Leitsatz (amtlich)
1. Im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung verdrängt § 69 Abs.3 FGO die allgemeinen Vorschriften über die Klagearten nicht.
2. Für ein Klageverfahren über die Aussetzung der Vollziehung fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil dem Steuerpflichtigen die Antragsmöglichkeit nach § 69 Abs.3 FGO eröffnet ist.
Orientierungssatz
1. Im Beschwerdeverfahren ist der BFH auch Tatsacheninstanz mit der Möglichkeit, neues tatsächliches Vorbringen zu berücksichtigen (BFH-Beschluß vom 19.4.1968 IV B 3/66); im Revisionsverfahren ist er dagegen an die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen grundsätzlich gebunden.
2. Der Große Senat entscheidet in seiner Stammbesetzung --und ohne mündliche Verhandlung--, welchen Senaten das Recht zur Entsendung eines weiteren Richters zusteht (vgl. BFH-Beschluß vom 10.11.1980 GrS 1/79).
3. Der vorlegende Senat weicht mit seiner beabsichtigten Entscheidung auch dann in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats ab, wenn die Auffassung des zuerst entscheidenden (anderen) Senats lediglich "ein Baustein" seiner Entscheidung war, der sich indessen als unerläßliches Glied in der Gedankenkette seiner Entscheidung erweist (vgl. BFH-Beschluß vom 10.11.1980 GrS 1/79).
4. Nach Art. 1 Nr. 2 BFHEntlG kann der Große Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden; es steht in seinem Ermessen, ob er eine mündliche Verhandlung anberaumt (BFH-Beschluß vom 30.11.1981 GrS 1/80).
5. Das Unterlassen der Anfrage gemäß § 2 Abs. 2 GO-BFH bei den Senaten, die eine abweichende Rechtsauffassung vertreten haben, macht die Vorlage an den Großen Senat nicht unzulässig. Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 FGO sind erfüllt, solange nicht sämtliche Senate mit abweichender Auffassung der beabsichtigten Abweichung zugestimmt haben (BFH-Beschluß vom 21.1.1985 GrS 1/83).
6. Nach dem Beschluß des Großen Senats vom 18.1.1971 GrS 4/70 ist eine erneute Vorlage derselben Rechtsfrage an ihn nur zulässig, falls in der Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnten, und/oder neue Rechtserkenntnisse eine andere Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen könnten. Die Anrufung begegnet auch dann keinen Bedenken, wenn die ursprüngliche Entscheidung schon lange zurückliegt und an ihr ständige gewichtige Kritik geübt worden ist. Ob der Große Senat an dieser Auffassung heute noch festhalten könnte, bedurfte keiner Entscheidung, weil jedenfalls die letztgenannten Voraussetzungen für eine erneute Vorlage erfüllt waren.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2, § 11 Abs. 3, § 69 Abs. 3, § 11 Abs. 2 S. 1, § 40 Abs. 1, § 118 Abs. 2, § 40 Abs. 2; VwGO § 80 Abs. 4-5; BFHEntlG Art. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
A. Sachverhalt, Anrufungsbeschluß des I.Senats und Stellungnahme der Beteiligten
I. Der I.Senat des Bundesfinanzhofs --BFH-- (der vorlegende Senat) hat mit Beschluß vom 28.März 1984 I R 77/83 (BFHE 141, 1, BStBl II 1984, 562, jeweils nur Leitsätze) nach § 11 Abs.3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfragen dem Großen Senat des BFH zur Entscheidung vorgelegt:
"1. Verdrängt im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung § 69 Abs.3 der Finanzgerichtsordnung als spezialgesetzliche Regelung die allgemeinen Vorschriften über die Klagearten?
2. Besteht für ein Klageverfahren über die Aussetzung der Vollziehung ein Rechtsschutzbedürfnis (falls Frage 1 verneint wird)?"
II. Der Revision, über die der I.Senat zu entscheiden hat, liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, hat gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1980 Klage erhoben; über diese hat das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden.
Einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Körperschaftsteuerbescheids 1980 lehnte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) ab. Die Beschwerde blieb erfolglos. Die hiergegen gerichtete Klage führte zur Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen. Das FG ordnete die Aufhebung der Vollziehung an; es ließ wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision zu.
