Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung rechtlichen Gehörs bei Zweifeln an der Prozeßvollmacht; Zustellung eines Gerichtsbescheids auch an den Vertretenen
Leitsatz (NV)
1. Das Gericht ist verpflichtet, berechtigten Zweifeln daran, daß sich eine Prozeßvollmacht auf ein konkretes Verfahren bezieht, von Amts wegen nachzugehen. Zur Beseitigung solcher Zweifel kann es veranlassen, daß Schriftstücke auch an den Vertretenen zugestellt werden. Eine solche Verfahrensweise begründet keinen absoluten Revisionsgrund i. S. der § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4 FGO.
2. Zweifel der vorgenannten Art können auch dadurch begründet werden, daß eine allgemein gehaltene, undatierte Blankovollmacht zu einer rechtsmißbräuchlichen Klageerhebung benutzt wird.
3. § 53 Abs. 2 FGO i. V. m. § 8 Abs. 4 des VwZG ist -- zumindest in Zweifelsfällen der vorliegenden Art -- nicht dahin zu verstehen, daß das Schriftstück nur an den Prozeßbevollmächtigten zugestellt werden dürfte.
Normenkette
FGO § 53 Abs. 2, §§ 62, 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Abs. 4; VwZG § 8 Abs. 4
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten. Mit Bescheid vom 24. Januar 1991 wurde für sie der Lohnsteuer- Jahresausgleich 1989 durchgeführt; dagegen haben die Kläger zunächst Einspruch erhoben. Ihr Prozeßbevollmächtigter hat eine undatierte Blankovollmacht vorgelegt, deren vorgedruckter Text auch die gerichtliche Rechtsverfolgung umfaßt. Das Finanzgericht (FG) hat die während des Einspruchsverfahrens erhobene Untätigkeitsklage mit Gerichtsbescheid vom 15. Februar 1993 als unzulässig abgewiesen. Es hat den Gerichtsbescheid auch den Klägern persönlich zugestellt. Die Kläger haben einen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt. Mit dem angefochtenen Urteil hat das FG die Klage wiederum als unzulässig abgewiesen; für die unter Berufung auf § 46 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vorgezogene Anrufung des Gerichts fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Das FG hat die Revision nicht zugelassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat mit Beschluß vom heutigen Tage als unbegründet zurückgewiesen.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung der Art. 103 und 19 Abs. 4 des Grundgesetzes sowie schwere Verfahrensverstöße i. S. des § 116 FGO.
Sie beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an einen anderen Senat des FG zurückzuverweisen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt) beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
Die Kläger haben Gründe, die eine zulassungsfreie Revision nach § 116 Abs. 1 FGO rechtfertigen könnten, nicht schlüssig vorgetragen.
1. Die unter § 116 Abs. 1 Nr. 3 (§ 119 Nr. 4) FGO fallenden Sachverhalte sind dadurch gekennzeichnet, daß der Beteiligte überhaupt nicht vertreten gewesen ist (z. B. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 29. Juli 1993 X B 210/92, BFH/NV 1994, 382, m. w. N.). Dies war hier nicht der Fall.
a) Die Rechtsprechung pflegt diese Vorschrift zwar weit auszulegen -- gemäß ihrem Zweck, den Beteiligten die Darlegung ihres Standpunkts zu gewährleisten (Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 119 Rz. 17; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., 1994, § 116 FGO Rz. 17, jeweils m. w. N.). Gemeint ist aber stets nur ein Mangel in den Möglichkeiten, die das Gericht hierzu -- im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften -- eröffnet, nicht die Ausnutzung der Möglichkeiten durch die Beteiligten bzw. deren Vertreter. Eine solche dem Gericht zuzurechnende Beeinträchtigung (vgl. auch BFH-Entscheidungen vom 27. Januar 1988 IV R 14/86, BFHE 152, 196, BStBl II 1988, 447; vom 10. August 1988 III R 220/84, BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948, und vom 8. Februar 1991 III R 190/86, BFH/NV 1992, 41) ist hier nicht zu erkennen.
b) Davon, daß die Kläger in irgendeiner Phase des Klageverfahrens wegen eines dem FG zuzurechnenden Mangels "faktisch" nicht mehr vertreten gewesen wären, kann nicht die Rede sein:
aa) Die allgemeine Verweisung auf Vorgänge in einem oder in mehreren anderen Verfahren läßt die nach § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO erforderliche konkrete und substantiierte Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil vermissen (vgl. dazu näher Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz. 32 ff.; Tipke/Kruse, a.a.O., § 120 FGO Rz. 53 ff., jeweils m. w. N.) und ist daher unbeachtlich.
