Entscheidungsstichwort (Thema)
Vererblichkeit des Verlustabzugs
Leitsatz (amtlich)
Der I. Senat hält an seiner Auffassung fest, dass der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlustabzug gemäß § 10d EStG bei seiner eigenen Veranlagung zur Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer geltend machen kann (Senatsurteil vom 16. Mai 2001 I R 76/99, BFHE 195, 328, BStBl II 2002, 487). Er stimmt der Divergenzanfrage des XI. Senats im Beschluss vom 10. April 2003 XI R 54/99 (BFHE 202, 284, BFH/NV 2003, 1364) deshalb nicht zu.
Normenkette
EStG § 10d
Gründe
Der Senat hält an seiner im Urteil vom 16. Mai 2001 I R 76/99 (BFHE 195, 328, BStBl II 2002, 487) vertretenen Rechtsauffassung fest. Er ist weiterhin der Ansicht, dass Verlustvorträge des Erblassers auf den Erben im Rahmen der Gesamtrechtsnachfolge übergehen (§ 1922 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, § 45 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung) und von diesem gemäß § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG) abgesetzt werden können. Der Senat stimmt der vom XI. Senat nach dessen Anfragebeschluss vom 10. April 2003 XI R 54/99 (BFHE 202, 284, BFH/NV 2003, 1364) beabsichtigten Abweichung deshalb nicht zu.
Die Gründe hierfür ergeben sich in erster Linie aus dem Senatsurteil in BFHE 195, 328, BStBl II 2002, 487, das aufgrund der Erwägungen des anfragenden Senats wie folgt zu ergänzen ist:
1. Es steht außer Frage, dass die bisherige Handhabung der Vererblichkeit des Verlustabzugs seit geraumer Zeit umstritten und seit Jahren Gegenstand kontroverser Diskussionen im Schrifttum ist. Im Einzelnen wird dazu auf den Senatsbeschluss vom 29. März 2000 I R 76/99 (BFHE 191, 353, BStBl II 2000, 622) und die dort gegebenen Nachweise Bezug genommen. Dem steht jedoch eine ständige, mittlerweile mehr als 40 Jahre alte Rechtsprechung entgegen (seit dem Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 15. März 1962 IV 177/60, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963, 8), wonach der Erbe den in der Person des Erblassers entstandenen, aber nicht mehr ausgenutzten Verlust bei seiner eigenen Besteuerung absetzen kann. Vorbehalte ergaben sich in jüngerer Zeit lediglich durch das Erfordernis einer eigenen wirtschaftlichen Belastung des Erben (vgl. BFH-Urteil vom 5. Mai 1999 XI R 1/97, BFHE 189, 57, BStBl II 1999, 653), durch das der Grundsatz der Vererbbarkeit aber nicht berührt wird. Die Praxis der Finanzverwaltung ist dem bislang uneingeschränkt gefolgt (vgl. gegenwärtig H 115 der Einkommensteuer-Richtlinien 2001; Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 26. Juli 2002, BStBl I 2002, 667). Dies rechtfertigt es, den Gesichtspunkt der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und das Kontinuitätsgebot ungeachtet aller wissenschaftlicher Kontroversen als tragfähiges Kriterium bei der Entscheidung über die Frage zu berücksichtigen, ob eine ständige bisherige Rechtsprechung aufgegeben werden sollte. Wie sachgerecht dies ist, erweist sich nicht zuletzt am Streitfall, in dem zwischen den Beteiligten an sich lediglich um den Umfang, nicht aber um den nunmehr in den Vordergrund tretenden Grund der "Vererbbarkeit" von Verlustvorträgen gestritten wird.
2. Der anfragende XI. Senat vertritt die Auffassung, "Verlustabzugspotentiale, die der Erblasser wegen seiner Einkommensverhältnisse auf Dauer nicht mehr nutzen kann, erlangen erst dank ihrer Vererblichkeit wirtschaftliche Bedeutung". Der I. Senat ist anderer Ansicht.