Mit seiner Revision beantragte das FA, die Entscheidung des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin trat dem Revisionsantrag entgegen.
III. Der I.Senat beabsichtigt, der Revision des FA stattzugeben, weil die Klage unzulässig sei. Er führt dazu aus: Das vorliegende Klageverfahren werde durch das Antragsverfahren gemäß § 69 Abs.3 FGO verdrängt. Zwar sei der Große Senat des BFH im Beschluß vom 4.Dezember 1967 GrS 4/67 (BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199) insoweit anderer Auffassung gewesen. An der jener Entscheidung zugrunde liegenden Meinung könne aber nicht mehr festgehalten werden. Der Große Senat habe der Formulierung des § 69 Abs.3 Satz 1 FGO, in den --anders als in § 80 Abs.5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)-- das Wort "auch" eingefügt ist, besondere Bedeutung beigemessen. Dem werde jedoch im Schrifttum und vom FG München (Urteil vom 24.Juni 1981 III 198/80 AO, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1981, 579) mit beachtlichen Gründen widersprochen. Das Wort "auch" in jener Vorschrift sei lediglich als Verbindung zu der im vorhergehenden Absatz 2 genannten Befugnis der Finanzbehörde, die Vollziehung auszusetzen, zu verstehen. Etwas anderes sei aus der Regierungsbegründung zum Entwurf der FGO nicht zu folgern.
Zumindest fehle der Klage das Rechtsschutzbedürfnis. Bei Konkurrenz mehrerer zulässiger Verfahrensarten sei der Verfahrensführer gehalten, den Weg zu wählen, der kürzer, billiger und einfacher sei. Ansonsten sei sein Rechtsschutzbegehren unzulässig. Der Rechtsschutz gemäß § 69 Abs.3 FGO sei weitergehend. Zum einen führe er schneller zu einer gerichtlichen Entscheidung. Zum anderen bestünden Unklarheiten bei der Frage des Nacheinander von Antrags- und Klageverfahren. Die durch die Zulassung des Klageverfahrens bewirkte Trennung der Zuständigkeit des Gerichts der Hauptsache (§ 69 Abs.3 Satz 1 FGO) von der Zuständigkeit des Gerichts, das über die Aussetzung der Vollziehung entscheidet, führe zu kaum mehr verständlichen Verfahrenslagen. Das Klageverfahren könne auch nicht damit gerechtfertigt werden, daß hierin eine Entscheidung des BFH rechtlich eher möglich sei als im Antragsverfahren. Denn ein Bedürfnis, im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung eine Entscheidung des BFH zu erreichen, könne grundsätzlich nur anerkannt werden, wenn die Hauptsache bereits an den BFH gelangt sei.
Mit dieser Rechtsauffassung setze er, der I.Senat, sich in Widerspruch zu der Entscheidung des Großen Senats in BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199. Da diese mehr als 16 Jahre zurückliege und an ihr gewichtige Kritik geübt worden sei, sei die Vorlage zulässig. Von der in § 2 Abs.2 Satz 1 der Geschäftsordnung des BFH (GO-BFH) vorgesehenen Anfrage bei den anderen Senaten sei abgesehen worden, weil diese nicht hätten zustimmen können, ohne damit ihrerseits von der zuletzt bezeichneten Entscheidung des Großen Senats abzuweichen.
IV. Das FA hat sich zum Vorlagebeschluß nicht geäußert.
Die Klägerin führt im Verfahren vor dem Großen Senat aus: Die Zulässigkeit der Anrufung des Großen Senats sei zweifelhaft, weil der Große Senat die streitige Rechtsfrage bereits entschieden habe und neue rechtliche Gesichtspunkte nicht aufgetreten seien. Solche kämen auch nicht im Anrufungsbeschluß zum Ausdruck. Sie, die Klägerin, habe auf die bisherige Rechtsprechung des Großen Senats vertraut. Es wäre für sie unverständlich, wenn ihre Klage nun als unzulässig angesehen und damit kostenpflichtig verworfen würde.
Die Entscheidung in der vorgelegten Rechtsfrage sei dem Gesetzgeber zu überlassen. Es sei dem Richter nicht erlaubt, seinen rechtspolitischen Willen an die Stelle desjenigen des Gesetzgebers zu setzen.
