Entscheidungsstichwort (Thema)
Akteneinsicht in Kindergeldsachen
Leitsatz (NV)
1. Die Entscheidung darüber, ob die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Geschäftsräume überlassen werden, ist eine Ermessensentscheidung, bei der die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Interessen (insbesondere Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten) gegenüber den Interessen des Prozessbevollmächtigten an der Übersendung (insbesondere Ersparnisse von Zeit und Kosten) abzuwägen ist.
2. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese in ständiger Rechtsprechung vorgenommene Auslegung des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO.
3. Die Ausgestaltung des Kindergeldanspruchs als Steuervergütung führt dazu, dass auch die Vorschriften des finanzgerichtlichen Verfahrens, also auch § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO anwendbar sind.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 2; VwGO § 100 Abs. 2 S. 2; StPO § 147 Abs. 4
Gründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Sie ist nicht durch § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgeschlossen. Denn die Entscheidung über die Art und Weise von Akteneinsicht stellt keine prozessleitende Verfügung im Sinne dieser Vorschrift dar (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--, vgl. Beschluss vom 16. November 1998 VI B 162/98, BFH/NV 1999, 649).
2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.
a) Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstellen auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Danach besteht ein Anspruch auf Einsichtnahme der Akten in der Geschäftsstelle des mit der Streitsache befassten Senats. Aus dem Begriff "einsehen" und der Regelung über die Erteilung von Abschriften usw. durch die Geschäftsstelle des Gerichts ergibt sich, dass die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll und eine vorübergehende Überlassung der Akten an den Prozessbevollmächtigten nur ausnahmsweise in Betracht kommt (BFH-Beschluss vom 1. August 2002 VII B 65/02, BFH/NV 2003, 59).
Die Entscheidung darüber, ob die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Geschäftsräume überlassen werden, ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH eine Ermessensentscheidung, bei der die gegen eine Aktenübersendung sprechende Interessen (insbesondere Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten) gegenüber den Interessen des Prozessbevollmächtigten an der Übersendung (insbesondere Ersparnisse von Zeit und Kosten) abzuwägen ist (s. BFH-Beschluss vom 19. November 2002 V B 166/01, BFH/NV 2003, 484). Hinsichtlich dieser Entscheidung ist der BFH als Beschwerdegericht Tatsacheninstanz und deshalb gehalten, eigenes Ermessen auszuüben (BFH-Beschluss vom 12. Januar 2000 VI B 418/98, BFH/NV 2000, 855). Die Abwägung hat jedoch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundentscheidung zu erfolgen, wonach die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll; die Ausnahmen sind daher auf eng begrenzte Sonderfälle beschränkt (s. im Einzelnen BFH-Beschluss vom 11. Juni 2002 V B 5/02, BFH/NV 2002, 1464).
b) Im Streitfall bestehen keine Besonderheiten, die es rechtfertigen könnten, Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten zu gewähren. Die Vorinstanz hat dem Prozessbevollmächtigten angeboten, Akteneinsicht in der Bücherei des Finanzgerichts (FG) zu nehmen, also in einem im Vergleich zur Geschäftsstelle ruhigen Raum, in dem sich außerdem ein Fotokopiergerät befand; das FG hat in der gleichen Stadt den Sitz, in dem der Prozessbevollmächtigte seine Kanzlei hat. Das FG hat somit zu Recht darauf hingewiesen, dass dem Prozessbevollmächtigten die Akteneinsicht in der Gerichtsbibliothek zuzumuten ist und dass kein Ausnahmefall vorliegt.