bb) Der Umstand, daß der dem Urteil vorausgegangene Gerichtsbescheid auch den Klägern zugestellt wurde, begründet keinen Mangel in der Vertretung, sollte vielmehr -- wie das FG überzeugend dargelegt hat -- eine besonders effiziente Interessenwahrung sichern. Die Kläger übersehen zunächst, daß die gesetzliche Vertretungsgarantie letztlich nur den Beteiligten selbst, den Vertretenen, gilt und allenfalls mittelbar, soweit es dieser Schutzzweck erfordert, auch die prozessuale Stellung des Prozeßvertreters erfaßt. Darum gebieten es z. B. die §§ 116 Abs. 1 Nr. 3, 119 Nr. 4 FGO in Fällen vollmachtloser Vertretung, auch den angeblich Vertretenen zu laden (BFH-Urteil vom 27. April 1994 XI R 29/93, BFHE 174, 304, BStBl II 1994, 661). Das Gericht muß berechtigten Zweifeln, ob sich eine Vollmacht auf ein konkretes Verfahren erstreckt, nachgehen und kann die Vorlage einer neuen Vollmacht verlangen, die solche Zweifel ausräumt (vgl. BFH-Urteil vom 15. März 1991 III R 112/89, BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726).
Derartige Zweifel können auch dadurch begründet werden, daß -- wie im Streitfall -- eine in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliche Art der Prozeßführung nur durch eine allgemein gehaltene, die Vertretung vor Gericht nur u. a. erwähnende, undatierte Blankovollmacht legitimiert wird. Die ungewöhnliche Art der Prozeßführung liegt im Streitfall vor allem darin, daß der Prozeßbevollmächtigte -- wie massenhaft in anderen Fällen auch -- eine in mehrfacher Weise unzulässige "Untätigkeitsklage" erhoben (vgl. BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 1992 III B 138/92, BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673; vom 18. Januar 1993 X B 17/92, BFH/NV 1993, 610, und vom 27. August 1993 X B 36/93, BFH/NV 1994, 51) und durch sein Verhalten vor und nach Klageerhebung gezeigt hat, daß es ihm letztlich nicht um Beendigung von Untätigkeit und um Rechtsschutz, sondern um Zeitgewinn in einem Gerichtsverfahren gegangen ist.
Das FG handelte ermessensgerecht, als es die berechtigten Zweifel am Fortbestand des Mandats nicht etwa durch Vorlage einer weiteren Vollmacht, sondern dadurch zu beseitigen suchte, daß es den Gerichts bescheid auch den Klägern unmittelbar zustellen ließ, um ihnen auf diese Weise rechtliches Gehör zu gewähren. Dem stand auch das Gebot des § 53 Abs. 2 FGO i. V. m. § 8 Abs. 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes nicht entgegen, das -- zumindest in Zweifelsfällen der vorliegenden Art -- nicht dahin zu verstehen ist, daß nur an den Prozeßbevollmächtigten zugestellt werden dürfte.
c) Inwieweit das FG in der mündlichen Verhandlung bewirkt haben sollte, daß die Kläger "faktisch" vor Gericht nicht vertreten gewesen wären, läßt die Revisionsbegründung offen. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung vom 22. November 1993 ist für die Kläger trotz ordnungsgemäßer Ladung niemand erschienen.
2. Auch die Rüge, daß an der Vorentscheidung ein wegen Befangenheit abgelehnter Richter mitgewirkt habe, ist nicht schlüssig. Denn die nach § 116 Abs. 2 Nr. 2 FGO zulassungsfreie Revision setzt voraus, daß der Richter mit Erfolg abgelehnt wurde (vgl. BFH-Beschluß vom 30. November 1981 GrS 1/80, BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Tz. 9). Das ist hier nicht der Fall.
3. Verletzung rechtlichen Gehörs kann mit der zulassungsfreien Revision nach ständiger Rechtsprechung nicht geltend gemacht werden (BFH-Beschluß vom 17. Januar 1989 IV R 65/87, BFH/NV 1990, 313, m. w. N.; Gräber/von Groll, a.a.O., § 96 Tz. 34).
4. Eine Aussetzung des Revisionsverfahrens wegen der von den Klägern bezeich neten, beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfassungsbeschwerden kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil das BVerfG die Beschwerde 2 BvR 1127/92 mit Beschluß vom 12. Juni 1995 nicht zur Entscheidung angenommen hat und die Beschwerden 2 BvR 1136- 1138/92 nach Auskunft der Geschäftsstelle des BVerfG am 21. Juli 1995 zurückgenommen worden sind. Im übrigen hat der Senat vielfach und unter allen erdenkbaren Gesichtspunkten dargelegt, daß er ordnungsgemäß besetzt ist. Der Geschäftsverteilungsplan des Senats ist in den vergangenen Jahren ständig präzisiert worden. Die Kläger haben nicht dargelegt, inwiefern sich eine Entscheidung des BVerfG auf die Beurteilung der für den X. Senat des BFH geltenden Geschäftsverteilungspläne 1994/1995/1996 auswirken könnte.
Fundstellen
Haufe-Index 421661 |
BFH/NV 1997, 129 |