Entscheidungsgründe
B. Entscheidung des Großen Senats zu den Verfahrensfragen
I. Entsendungsberechtigung
Der Große Senat entscheidet in seiner Stammbesetzung (§ 11 Abs.2 Satz 1 FGO; BFH-Beschluß vom 10.November 1980 GrS 1/79, BFHE 132, 244, BStBl II 1981, 164, m.w.N.) --und ohne mündliche Verhandlung (Art.1 Nr.2 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs --BFHEntlG--)--, welchen Senaten das Recht zur Entsendung eines weiteren Richters zusteht.
Dieses Recht haben der vorlegende I.Senat sowie die Senate II, III, IV, VII und VIII, von deren Entscheidungen der I.Senat mit seiner Rechtsauffassung abweichen würde.
1. Der I.Senat ist als vorlegender Senat berechtigt, einen weiteren Richter zu entsenden (§ 11 Abs.2 Satz 2 FGO).
2. Da der I.Senat mit der von ihm beabsichtigten Entscheidung auch von Entscheidungen weiterer Senate abweicht, steht diesen ein Entsendungsrecht zu (BFH-Beschluß vom 30.November 1981 GrS 1/80, BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217, unter B. I. 2.).
a) Der I.Senat würde mit der von ihm beabsichtigten Entscheidung von dem nicht veröffentlichten (nv) Urteil des II.Senats vom 5.November 1980 II R 68/78 abweichen.
Im Urteilsfall II R 68/78 hat der II.Senat der Revision der Antragstellerin gegen ein Urteil des FG, mit dem die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt worden war, stattgegeben, obwohl in der Hauptsache beim II.Senat ebenfalls eine Revision anhängig, der BFH also auch "Gericht der Hauptsache" i.S. von § 69 Abs.3 FGO war. Damit hat der II.Senat --konkludent-- zum Ausdruck gebracht, daß neben der Antragsmöglichkeit gemäß § 69 Abs.3 FGO das Klageverfahren gegen eine ablehnende Beschwerdeentscheidung zulässig ist. Andernfalls hätte der II.Senat die Revision --wegen Unzulässigkeit der Klage-- als unbegründet zurückweisen müssen.
Allerdings hat der II.Senat im Urteil II R 68/78 nicht ausdrücklich die Zweigleisigkeit von Antrags- und Klageverfahren bejaht. Dies wird für die Annahme einer Divergenz indessen auch nicht vorausgesetzt. Entscheidend ist lediglich, daß der I.Senat mit seiner beabsichtigten Entscheidung "in einer Rechtsfrage" vom II.Senat abweicht. Das ist jedenfalls auch dann der Fall, wenn die Auffassung des zuerst entscheidenden (II.) Senats lediglich "ein Baustein" (vgl. hierzu BFH in BFHE 132, 244, BStBl II 1981, 164 unter B. I., letzter Absatz) seiner Entscheidung war, der sich indessen als unerläßliches Glied in der Gedankenkette seiner Entscheidung erweist. In einem solchen Fall, in dem die Entscheidung des zuerst entscheidenden Senats ohne diesen --wenn auch nicht ausdrücklich angesprochenen-- Baustein sonst so nicht verständlich wäre, hat der zuerst entscheidende Senat die Rechtsfrage mitentschieden, die das unerläßliche Glied einer schlüssigen Gedankenkette bildet.
b) Die vom I.Senat beabsichtigte Entscheidung würde auch von dem nv-Urteil des III.Senats vom 1.Oktober 1976 III R 131/75 abweichen.