c) Entgegen der Auffassung der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die in ständiger Rechtsprechung vorgenommene Auslegung des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO (z.B. BFH in BFH/NV 2003, 59). Dass die Ablehnung der Übersendung der Akten in das Büro des Prozessbevollmächtigten den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, ist vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits entschieden (vgl. BVerfG-Beschluss vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1982, 77; bestätigt durch BVerfG-Beschluss vom 11. Juli 1984 1 BvR 1523/83, Die Information über Steuer und Wirtschaft --Inf-- 1984, 478). Die teilweise abweichende rechtliche Regelung und Verfahrenspraxis zur Akteneinsicht in anderen Gerichtszweigen (vgl. § 147 Abs. 4 der Strafprozessordnung und § 100 Abs. 2 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung in der ab 1. April 2005 geltenden Fassung --VwGO--) ist für die Auslegung des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO ohne rechtliche Bedeutung (BFH in BFH/NV 1999, 649). Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) geht nämlich davon aus, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss (s. BVerfG in HFR 1982, 77). Der Gesetzgeber hat die verwaltungsgerichtliche Regelung zur vorübergehenden Überlassung der Akten an einen bevollmächtigten Rechtsanwalt (§ 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO) ausdrücklich nicht in die FGO übernommen, "da dies eine Bevorzugung der Rechtsanwälte gegenüber den anderen als Bevollmächtigte in Betracht kommenden Berufsgruppen bedeuten würde" (s. BTDrucks IV/1446, 53). Außerdem versagt § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO das Recht auf Gehör auch nicht in den Fällen, in denen aufgrund besonderer --im Streitfall nicht vorliegender-- Umstände eine Einsichtnahme in die Akten in der Geschäftsstelle des Gerichts undurchführbar oder für die Beteiligten unzumutbar ist (vgl. BVerfG in HFR 1982, 77).
Der von der Klägerin zitierte Beschluss des 1. Senats des BVerfG vom 12. Februar 1998 1 BvR 272/97 (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1998, 836) ist nicht einschlägig. Die Entscheidung betrifft anders als der vorliegende Fall die verfassungskonforme Auslegung des § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO in der bis 31. März 2005 geltenden Fassung, die nach Auffassung der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG zur Vermeidung einer Verletzung des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG die Überlassung der Akten auch an einen bevollmächtigten Kammerrechtsbeistand ermöglichen muss. Die Entscheidung des BVerfG betrifft also nicht Art. 103 Abs. 1 GG, sondern den Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG und hat die Aktenüberlassung im Verwaltungsstreitverfahren zum Gegenstand. Im Übrigen hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde gegen den die bisherige BFH-Rechtsprechung bestätigenden BFH-Beschluss in BFH/NV 2002, 1464 nicht zur Entscheidung angenommen (s. Kammerbeschluss vom 8. Oktober 2002 1 BvR 1503/02, HFR 2003, 79).
d) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich im Streitfall nicht um einen "normalen" finanzgerichtlichen Prozess um Steuerfragen, sondern um Kindergeldfragen handelt. Das Kindergeld wird ab 1996 als Steuervergütung gezahlt (§ 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes). Es finden deshalb nach § 155 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften sinngemäße Anwendung. Die Ausgestaltung des Kindergeldanspruchs als Steuervergütung führt dazu, dass auch die Vorschriften des finanzgerichtlichen Verfahrens, also auch § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO, anwendbar sind (BFH-Beschluss in BFH/NV 2000, 855). Es besteht kein Grund, Behördenakten in Kindergeldsachen bezüglich der Akteneinsicht anders zu behandeln als Steuerakten. Weder der Umfang von Kindergeldakten noch die räumliche Entfernung zum FG sind bei Kindergeldakten grundsätzlich anders als bei Steuerakten. Auch die Gefahr des Verlustes von Behördenakten und Gerichtsakten, die eine restriktive Auslegung des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO rechtfertigt, ist bei Kindergeldakten nicht geringer als bei Steuerakten (s. BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 649; vgl. ferner BFH-Beschluss vom 19. Juni 2001 VI B 68/01, nicht veröffentlicht, juris).
Fundstellen
Haufe-Index 1493514 |
BFH/NV 2006, 963 |
DStRE 2006, 766 |