Leitsatz (amtlich)
Gegen die Rechtmäßigkeit eines Umsatzsteuerbescheides für 1970, bei dem als Einzelfall die durch Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1972 - S 7492 - 5 - VC 4 - getroffene Verwaltungsregelung nicht angewandt worden ist, bestehen ernstliche Zweifel.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3; AO § 131; NATO-ZAbk Art. 67 Abs. 3; NATO-ZAbk-UStDV § 2 (Fassung ab 1. Januar 1968)
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Beschwerdeführerin) betreibt ein Wohnungsbauunternehmen, in dessen Rahmen sie Wohnungen erstellt und vermietet. Für ihre Vermietungsleistungen nimmt sie Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 12 UStG 1967 und - soweit sie an Angehörige der NATO-Stationierungsstreitkräfte vermietet - auch Steuerfreiheit nach Art. 67 Abs. 3 Buchst. a lit. ii des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen - NATO-ZAbk - (BGBl II 1961, 1218, BStBl I 1964, 396) in Anspruch. Im Rahmen vorläufiger Umsatzsteuerveranlagungen für die Jahre 1968 bis 1970 gewährte der Beklagte und Beschwerdegegner (FA) gemäß § 2 der Verordnung zur Durchführung der umsatzsteuerlichen Vorschriften des Zusatzabkommens vom 3. August 1959 zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages vom 19. Juni 1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-ZAbk-UStDV) in der Fassung vom 20. Dezember 1967 (BGBl I 1967, 1296, BStBl I 1968, 159) den Abzug von Vorsteuerbeträgen in Höhe von insgesamt 578 968,98 DM.
Der Senat hat mit Beschluß vom 8. Juli 1971 V B 17/71 (BFHE 102, 333, BStBl II 1971, 650), der auf einen von der Beschwerdeführerin gemäß § 69 Abs. 3 FGO gestellten Antrag wegen der vorläufig festgesetzten Umsatzsteuer 1968 hin ergangen ist, entschieden, daß es ernstlich zweifelhaft sei, ob § 2 NATO-ZAbk-UStDV rechtswirksam ist, soweit er den Abzug der Vorsteuerbeträge auch für sonstige Leistungen gewährt, die nach Art. 67 Abs. 3 NATO-ZAbk steuerfrei sind.
Im Hinblick auf diese Entscheidung haben die Finanzminister der Länder folgende im wesentlichen inhaltlich gleiche, auf einen Beschluß der Umsatzsteuerreferenten des Bundes und der Länder (Sitzung vom 12. bis 14. Januar 1972 zu Punkt 19d der Tagesordnung) zurückgehende Regelung getroffen:
"1. ...
2. Für die Vergangenheit ist der Beschluß des BFH ebenfalls zu berücksichtigen. Nach dem Beschluß hat der Unternehmer die bereits erstattete Vorsteuer, die den steuerfreien sonstigen Leistungen an eine Truppe usw. zuzurechnen ist, an das Finanzamt zurückzuzahlen. Hinsichtlich der vom Finanzamt geforderten Selbstverbrauchsteuer hat der BFH hingegen zum Ausdruck gebracht, daß keine Steuerpflicht eintrete (§ 30 Abs. 3 UStG).
Unter Berücksichtigung dieses Beschlusses soll für die Vergangenheit wie folgt verfahren werden:
a) Bei Unternehmern, die neben ihren steuerfreien sonstigen Leistungen an eine Truppe usw. den Tatbestand des Selbstverbrauchs (§ 30 UStG) erfüllen, verbleibt es grundsätzlich bei dem Beschluß des BFH (kein Vorsteuerabzug und keine Selbstverbrauchsteuerpflicht). Aus Gründen des Vertrauensschutzes soll jedoch ein Vorsteuerabzug insoweit zugelassen werden, als die Vorsteuern den (fiktiven) Betrag der Selbstverbrauchsteuer übersteigen. Bei dieser Berechnung ist jedoch nicht auf die einzelnen Veranlagungszeiträume abzustellen. Vielmehr ist von der Summe der (fiktiven) Selbstverbrauchsteuerbeträge auszugehen, die auf die Zeit vom 1. Januar 1968 bis zum Inkrafttreten der oben angeführten Gesetzesänderung entfallen.
b) Bei Unternehmern, die in der Zeit vom 1. Januar 1968 bis zum Inkrafttreten der oben angeführten gesetzlichen Regelung nicht den Tatbestand des Selbstverbrauchs erfüllen, können Vorsteuern, die den steuerfreien sonstigen Leistungen an eine Truppe usw. zuzurechnen sind, aus Gründen des Vertrauensschutzes in voller Höhe abgezogen werden." (Vgl. auch Umsatzsteuer-Rundschau 1972 S. 176.)