Der III.Senat ging in diesem Verfahren, in dem bei ihm die Revision auch in der Hauptsache anhängig war, von der Zweigleisigkeit aus. Denn er führte unter 3. seines Urteils aus, daß er zwar Gericht der Hauptsache sei; ihm sei aber eine Entscheidung in der Aussetzungssache verwehrt, "weil der Kläger die Aussetzung im Urteilsverfahren (vgl. BFH-Entscheidung GrS 4/67) erreichen will".
c) Der IV.Senat hat in Kenntnis des Vorlagebeschlusses des I.Senats im nv-Urteil vom 5.Juli 1984 IV R 42/80 unter II. ausgeführt, er gehe von der Zulässigkeit des Klageverfahrens aus; der Kläger habe die Wahl, ob er Klage gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung des FG erheben oder den Antrag nach § 69 Abs.3 FGO stellen wolle. Im gleichen Sinn hat sich der IV.Senat bereits im Urteil vom 9.Februar 1978 IV R 85/77 (BFHE 126, 142, BStBl II 1979, 111) geäußert.
d) Der VII.Senat hat ebenfalls --anders als der I.Senat im Vorlagebeschluß-- die Zulässigkeit der Klage bejaht, auch wenn der Aussetzungsantrag bei Gericht gestellt werden könnte (Urteil vom 12.Oktober 1982 VII R 84/82, BFHE 136, 523, BStBl II 1983, 49).
e) Der VIII.Senat hielt im nv-Beschluß vom 27.Juni 1978 VIII S 7/77 einen Aussetzungsantrag für unzulässig, weil der Antragsteller schon die Klage gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörden betrieben habe. Der VIII.Senat hat folglich mit den seine Entscheidung tragenden Gründen die Zulässigkeit des Klageverfahrens bejaht.
II. Zu den weiteren Verfahrensfragen
In seiner erweiterten Besetzung entscheidet der Große Senat über die weiteren Verfahrensfragen (vgl. BFH-Beschluß vom 29.November 1982 GrS 1/81, BFHE 137, 433, BStBl II 1983, 272, m.w.N., unter B. II.).
1. Eine mündliche Verhandlung ist nicht erforderlich.
Nach Art.1 Nr.2 BFHEntlG kann der Große Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden; es steht in seinem Ermessen, ob er eine mündliche Verhandlung anberaumt (BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217, unter B. II. 1.). Im vorliegenden Fall sind alle Gesichtspunkte bereits schriftlich vorgetragen. Eine mündliche Verhandlung erscheint deshalb nicht erforderlich, zumal kein Verfahrensbeteiligter einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
2. Die nach § 2 Abs.2 GO-BFH vorgesehene Anfrage bei anderen Senaten, ob sie der beabsichtigten Entscheidung zustimmen, war nicht erforderlich.
Die Vorlage des I.Senates ist zulässig. Die Voraussetzungen des § 11 Abs.3 FGO sind erfüllt.
Das Unterlassen der Anfrage gemäß § 2 Abs.2 GO-BFH bei den Senaten, die eine abweichende Rechtsauffassung vertreten haben, macht die Vorlage nicht unzulässig. Die Voraussetzungen des § 11 Abs.3 FGO sind erfüllt, solange nicht sämtliche Senate mit abweichender Auffassung der beabsichtigten Abweichung zugestimmt haben.
Von dieser Rechtsauffassung ist der Große Senat auch in seinem Beschluß vom 21.Januar 1985 GrS 1/83 (BFHE 143, 112, BStBl II 1985, 303) ausgegangen. Sonst hätte er dort die unterlassenen Anfragen nicht selbst nachholen können.
Eine Nachholung des Anfrageverfahrens durch den Großen Senat ist nicht erforderlich. Selbst die Zustimmung aller anderen Senate i.S. des § 11 Abs.3 FGO würde die Vorlage nicht erledigen, weil es bei der beabsichtigten Abweichung vom Großen Senat bliebe.
3. Die Vorlage ist auch nicht unzulässig, weil der Große Senat die aufgeworfene Rechtsfrage bereits entschieden hat.
Nach der Rechtsprechung des Großen Senats ist eine erneute Vorlage derselben Rechtsfrage an ihn nur zulässig, falls in der Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnten, und/oder neue Rechtserkenntnisse eine andere Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen könnten (vgl. BFH-Beschluß vom 18.Januar 1971 GrS 4/70, BFHE 101, 13, BStBl II 1971, 207). Die Anrufung begegnet nach diesem Beschluß auch dann keinen Bedenken, wenn die ursprüngliche Entscheidung schon lange zurückliegt und an ihr ständige gewichtige Kritik geübt worden ist. Es bedarf keiner Entscheidung, ob der Große Senat an dieser Auffassung heute noch festhalten könnte. Jedenfalls sind die letztgenannten Voraussetzungen für eine erneute Vorlage erfüllt.
