Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrufung des Großen Senats des BFH
Leitsatz (NV)
1. Der Große Senat entscheidet in der Besetzung mit den entsandten Mitgliedern der beteiligten Senate darüber, ob ein Anrufungsverfahren wegen Gegenstandslosigkeit erledigt ist.
2. Eine Anrufung des Großen Senats wird gegenstandslos, wenn die vorgelegten Rechtsfragen in einem Parallelverfahren vom Großen Senat entschieden wurden und es einer erneuten Entscheidung nicht bedarf.
Normenkette
FGO § 11
Tatbestand
A. Sachverhalt
I. Vorlagebeschluß
Der I. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat durch Beschluß vom 17. Februar 1982 I B 24/79 (BFHE 135, 78, BStBl II 1982, 295) dem Großen Senat des BFH gemäß § 11 Abs. 3 und 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
,,1. Betreibt eine Publikums-Kommanditgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG schon allein dann einen Gewerbebetrieb i.S. des § 15 des Einkommensteuergesetzes (EStG), § 1 der Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung (GewStDV), wenn die wesentliche Aufgabe der Komplementär-GmbH in der Führung der Geschäfte der KG besteht und diese Kapitalgesellschaft der Personengesellschaft das wirtschaftliche und rechtliche Gepräge gibt?
2. Ist ein Streben nach Gewinn (eine Gewinnabsicht) als eines der Merkmale eines Gewerbebetriebes i.S. des § 15 EStG, § 1 GewStDV dann verwirklicht, wenn sich eine GmbH & Co. KG (u.a.) in der Absicht betätigt, unter Ausnutzung einer günstigen Situation in der Seeschiffahrt für ihre Gesellschafter durch sonstige wirtschaftliche Vorteile (Erstreben von Veräußerungsgewinnen, Inanspruchnahme der Steuervergünstigung des § 82 f. der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV -) einen Gewinn zu erlangen?"
II. Ausgangsverfahren
Der Beschwerde I B 24/79 liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) ist eine GmbH & Co. KG in Liquidation. Sie begehrt in dem Verfahren der einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO im wesentlichen die steuerrechtliche Anerkennung von laufenden Verlusten aus Gewerbebetrieb und von Sonderabschreibungen gemäß § 82 f. EStDV in der für die Streitjahre 1970 bis 1975 maßgebenden Fassung auf zwei Kühlschiffe sowie die einheitliche und gesonderte Feststellung der gesamten Verluste.
Die Antragstellerin machte in Feststellungserklärungen beim Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) entsprechend ihren jährlichen Abschlüssen in den Streitjahren 1970 bis 1975 (Gesamt-)Verluste aus Gewerbebetrieb geltend, in denen laufende Verluste und Sonderabschreibungen nach § 82 f. EStDV enthalten sind.
Das FA lehnte die einheitliche und gesonderte Feststellung der erklärten Verluste durch einen negativen Feststellungsbescheid - vom 6. Dezember 1976 - ab. Über die dagegen eingelegten Einsprüche ist noch nicht entschieden.
Das Finanzgericht (FG) lehnte den Antrag der Antragstellerin auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Verlusten aus Gewerbebetrieb ab. Es folgte in seiner Entscheidung im wesentlichen den Rechtsauffassungen des BFH-Beschlusses vom 10. November 1977 IV B 33-34/76 (BFHE 123, 412, BStBl II 1978, 15) und verneinte das Vorliegen einer Mitunternehmerschaft.
Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Antragsziel weiter.
Der Bundesminister der Finanzen (BMF) ist dem Ausgangsverfahren I B 24/79 - jetzt VIII B 112/79 - beigetreten (§ 122 Abs. 2 FGO).
III. Anrufungsverfahren
Der vorlegende I. Senat hielt die dem Großen Senat vorgelegten Rechtsfragen für seine in Aussicht genommene Entscheidung für entscheidungserheblich. Die Beschwerde mit dem Ziel einer Regelungsanordnung i.S. des § 114 Abs. 1 Satz 1 Satz 2 FGO könne Erfolg haben, wenn die Rechtsfragen zu Nr. 1 und zu Nr. 2 zu bejahen seien.