Aufgrund des hier maßgeblichen Erlasses des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1972 - S 7492 - 5 - VC 4 - setzte das FA die Umsatzsteuer 1968 bis 1970 durch Änderungsbescheide wie folgt vorläufig nach § 100 Abs. 2 AO fest:
1968 1969 1970
Umsatzsteuer vor Abzug der Vorsteuer 0 0 0
./. Vorsteuer 0 0 578 968,98 DM
0 0 ./. 578 968,98 DM
+ Selbstverbrauchsteuer 0 0 456 956,56 DM
Umsatzsteuer 0 0 ./. 122 012,42 DM.
Gegen diese Änderungsbescheide legte die Beschwerdeführerin Einspruch ein und beantragte zugleich, ihre Vollziehung auszusetzen. Sie vertrat die Auffassung, daß ihr wegen § 2 NATO-ZAbk-UStDV die zunächst gewährten Beträge von 578 968,98 DM belassen werden müßten. Das FA lehnte die beantragte Aussetzung der Vollziehung ab, wogegen die Beschwerdeführerin Beschwerde erhob. Am 14. Dezember 1972 wies der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen durch Erlaß die nachgeordneten Behörden an, im Hinblick auf die im Senatsbeschluß V B 17/71 zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung die Umsatzsteuer 1968 bis 1970 auf Null DM festzusetzen und eine Aussetzung der Vollziehung der entsprechenden Bescheide abzulehnen. Das FA erklärte daraufhin durch Bescheide die gemäß § 100 Abs. 2 AO vorläufigen Umsatzsteuerbescheide 1968 und 1969 für endgültig. Ferner setzte es durch einen endgültigen berichtigten Umsatzsteuerbescheid 1970 die Umsatzsteuer auf Null DM fest.
Durch Einspruchsentscheidung wurden die gegen die endgültigen Bescheide eingelegten Einsprüche als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beschwerdeführerin hat gegen die endgültigen Umsatzsteuerbescheide 1968 bis 1970 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Gleichzeitig hat die Beschwerdeführerin beantragt, die Vollziehung aus den Umsatzsteuerbescheiden 1968 bis 1970 bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren auszusetzen. Das FG lehnte diesen Antrag ab. Nach seiner Auffassung kann im Hinblick auf den Beschluß des Senates V B 17/71 nicht ernstlich zweifelhaft sein, daß der Beschwerdeführerin ein Vorsteuerabzug nach § 2 NATO-ZAbk-UStDV nicht zusteht. Soweit die Beschwerdeführerin die Gewährung des Vorsteuerabzuges nach § 131 AO aus Gründen des Vertrauensschutzes erstrebt, lehnte das FG eine Berücksichtigung des § 131 AO im Aussetzungsverfahren ab.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde....
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist teilweise begründet.
.....