Die Entscheidung des Großen Senats, mit der die Zweigleisigkeit von Antrags- und Klageverfahren für die Aussetzung der Vollziehung anerkannt wurde (BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199), lag zum Zeitpunkt des Anrufungsbeschlusses I R 77/83 über 16 Jahre zurück. In der Zwischenzeit sind das BFHEntlG und das Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) erlassen worden. Auch wurde der Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung (VwPO) in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Dadurch könnten neue Gesichtspunkte gegen die Zweigleisigkeit zutage getreten sein (worauf später zurückzukommen ist).
Insbesondere ist die Zweigleisigkeit ständig kritisiert worden. So haben das FG München mit rechtskräftigem Urteil in EFG 1981, 579 und das FG Düsseldorf mit Urteil vom 3.März 1982 IV 154/81 KA (SZ), veröffentlicht in EFG 1982, 524 (aufgehoben durch Beschluß in BFHE 136, 523, BStBl II 1983, 49) die Aussetzungsklage als unzulässig beurteilt, wenn ein Antrag gemäß § 69 Abs. 3 FGO gestellt werden kann. Auch im Schrifttum haben sich gegen die Zweigleisigkeit zahlreiche Autoren ausgesprochen (vgl. u.a. Papier, Steuer und Wirtschaft --StuW-- 1978, 332, 334 ff.; Kraft, Steuerrechtsprechung in Karteiform --StRK--, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 47; Schenke, Betriebs- Berater --BB-- 1969, 218, 222; Dietz, Die Voraussetzungen der gerichtlichen Vollziehungsaussetzung nach § 69 FGO, Dissertation, München 1971, 159 - 163).
4. Die vorgelegten Rechtsfragen sind für die Entscheidung des I.Senats erheblich. Würde der Große Senat die Rechtsfrage zu 1. verneinen und diejenige zu 2. bejahen, wäre der I.Senat gehindert, der Revision deshalb stattzugeben, weil die Klage unzulässig sei. Er müßte vielmehr in eine sachlich-rechtliche Prüfung der Revision eintreten.
C. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegten Rechtsfragen
Der Große Senat verneint die Rechtsfrage zu 1. und bejaht diejenige zu 2.
I. Bisherige Rechtsprechung und Schrifttum
1. In seinem Beschluß in BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199 hat der Große Senat des BFH entschieden, daß ein Steuerpflichtiger, der die Aussetzung der Vollziehung eines vollziehbaren Verwaltungsakts erstrebt, die Wahl hat, ob er gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) Klage beim FG erheben oder den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung unmittelbar beim FG der Hauptsache stellen will. Der Große Senat leitete dieses Ergebnis vor allem aus dem Wort "auch" in § 69 Abs.3 FGO ab. Diese Vorschrift sei keine lex specialis im Verhältnis zu § 69 Abs.2 FGO. Zwar seien das Klage- und das Antragsverfahren auf dasselbe Ziel gerichtet. Die Entscheidungen des FG ergingen aber in unterschiedlicher Form und Besetzung. Das Urteil sei mit der Revision, der Beschluß mit der Beschwerde anfechtbar, wobei der BFH über diese Rechtsmittel ebenfalls in unterschiedlicher Besetzung entscheide. Vor allem könnten Beschlüsse des Gerichts gemäß § 69 Abs.3 FGO jederzeit geändert werden, was bei Urteilen des FG oder des BFH (auch in Aussetzungssachen) hingegen nicht möglich sei. Allerdings seien beide Verfahrensmöglichkeiten nicht nebeneinander gegeben. Habe der Steuerpflichtige eines der beiden gerichtlichen Verfahren gewählt, sei die Einleitung des anderen unzulässig. Von dieser Entscheidung des Großen Senats ging die Rechtsprechung des BFH in der Folgezeit aus (siehe B. I. 2.).
2. Wie unter B. II. 3. ausgeführt, sind die FG München und Düsseldorf der Auffassung des BFH nicht gefolgt. Auch in dem unter B. II. 3. angegebenen Schrifttum ist an der Rechtsprechung des BFH Kritik geübt worden. Dabei wird das vom BFH gefundene Ergebnis vor allem rechtspolitisch als unerwünscht angesehen.