Während des Anrufungsverfahrens ist durch Änderung der Geschäftsverteilung beim BFH die Zuständigkeit des I. Senats zur Entscheidung über die gesonderte Feststellung von Einkünften aus Gewerbebetrieb für Personengesellschaften - und damit für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens - auf den VIII. Senat des BFH übergegangen - VIII B 112/79 -.
Entscheidungsgründe
B. Entscheidung des Großen Senats
I. Besetzung des Großen Senats
1. Stammbesetzung
Der Große Senat beschließt in seiner Besetzung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 FGO und ohne mündliche Verhandlung (Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFHEntlG -) darüber, welcher Senat berechtigt ist, nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO einen weiteren Richter zu entsenden (BFH-Beschluß vom 25. Juni 1984 GrS 4/82, BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 mit weiteren Nachweisen) - s. unten unter B. II. -.
2. Erweiterte Besetzung
In seiner erweiterten Besetzung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO entscheidet der Große Senat über die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung - s. unten unter B. III. - und über die Erledigung der Anrufung - s. unten unter B. IV. -.
II. Entsendungsberechtigung
1. Entsendungsberechtigt ist der VIII. Senat.
Dieser Senat ist als nach dem Zuständigkeitswechsel nunmehr erkennender Senat berechtigt, einen weiteren Richter zu den Sitzungen des Großen Senats zu entsenden, weil der Große Senat von dem früher erkennenden Senat wegen Grundsätzlichkeit der Rechtsfragen Nrn. 1 und 2 (§ 11 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 FGO) und außerdem wegen Abweichung der beabsichtigten Entscheidung von der Rechtsauffassung eines anderen Senats in der Rechtsfrage Nr. 2 (§ 11 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 FGO) angerufen wurde.
Das Entsendungsrecht des VIII. Senats wäre nicht berührt, wenn die Anrufung Rechtsfragen enthielte, die mit Rechtsfragen in einer vorübergehend gleichzeitig beim Großen Senat anhängigen Vorlage des IV. Senats in dem Verfahren GrS 4/82 inhaltsgleich wären. Zur Begründung wird auf den Beschluß des Großen Senats in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 unter B. IV. 1. verwiesen.
2. Andere Senate sind nicht entsendungsberechtigt.
Ein Entsendungsrecht nach § 11 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 FGO wegen Abweichung der beabsichtigten Entscheidung von der Entscheidung eines anderen Senats besteht für keinen anderen Senat.
Ob die in dem Anrufungsbeschluß zu der Rechtsfrage Nr. 2 angenommene Abweichung von der Entscheidung des IV. Senats in BFHE 123, 412, BStBl II 1978, 15 vorlag, kann offenbleiben, weil aus den Gründen unten unter B. IV. eine Divergenz nicht mehr vorliegen würde.
III. Mündliche Verhandlung
Der Große Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung gemäß Art. 1 Nr. 2 BFHEntlG.
IV. Erledigung des Anrufungsverfahrens
Die Anrufung ist in beiden Rechtsfragen gegenstandslos geworden, weil über diese Rechtsfragen im Beschluß des Großen Senats in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 entschieden wurde und es einer erneuten Entscheidung nicht bedarf.
1. Die Rechtsfragen Nrn. 1 und 2 des Anrufungsbeschlusses sind inhaltsgleich mit den im Beschluß des Großen Senats in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 entschiedenen Rechtsfragen Nrn. 3 und 4.
Die Inhaltsgleichheit der vorgelegten Rechtsfrage Nr. 1 und der im Beschluß in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 entschiedenen Rechtsfrage Nr. 3 ist offenkundig. Beide Rechtsfragen betreffen die Qualifizierung der Einkünfte bei den Gesellschaftern einer Personengesellschaft in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG und die Anwendbarkeit der Gepräge-Rechtsprechung.
