rückforderungsbescheid vom 18. Oktober 2002 erwähnt ist. Da diese Anlage dem an die Antragstellerin gerichteten Schreiben vom 23. Oktober 2002 beigefügt war, das auch den Rückforderungsbescheid enthielt, war für diese zweifelsfrei erkennbar, dass in der Anlage der Rückforderungsbescheid vom 23. Oktober 2002 gemeint war, welcher lediglich ein unzutreffendes Datum trug.
Der "Bescheid" vom 18. November 2002 ist deshalb auch kein nichtiger Bescheid, von dem der Rechtsschein von Vollzugsfolgen gegenüber dem Betroffenen ausgeht (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhof ―BFH― vom 19. April 1988 VII B 167/87, BFH/NV 1989, 36), sondern ein bloßer Nichtakt (vgl. hierzu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 21. November 1986 8 C 127/84, BStBl II 1987, 472).
2. Die Vollziehung des Rückforderungsbescheids vom 23. November 2002 ist jedoch nicht auszusetzen.
Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll das FG die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts dann aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene unbillige Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheides neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zu Tage treten, die Unentschiedenheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (Beschlüsse des BFH vom 20. Dezember 1994 VIII B 143/94, BFHE 176, 263, BStBl II 1995, 262; vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, ständige Rechtsprechung).
a) Im Streitfall bestehen an der Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheids keine ernsthaften Zweifel.
Einer Überprüfung dieses Bescheids steht allerdings abweichend von der Ansicht des FG nicht entgegen, dass kein Abrechnungsbescheid ergangen ist. Die Überprüfung eines Rückforderungsbescheids gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) setzt nicht das Ergehen eines Abrechnungsbescheids voraus, wenn gegen den Rückforderungsbescheid nicht der Einwand erhoben wird, eine Überzahlung liege in Wirklichkeit nicht vor (vgl. Alber in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgrichtsordnung, Kommentar, § 218 AO 1977 Rz. 76, 82).
Nicht überprüfen kann der Senat jedoch, ob die Familienkasse zu Recht davon ausgegangen ist, dass der Antragstellerin deshalb kein Kindergeld zusteht, weil deren Tochter ihre Berufsausbildung zum Zweck der Betreuung des eigenen Kindes unterbrochen hat. Die Antragstellerin begehrt nämlich nicht die AdV des Bescheids über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 23. November 2002 (s. oben bei II.1.), in dem diese Entscheidung getroffen worden ist. Wird ein Bescheid über die Bewilligung von Kindergeld aufgehoben, dann steht mit Ergehen dieses Aufhebungsbescheids, solange dessen Vollzugsfolgen fortbestehen, fest, dass das auf der Grundlage des Bewilligungsbescheids gezahlte Kindergeld zu Unrecht geleistet worden ist (BFH-Urteil vom 24. August 2001 VI R 83/99, BFHE 196, 278, BStBl II 2002, 47). Eine AdV des Rückforderungsbescheids als Folgebescheid ist deshalb insoweit ausgeschlossen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 69 Rz. 55 Stichwort "Folgebescheide", m.w.N.).
Lediglich aus Gründen der Klarstellung weist der erkennende Senat auf sein Urteil vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02 (BFHE 203, 106, BStBl II 2003, 848) hin. In diesem Urteil hat der Senat entschieden, dass ein volljähriges Kind, das seine Berufsausbildung zwecks Betreuung des eigenen Kindes im Rahmen der Elternzeit nach §§ 15, 20 Abs. 1 BErzGG in vollem Umfang unterbricht, sich in dieser Zeit nicht in Berufsausbildung befindet. Für diesen Zeitraum besteht deshalb kein Kindergeldanspruch für dieses volljährige Kind.
Der Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheids steht im Streitfall nicht entgegen, dass die Antragstellerin ihrem Vorbringen zufolge der Familienkasse rechtzeitig mitgeteilt hat, ihre Tochter werde die Berufsausbildung zum Zwecke der Kinderbetreuung unterbrechen.
Der Senat hat nämlich durch sein Urteil vom 14. Oktober 2003 VIII R 56/01 (zur Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2004, 242) entschieden, dass einer Rückforderung zu viel gezahlten Kindergelds der Grundsatz von Treu und Glauben nicht bereits dann entgegensteht, wenn die Behörde trotz Kenntnis von Umständen, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, zunächst weiterhin Leistungen erbringt. Erforderlich sind vielmehr besondere Umstände, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Solche Umstände hat die Antragstellerin nicht vorgetragen.
Für die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheids ohne Bedeutung ist auch der Umstand, dass das Kindergeld an die Tochter der Antragstellerin ausbezahlt worden ist, weil dies auf Wunsch der Antragstellerin geschehen ist (vgl. Senatsurteil vom 29. Januar 2003 VIII R 64/01, BFH/NV 2003, 905).
b) Eine AdV kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der unbilligen Härte in Betracht. Es entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass eine AdV wegen unbilliger Härte dann zu versagen ist, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids fast ausgeschlossen sind (Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz. 107, m.w.N.). Hiervon ist im Streitfall auszugehen.
Fundstellen
Haufe-Index 1129492 |
BFH/NV 2004, 759 |
JWO-FamR 2004, 212 |