II. Entscheidung
Der Große Senat kann bei der gegebenen Gesetzeslage nicht in dem vom I.Senat beabsichtigten Sinn entscheiden, obwohl im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, das ein summarisches Verfahren ist, die derzeitige Gesetzeslage zu einem Überangebot an Rechtsschutz führt.
1. Die Regelung des § 69 Abs.3 FGO verdrängt nicht die allgemeinen Vorschriften über die Klagearten. Dies ergibt sich in erster Linie aus einem Vergleich des Wortlauts des § 80 Abs.5 VwGO mit dem des § 69 Abs.3 FGO sowie aus der der FGO innewohnenden Systematik.
Das gerichtliche Beschlußverfahren des § 80 Abs.5 VwGO wird als spezielle und abschließende Regelung des auf Aussetzung der Vollziehung zielenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes angesehen. Nach Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung durch die Widerspruchsbehörde gemäß § 80 Abs.4 VwGO ist also nicht etwa eine Verpflichtungs- oder Bescheidungsklage entsprechend § 40 Abs.1 FGO, sondern nur der Antrag an das Gericht der Hauptsache nach § 80 Abs.5 VwGO zulässig (vgl. z.B. Schenke, a.a.O., S.222; Papier, a.a.O., S.334 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Finkelnburg, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 2.Aufl., S.181 Tz.453 mit Hinweisen auf die Verwaltungsrechtsprechung).
Anders als in § 80 Abs.5 VwGO ist in § 69 Abs.3 FGO indessen das Wort "auch" eingefügt worden. Dies könnte zwar, wie der vorlegende Senat meint, lediglich als sprachliche Verbindung zu der im vorhergehenden Absatz 2 genannten Befugnis der Finanzbehörde zu verstehen sein. Da die FGO weitgehend der VwGO nachgebildet worden ist und da kein Bedürfnis bestanden hat, das "auch" einzufügen, ohne diesem Wort eine besondere Bedeutung beizulegen, hält der Große Senat seine frühere Auslegung des § 69 Abs.3 FGO im Beschluß in BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199, daß die beiden Verfahren nebeneinander ("auch") möglich sein sollen, nach wie vor für gerechtfertigt.
Auch die der FGO innewohnende Systematik (vgl. hierzu schon BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199 unter 1.) spricht für diese Auslegung. Grundsätzlich kann gegen jeden Verwaltungsakt Klage erhoben werden, wenn der Kläger geltend macht, dadurch in seinen Rechten verletzt zu sein (§ 40 Abs.1 und 2 FGO). Da die FGO hiervon keine ausdrückliche Ausnahme für den Fall vorsieht, daß die Finanzbehörde einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht (voll) stattgibt, ist auch insoweit eine (Anfechtungs-) Klage zulässig. Der Ausschluß einer Klage gegen eine ablehnende Entscheidung der Finanzbehörde hätte im Hinblick auf dieses Klagesystem zweifelsfrei zum Ausdruck kommen müssen (BFHE 136, 523, BStBl II 1983, 49). In § 69 Abs.3 FGO kann ein solcher Ausschluß schon deswegen nicht gesehen werden, weil die Vorschrift keinen Rechtsbehelf gegen eine Verwaltungsentscheidung einräumt, sondern das originäre Recht, Aussetzung "auch" bei Gericht zu beantragen.
Die Begründung des Entwurfs zur FGO (BTDrucks IV/1446 zu § 65 --später § 69-- Abs.3 FGO, S.35 ff., 51) bestätigt diese Auffassung. Danach sollte --wie für das Recht vor Inkrafttreten der FGO-- die Abweisung eines Aussetzungsantrags durch die Finanzbehörde "durch Beschwerde und Klage selbständig anfechtbar" sein. Die Neuerung --Antragsmöglichkeit bei Gericht-- ist vorgeschlagen worden, weil es nicht ausreichend erschien, den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen im Fall einer abweisenden Verwaltungsentscheidung auf die Möglichkeit der Anfechtung der Abweisung --also Erhebung der Klage-- zu "beschränken". Wenn der Rechtsschutz insoweit nicht auf die Klageerhebung beschränkt (eingeschränkt) werden sollte, mußte daneben --nicht "an Stelle", wie es der vorlegende Senat für möglich hält-- ein weiteres Verfahren, nämlich das der Antragstellung bei Gericht, eröffnet werden.