Zwar trifft es zu, dass ein festgestellter Verlust aus rechtlicher Sicht erst dann in Erscheinung tritt, wenn er auch steuerlich anzuerkennen und zu verwerten ist (Kirchhof/Geserich in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, § 2 Rdnr. D 160 ff., 163). Für die Frage der Vererbbarkeit der Verlustvorträge, also der Frage ihrer steuerlichen Anerkennung beim Erben, führt eine solche Sichtweise jedoch zu einem Zirkelschluss, indem sie das Ergebnis ―eben die steuerliche Anerkennung― als petitio principii vorwegnimmt. Sie wird den ökonomischen Gegebenheiten auch nicht gerecht. Denn wirtschaftlich gesehen tritt der eingetretene Verlust in Gestalt der Minderung künftiger Steuerzahlungen (= Steuereffekte aus Verlustvorträgen; latente Erstattungsansprüche) ungeachtet seiner steuerlichen Abzugsfähigkeit in künftigen Jahren nach Maßgabe der anzuwendenden steuerlichen Vorschriften (§ 10d EStG) durchaus als selbständige quantifizierbare Größe in Erscheinung. Er erfüllt u.U. sogar die Voraussetzungen für eine (handels-)bilanzielle Aktivierung der durch ihn ausgelösten latenten Steuern beim Erblasser (zum Diskussionsstand s. Marten/Weiser/ Köhler, Betriebs-Berater ―BB― 2003, 2335 ff., m.w.N.; vgl. auch § 274 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs). Im Erbfall können diese latenten Steuererstattungsansprüche zwar nicht mehr vom Erblasser selbst geltend gemacht werden. Sie wirken sich insoweit bei ihm nicht aus. An dem ökonomischen Wert der Verluste ändert sich dadurch jedoch nichts. Dieser Wert schlägt sich beim Erben in der Schmälerung des Nachlasses nieder, der in entsprechendem Umfang geringer ausfällt, ebenso wie er umgekehrt erhöht wäre, wenn der Erblasser am Ende seines Lebens auf verlustbringende Investitionen verzichtet und deswegen statt Verlusten Gewinne gemacht hätte. Sichtbar wird dieser Effekt namentlich bei sog. unechten (Buch-)Verlusten, die aus vorangegangenen Abschreibungen resultieren, z.T. infolge eines dem Erblasser eingeräumten Wahlrechts. Gerade in derartigen Fällen sind die Verluste eng mit der jeweiligen Einkunftsquelle verknüpft; der Erbe muss in betreffenden Wirtschaftgütern "gespeicherte" Gewinne nachversteuern, wenn später stille Reserven aufgedeckt werden. Der XI. Senat erwägt in diesem Zusammenhang zwar Abhilfe im Billigkeitswege. Doch spricht es, wie der Senat bereits in seinem Urteil in BFHE 195, 328, BStBl II 2002, 487 ausgeführt hat, nicht für eine geänderte Betrachtungsweise, wenn diese ihrerseits sogleich zu Billigkeitsmaßnahmen führen muss.
Der Senat schließt sich in Konsequenz dieser Überlegungen der im Schrifttum vertretenen auch rechtlichen Anerkennung des "aus dem Verlust resultierenden zukünftigen Steuerminderungseffektes (als) ökonomischen Wert" und als "vermögenswerte Rechtsposition" an (so Marx, Der Betrieb 2001, 2364; vgl. ebenso Philipp, Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge 2002, 355, 357, und 2003, 430, 431 und allgemein mit zahlr. w.N. Marten/ Weiser/ Köhler, BB 2003, 2335, 2338 ff.). Es handelt sich hierbei nicht lediglich um ein bloßes Merkmal bei der Besteuerung des Erben.