Im Rahmen der im Aussetzungsverfahren nach § 69 FGO gebotenen nur summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, daß ernstliche Zweifel an der Rechtsgültigkeit des § 2 NATO-ZAbk-UStDV bestehen, soweit er den Abzug von Vorsteuern auch hinsichtlich solcher Vorbezüge gewähren soll, die der Unternehmer zur Ausführung steuerfreier Umsätze im Sinne des Art. 67 Abs. 3 Buchst. a lit. ii NATO-ZAbk verwendet bzw. in Anspruch nimmt. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, die er in seinem Beschluß V B 17/71 dargelegt hat. Die Beschwerdeführerin übersieht bei ihren Ausführungen, daß Art. 67 Abs. 3 Buchst. a lit. ii NATO-ZAbk lediglich die Vereinbarung enthält, daß bei Lieferungen dem Unternehmer die im Umsatzsteuergesetz für den Fall der Ausfuhr vorgesehenen Vergütungen gewährt werden sollen. Eine sich auf sonstige Leistungen beziehende Vereinbarung gleichen Inhalts konnten die Vertragspartner des NATO-ZAbk schon deswegen nicht treffen, weil das damalige Umsatzsteuergesetz (UStG 1951) für sonstige Leistungen an ausländische Auftraggeber eine Beseitigung der umsatzsteuerlichen Vor belastung im Wege eines Vergütungsverfahrens nicht kannte. Aufgrund dieser sachlichen Begrenzung war der Rechtsanwendungsbereich des Art. 67 NATO-ZAbk, was die Verpflichtung und Möglichkeiten einer steuerlichen Entlastung anbetrifft, abgesteckt. Für den zur Durchführung dieser Vertragsbestimmung erlassenen § 9 TruZG 1962 kann nichts anderes gelten.
Die Verwaltung hat aus diesen Gesichtspunkten und den sich daran anknüpfenden möglichen Rechtsfolgen Folgerungen gezogen. Die Umsatrzsteuerreferenten des Bundes und der Länder haben eine Regelung getroffen, die - wie sich aus dem Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1972 ergibt - von den nachgeordneten Dienststellen zu beachten ist. Sie läuft im Ergebnis darauf hinaus, für die Zeit vom 1. Januar 1968 bis zu einer gesetzlichen Bereinigung im Rahmen eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (2. UStÄndG) aus Gründen des Vertrauensschutzes im Billigkeitswege (§ 131 AO) im Prinzip so zu verfahren, als wenn § 2 NATO-ZAbk-UStDV uneingeschränkt rechtsgültig wäre. Es wird daher bei Unternehmern, die sonstige Leistungen im Rahmen des NATO-Zusatzabkommens erbringen, der Vorsteuerabzug voll gewährt. Fallen diese sonstigen Leistungen mit der Verwirklichung des Selbstverbrauchstatbestandes nach § 30 Abs. 2 UStG 1967 zusammen, so wird der Betrag an angefallener Vorsteuer und an (fiktiver) Selbstverbrauchsteuer saldiert. Ergibt der Saldo einen Überschuß an Vorsteuerbeträgen, so wird dieser zum Abzug als Vorsteuer zugelassen. Ist der (fiktive) Selbstverbrauchsteuerbetrag höher, so wird bei der Veranlagung von Null DM Vorsteuern und Null DM Selbstverbrauchsteuer ausgegangen. Die vorstehende Regelung soll nicht für jeden Veranlagungszeitraum getrennt, sondern für den gesamten Zeitraum vom 1. Januar 1968 bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Änderung in der Weise angewendet werden, daß von der Summe der (fiktiven) Selbstverbrauchsteuern - und dementsprechend wohl auch von der Summe der angefallenen Vorsteuern - auszugehen ist.
Das FA hätte diese Verwaltungsregelung, die ihm durch den Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1972 mitgeteilt worden war, auch bei der endgültigen Steuerfestsetzung 1968 bis 1970 beachten müssen. Aufgrund summarischer Prüfung ist der Senat aus folgenden Gründen zu dieser Auffassung gelangt.