Der Große Senat braucht im vorliegenden Verfahren nicht den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen, weil er die unterschiedliche Auslegung des § 69 Abs.3 FGO gegenüber § 80 Abs.5 VwGO u.a. aus dem unterschiedlichen Wortlaut der Vorschriften ableitet; die Einheit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes kann nicht verletzt sein, wenn durch unterschiedliche Gesetzesfassungen eine Rechtsfrage verschieden geregelt ist.
2. Für die Zweigleisigkeit spricht auch die unterschiedliche Gestaltung der beiden Verfahren, die im Ergebnis verschiedenartige Rechte und Möglichkeiten eröffnen. Es soll erkennbar dem Steuerpflichtigen überlassen bleiben, das --aus seiner Sicht-- jeweils günstigere (schnellere, sicherere, billigere) Verfahren zu wählen.
a) Beim Antragsverfahren gemäß § 69 Abs.3 FGO entscheidet das FG ohne die ehrenamtlichen Richter durch Beschluß; im Klageverfahren gegen eine ablehnende Verwaltungsentscheidung haben dagegen die ehrenamtlichen Richter mitzuwirken. Im Falle der Beschwerde gegen einen Beschluß des FG entscheidet der BFH ebenfalls nur in der Besetzung mit drei Richtern durch Beschluß. Dasselbe gilt, wenn der Antrag gemäß § 69 Abs.3 FGO unmittelbar beim BFH gestellt wird. Dagegen hat der BFH im Anschluß an eine Aussetzungsklage in der Besetzung von fünf Richtern über eine Revision zu befinden.
b) Im Beschwerdeverfahren ist der BFH auch Tatsacheninstanz mit der Möglichkeit, neues tatsächliches Vorbringen zu berücksichtigen (BFH-Beschluß vom 19.April 1968 IV B 3/66, BFHE 92, 314, BStBl II 1968, 538 unter B. II.); im Revisionsverfahren ist er dagegen an die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen grundsätzlich gebunden (§ 118 Abs.2 FGO).
c) Im Klageverfahren erhält der Steuerpflichtige eine Entscheidung des Senats des FG oder im Wege der Revision des BFH, die als Urteil in Rechtskraft erwächst, während Beschlüsse im Antragsverfahren gemäß § 69 Abs.3 Satz 5 FGO "jederzeit geändert oder aufgehoben werden" können.
d) Diese Unterschiede waren dem Gesetzgeber durch den Beschluß in BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199 bekannt, als er das BFHEntlG erstmals verabschiedete und später wiederholt verlängerte. Nach Art.1 Nr.3 BFHEntlG ist eine Beschwerde gegen einen Beschluß des FG nach § 69 Abs.3 FGO nur dann statthaft, wenn sie in dem Beschluß zugelassen worden ist. Der Gesetzgeber hat diese Rechtsmittelbefugnis also gegenüber dem früheren Rechtszustand eingeschränkt. Hätte er dasselbe auch für die Aussetzungsklage erreichen wollen, hätte er insoweit die nach dem bezeichneten Beschluß zulässige Revision und auch die Zweigleisigkeit überhaupt ausschließen müssen. Wenn er dies gleichwohl nicht getan hat, hat er die Zweigleisigkeit nicht nur bestehen lassen, sondern die Unterschiedlichkeit beider Verfahren --durch unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen zum BFH-- sogar noch verstärkt.
Auch in Art.3 § 7 VGFGEntlG hat der Gesetzgeber nur zum Ausdruck gebracht, daß die Finanzgerichte insoweit entlastet werden müßten, als einem Antrag gemäß § 69 Abs.3 FGO bereits eine ablehnende Entscheidung der Finanzbehörde vorausgegangen sein müsse. Der Gesetzgeber hat dagegen nicht auch die Klage gegen eine ablehnende Entscheidung der Finanzbehörde ausgeschlossen, was nahegelegen hätte, wenn er dieses Verfahren entgegen der seitherigen Rechtspraxis nicht mehr hätte zulassen wollen.