3. a) Der derart verselbständigte und werthaltige latente Anspruch auf den Steuerminderungseffekt ist als solcher gegenstandsbezogen und nicht höchstpersönlicher Natur, so dass die erforderliche Identität auch des Besteuerungssubjekts (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG) gewahrt ist. Infolge der dargestellten Auswirkung auf den Umfang des Nachlasses entspricht seine rechtliche Berücksichtung zugleich dem verfassungsrechtlich gebotenen Leistungsfähigkeitsprinzip (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―; vgl. ebenso Marx sowie Philipp, jeweils a.a.O.).
b) Der Senat lässt sich in diesem Zusammenhang vor allem von den folgenden Überlegungen leiten:
aa) Lang (in Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Aufl., § 9 Rz. 23 und 65) hebt den Gesichtspunkt des sog. Totalitätsprinzips hervor. Danach endet die Steuerpflicht mit dem Tod des Steuerschuldners, die Einkunftsgrundlagen sind indes über die Beendigung der Steuerpflicht hinaus in der Person des Rechtsnachfolgers fortzuführen.
Folgt man dieser Idee des Totalitätsprinzips, stellt das Prinzip gleichsam die Leitidee dar. Sie wird aus haushaltspolitischen Gründen der Staatsräson mittels des Periodizitätsprinzips durchbrochen. Die Einkommensteuer erfasst (lediglich) das zu versteuernde Einkommen eines zurückliegenden Kalenderjahres (§ 2 Abs. 7, § 25 Abs. 1 EStG). Das Einkommen wird dadurch periodisch belastet; besteuert wird nur das Gegenwartseinkommen (vgl. im Einzelnen Kirchhof in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 2 Rdnrn. A 135 ff., A 359 ff., D 274 f.). Als zwar nicht nur rein technisches, sondern materielles, aber letztlich "ungerechtes" Prinzip tritt das Prinzip der Abschnittsbesteuerung hinter die besagte Leitidee zurück. Gerade am Verlustvortrag wird dies deutlich; dieser stellt das Totalitätsprinzip (partiell) wieder her und ist daher systemgerecht, um Überbesteuerungen und Verstößen gegen das (objektive) Nettoprinzip entgegenzutreten.
Der rechtstechnisch sachgerechte (und nach Auffassung des Senats möglicherweise auch verfassungsrechtlich gebotene, s. nachfolgend unter bb) Weg bei "überhängenden" Verlusten nach dem Tode des Steuerpflichtigen wäre in Anbetracht dessen ein zum Nachlass gehörender Erstattungsanspruch des Verstorbenen in Gestalt der ―gemessen am Totalitätsprinzip― zuviel (voraus-) bezahlten Steuer. In diesen Anspruch träte materiell- und formalrechtlich der Erbe ein. Er könnte diesen Anspruch geltend machen (s. insoweit auch Kirchhof/Geserich in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, a.a.O., § 2 Rdnr. D 163). Ggf. käme ―bei gewerblichen Einkünften― auch die Annahme einer mit dem Tod verwirklichten (fiktiven) Betriebsaufgabe in Betracht, infolge derer vorhandene stille Reserven aufgedeckt und vortragsfähige Verluste verrechnet werden könnten.
Eine solche Verwirklichung des Totalitätsprinzips kennt das deutsche Steuerrecht nicht. Das hindert indes nicht, das übergeordnete Prinzip zu restituieren, indem dem Erben der Verlustabzug an Stelle des Erblassers ermöglicht wird. Für den ersatzlosen Verfall der Verlustvorträge gibt es aus Sicht dieses Prinzips keinen tragfähigen Grund, ebenso wenig wie in der umgekehrten Situation hinsichtlich der Gewinne, die der Erblasser erzielt, weil er von verlustschaffenden Investitionen abgesehen hat. Dann sind diese Gewinne ―sozusagen als verhinderte Verluste― zu Recht steuerpflichtig, auch dann, wenn sie erst nachträglich von dem Rechtsnachfolger zu versteuern sind (z.B. § 24 Nr. 2 EStG).