Inhaltsgleichheit ist auch bei der vorgelegten Rechtsfrage Nr. 2 und der im Beschluß in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 entschiedenen Rechtsfrage Nr. 4 gegeben. Zwar könnte die vorgelegte Rechtsfrage Nr. 2 in ihrer Formulierung mit dem Klammerzusatz ,,(u.a.)" darauf hindeuten, daß eine Antwort auf die Frage nach dem Vorliegen des Merkmals der Gewinnerzielungsabsicht i.S. des § 1 GewStDV auch dann gegeben werden soll, wenn das Streben nach Steuervergünstigungen nicht der alleinige Zweck der Betätigung einer Personenhandelsgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG ist. Aus den Gründen des Vorlagebeschlusses ist indessen eindeutig erkennbar, daß die Vorlagefrage Nr. 2 nur die Bestimmung des Merkmals der Gewinnerzielungsabsicht bei einer Verlustzuweisungs-KG und damit die Anwendbarkeit der Baupaten-Rechtsprechung betrifft. Aus einer ,,analogen" Anwendung dieser Rechtsprechung wird im Vorlagebeschluß die Möglichkeit abgeleitet, Gewinnerzielungsabsicht bei einer Personengesellschaft in der vorerwähnten Rechtsform auch dann anzunehmen, wenn nur durch die Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen Vermögensmehrungen bei den einzelnen Gesellschaftern erstrebt werden, die in der Minderung von Personensteuern bestehen. Die Vorlagefrage Nr. 2 stimmt somit überein mit der im Beschluß in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 entschiedenen Rechtsfrage Nr. 4, die ebenfalls darauf gerichtet war, ob das bloße Streben nach einer Vermögensmehrung bei den Gesellschaftern durch Minderung der Personensteuern das Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht in § 1 Abs. 1 GewStDV erfüllt.
2. Eine erneute Entscheidung der Rechtsfragen ist nicht geboten. Die Vorlage enthält keine Gesichtspunkte, die im Beschluß in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 unberücksichtigt geblieben wären. Andere Umstände, die eine erläuternde Entscheidung gebieten könnten, sind nicht ersichtlich.
An die Stelle des ursprünglich erkennenden (I.) Senats ist inzwischen der VIII. Senat getreten. In dem Anrufungsbeschluß hatte der I. Senat in beiden Vorlagefragen den Standpunkt der früheren Rechtsprechung vertreten, der vom Großen Senat aber im Beschluß in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 nicht bestätigt wurde. Der VIII. Senat hat daraufhin keine Erklärung des Inhalts abgegeben, daß er ungeachtet der Entscheidung in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 auf einer sachlichen Entscheidung des Großen Senats in dem vorliegenden Anrufungsverfahren bestehe. Sein Stillschweigen ist dahin zu deuten, daß der VIII. Senat sich an die Entscheidung in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 gebunden sieht und das Anrufungsverfahren als durch diese Entscheidung sachlich erledigt betrachtet.
In einem solchen Falle hat der Große Senat die Befugnis, von sich aus festzustellen, daß mit der Entscheidung in BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751 das vorliegende Anrufungsverfahren gegenstandslos geworden ist. Bedenken gegen eine solche Entscheidung bestehen bei der gesetzlichen Regelung des Vorlageverfahrens nicht. Außer der Vorschrift des § 11 FGO enthält die FGO keine weiteren Regeln über das Verfahren vor dem Großen Senat. Daher bestimmt der Große Senat sein Verfahren nach den Grundsätzen der Prozeßökonomie und dem gesetzgeberischen Zweck, der dem Anrufungsverfahren zugrunde liegt. Die gleichen Überlegungen haben den Großen Senat des Bundessozialgerichts in einer verfahrensähnlichen Lage zum Ausspruch der Erledigung des Vorlageverfahrens veranlaßt (Beschluß vom 15. Dezember 1982 GS 2/80, BSGE 54, 223).
Fundstellen
Haufe-Index 61106 |
BFH/NV 1986, 103 |
BStBl II 1985, 711 |
BFHE 144, 325 |
BFHE 1986, 325 |