e) Ferner kann einem Steuerpflichtigen daran liegen, eine Verwaltungsentscheidung ausdrücklich beseitigt zu bekommen und nicht auf ein neues Antragsverfahren verwiesen zu werden. Dies gilt nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Kosten und Kostenerstattungsmöglichkeiten.
f) Schließlich ist der Rechtsschutz im Klageverfahren aus der Sicht des Steuerpflichtigen deshalb weitergehend, weil er insoweit --anders als im Antragsverfahren-- die Möglichkeit hat, dem Gericht seine Auffassung in einer mündlichen Verhandlung vorzutragen und näher zu erläutern (§ 90 Abs.1 FGO).
g) Damit ist der Klageweg nicht kraft spezialgesetzlicher Regelung (§ 69 Abs.3 FGO) ausgeschlossen; es handelt sich insofern vielmehr mit Rücksicht auf die anderen Ausgestaltungen und Folgen gegenüber dem Antragsverfahren um ein aliud.
3. Für das Klageverfahren fehlt, was sich aus den vorstehenden Ausführungen unter C. II. 2. bereits ergibt, auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Der Große Senat braucht nicht zu entscheiden, ob --wie der vorlegende Senat ausführt-- im Falle der Konkurrenz mehrerer zulässiger Verfahrensarten der Verfahrensführer gehalten ist, den Weg zu wählen, der bei im wesentlichen gleichem Ergebnis kürzer, billiger und vor allem einfacher (zweckmäßiger) ist. Denn jedenfalls sind diese Voraussetzungen hier nicht gegeben.
Wie sich aus den Ausführungen unter C. II. 2. a) bis f) ergibt, unterscheiden sich das Antrags- und das Klageverfahren in zahlreichen Punkten; sie führen deshalb auch nicht in jeder Beziehung zu dem gleichen Ergebnis. Hat der Steuerpflichtige in dem einen oder anderen Verfahren aus seiner Sicht weitergehende oder ihm günstiger erscheinende Rechte, kann ihm ein Rechtsschutzbedürfnis, diese Rechte auch wahrzunehmen, nicht abgesprochen werden.
Rechtliche Zweifelsfragen, die sich aus dem Nebeneinander von Antrags- und Klageverfahren ergeben, konnten bisher schon gelöst werden; dies wird auch in Zukunft möglich sein. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, die dem Steuerpflichtigen vom Gesetz eingeräumten Rechtsschutzmöglichkeiten einzuschränken.
4. Der Große Senat verkennt nicht, daß die vom vorlegenden Senat vorgesehene Lösung rechtspolitisch wünschenswert ist; es ist kaum verständlich, daß im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mehrere gerichtliche Instanzen in Anspruch genommen werden können, und das noch dazu auf verschiedenen Wegen. Da der Gesetzgeber jedoch mit dem BFHEntlG auch die Beschwerde im Falle der einstweiligen Anordnung --anders als bei der Aussetzung der Vollziehung-- und --wie dargelegt-- mit dem BFHEntlG und dem VGFGEntlG das Klageverfahren in Fällen der Aussetzung der Vollziehung nicht ausgeschlossen hat, muß davon ausgegangen werden, daß das Rechtsschutzsystem zwar insoweit nicht "lupenrein" und voll zu Ende gedacht ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 69 FGO Tz.10 S.36), die Gerichte aber nicht zur Verminderung des den Steuerpflichtigen gesetzlich eingeräumten Rechtsschutzes befugt sind.
III. Der Große Senat entscheidet die vorgelegte Rechtsfrage demnach wie folgt:
1. Im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung verdrängt § 69 Abs.3 FGO die allgemeinen Vorschriften über die Klagearten nicht.
2. Für ein Klageverfahren über die Aussetzung der Vollziehung fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil dem Steuerpflichtigen die Antragsmöglichkeit nach § 69 Abs.3 FGO eröffnet ist.
Fundstellen
Haufe-Index 60752 |
BStBl II 1985, 587 |
BFHE 144, 124 |
BFHE 1986, 124 |
BB 1985, 1841-1843 (ST) |
DB 1985, 2232-2232 (ST) |
DStR 1985, 667-667 (S) |
HFR 1986, 567-568 (ST) |