bb) Allein die Vererbbarkeit der Verlustvorträge sichert damit zugleich ein verfassungskonformes Ergebnis; der Vererbungsausschluss droht hingegen, bei der gegenwärtigen Rechtslage eines zeitlich begrenzten Verlustrücktrages, einen Verfassungsverstoß in Gestalt eines enteignungsgleichen Eingriffs (vgl. Art. 14 Abs. 1 GG) jedenfalls in der Person des Erblassers nach sich zu ziehen. Denn die Verluste sind bei diesem tatsächlich eingetreten und hatten sich bei diesem auch infolge der steuerlichen Abzugsfähigkeit in einer entsprechenden Rechtsposition (vgl. § 10d EStG) verdichtet (vgl. dazu Kirchhof/Geserich in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 2 Rdnr. D 162 ff.). Dessen Gesamt-Leistungsfähigkeit wurde durch die Verluste (als Teil des Lebens-Totaleinkommens) gemindert; ihr Verfall zieht insoweit eine Überbesteuerung nach sich. Schließt man die Vererbbarkeit der Verlustvorträge aus, spricht deshalb manches dafür, dass dem Erblasser aus Gründen der Gleichbehandlung in Gestalt des Leistungsfähigkeitsprinzips ein gegenüber der jetzigen Rechtslage erweiterter Verlustrücktrag zugestanden werden müsste, der wiederum Erstattungsansprüche auslösen würde, die in den Nachlass eingingen (s. oben unter 3.b aa). Dass der Erblasser in den betreffenden vergangenen Veranlagungszeiträumen leistungsgerecht besteuert worden ist, widerspricht dem nicht. Es geht nicht um die "richtige" Erfassung der Leistungsfähigkeit in jenen Jahren, sondern um die leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung des Erblassers im Rahmen des erzielten und zu besteuernden Totaleinkommens und in diesem Zusammenhang um die verfassungsrechtlich gebotene Schaffung eines extraperiodischen Ausgleichs.
Diese (möglichen) Folgewirkungen können bei Überlegungen im Hinblick auf eine Rechtsprechungsänderung, wie sie der XI. Senat anstrebt, nicht vernachlässigt werden. Eine Rechtsprechung, deren Konsequenz ein letztlich verfassungswidriger Rechtszustand wäre, lässt sich aus Sicht des I. Senats auch dann nicht rechtfertigen, wenn hierfür bei isolierter dogmatischer Betrachtung gute Gründe geltend gemacht werden können.
cc) Schließlich weist der Senat darauf hin, dass die generationenübergreifende Berücksichtigung steuerlich relevanter Tatbestände dem Steuerrecht auch andernorts nicht fremd ist. So bezieht beispielsweise der IX. Senat des BFH den oder die Erben (unentgeltlichen Rechtsnachfolger) in mittlerweile ständiger Rechtsprechung mit ein, wenn es darum geht, im Rahmen des § 2 Abs. 1 i.V.m. § 21 EStG zu prüfen, ob der Steuerpflichtige bei Vermietung oder Verpachtung von Immobilien mit Einkünfteerzielungsabsicht (Überschusserzielungsabsicht) handelt (vgl. BFH-Urteil vom 6. November 2001 IX R 97/00, BFHE 197, 151, BStBl II 2002, 726). Gleichermaßen können Verluste des übertragenden Unternehmens gemäß § 12 Abs. 3 Satz 2 des Umwandlungssteuergesetzes von dem übernehmenden Unternehmen abgezogen werden.
Weitere Beispiele für dieses übergreifende Steuerprinzip finden sich in § 6b EStG für die Anrechnung der Besitzzeiten des Erblassers bei der Bildung von Reinvestitionsrücklagen (vgl. z.B. Jachmann in Kirchhof, a.a.O., 3. Aufl., § 6b Rn. 21), in § 2 des Investitionszulagengesetzes für die Anrechnung der Verbleibensdauer des begünstigten Wirtschaftsgutes im Betriebsvermögen und in § 19 des Umsatzsteuergesetzes für den Verzicht des Erblassers auf die Regelbesteuerung im Jahr des Erbfalls. In vergleichbarer Weise muss sich der Erbe nach § 23 Abs. 1 Satz 3 EStG den bereits verstrichenen Zeitraum vor dem Erbfall bei der Berechnung der sog. Spekulationsfrist i.S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG anrechnen lassen.
Fundstellen
Haufe-Index 1084029 |
BFH/NV 2004, 268 |
BStBl II 2004, 414 |
BFHE 203, 496 |