Der Senat sieht in dieser Verwaltungsregelung eine zumindest teilweise auf § 131 Abs. 2 AO gestützte Übergangsregelung, die wegen der - hier wahrscheinlich teilweisen - Rechtsungültigkeit einer Vorschrift insbesondere zur Wahrung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung getroffen worden ist (vgl. zuletzt Urteile BFH vom 5. Dezember 1968 IV R 110/68, BFHE 94, 246, BStBl II 1969, 136, und vom 20. August 1970 IV 143/64, BFHE 100, 97, BStBl II 1970, 807). Gegen die Beachtung dieser Verwaltungsregelung durch die Steuergerichte sprechen jedenfalls insoweit keine ernstlichen Bedenken, als es sich um Vorsteuern aus Vorgängen handelt, die bis zur Veröffentlichung des Senatsbeschlusses V B 17/71 abgeschlossen waren bzw. hinsichtlich derer der Unternehmer bindende Dispositionen getroffen hatte. Hier ist zugunsten der Steuerpflichtigen wegen der ihnen aufgrund des NATO-Zusatzabkommens obliegenden besonderen Verpflichtungen (Art. 67 Abs. 3 Buchst. a lit. i letzter Satz - vgl. auch Erlaß des BdF vom 15. Dezember 1969 - IV A/3 - S 7492 - 31/69, Abschn. C Nr. 4, BStBl I 1970, 150) der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zu beachten (vgl. BFH-Urteil IV 143/64). Ob eine generelle Anwendung der Verwaltungsregelung über den Veranlagungszeitraum 1971 hinaus gemäß § 131 Abs. 2 AO zulässig und von den Steuergerichten zu beachten ist, muß als fraglich angesehen werden, zumal die in Aussicht genommene gesetzliche Regelung weder im Rahmen des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (dessen Entwurf - Bundestags-Drucksache VI/2817 - von den gesetzgebenden Körperschaften nicht verabschiedet wurde) noch durch das Steueränderungsgesetz 1973 vom 26. Juni 1973 (BGBl I 1973, 676, BStBl I 1973, 545) verwirklicht worden ist (vgl. BFH-Urteil IV R 110/68). Überdies wird der Zeitraum, zu dem unter Abweichung vom Abschnittsprinzip der §§ 16 und 18 UStG 1967 Billigkeitsmaßnahmen getroffen werden, immer größer. Der Senat braucht diesen Gesichtspunkten im vorliegenden Fall jedoch nicht nachzugehen, da dieser die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 1968 bis 1970 betrifft.
Das FA hat diese Regelung im Rahmen der vorläufigen Bescheide auch bei der Beschwerdeführerin angewendet. Für den Ausschluß der Beschwerdeführerin von dieser Übergangsregelung, der durch die endgültigen Bescheide vollzogen wurde, ist ein sachlicher Grund weder erkennbar noch vom FA dargetan. Die in der zugrunde liegenden Weisung (durch den Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1972) vertretene Auffassung, daß die gänzliche Versagung des Vorsteuerabzuges dem Senatsbeschluß V B 17/71 entspreche, klammert den Erlaß vom 15. Mai 1972 aus der Betrachtung aus, mit dem gerade die sich aus dem vorbezeichneten Senatsbeschluß ergebenden Rechtsfolgen im Wege eines auf § 131 Abs. 2 AO gestützten Billigkeitserlasses zur Wahrung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und aus Gründen des Vertrauensschutzes gemildert werden sollten.
Entgegen der Auffassung des FG ist der Ausschluß der Beschwerdeführerin von einer auf § 131 Abs. 2 AO gestützten Übergangsregelung auch im Rahmen der nach § 69 Abs. 3 FGO vorzunehmenden Überprüfung der angefochtenen Steuerbescheide 1968 bis 1970 zu beachten. Die Vorschrift des § 131 Abs. 2 AO enthält nur die Befugnis, die Voraussetzungen eines Steuererlasses für eine bestimmte Gruppe von gleichgelagerten Fällen durch Richtlinien zu regeln. Die Befugnis zum Erlaß und ihre Ausübung folgt auch in diesen Fällen aus § 131 Abs. 1 AO (vgl. BFH-Urteil vom 9. Februar 1972 II R 99/70, BFHE 105, 172, BStBl II 1972, 503). Von ihr wird in Fällen der vorliegenden Art gemäß der Verwaltungsregelung im Wege des § 131 Abs. 1 Satz 2 AO Gebrauch gemacht. Dies ergibt sich auch aus den vorläufigen Bescheiden. Billigkeitsmaßnahmen im Sinne des § 131 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AO sind nach neuerer Auffassung ein Bestandteil des Steuerfestsetzungsverfahrens (vgl. BFH-Urteil vom 6. Mai 1971 IV R 59/69, BFHE 102, 493, BStBl II 1971, 664). Ihre Nichtvornahme muß, sofern ihre Vornahme durch Richtlinien gemäß § 131 Abs. 2 AO allgemein angeordnet ist, im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens und auch im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO beachtet werden. Es wurde bereits dargetan, daß für die Nichtanwendung der Übergangsregelung keine sachlichen Gründe erkennbar sind.
Fundstellen