Entscheidungsstichwort (Thema)
USt-Befreiung einer Altenpflegerin?
Leitsatz (amtlich)
Es ist ernstlich zweifelhaft,
- ob und inwieweit eine staatlich anerkannte Altenpflegerin arztähnliche oder heilberufliche Leistungen i.S. des § 4 Nr. 14 UStG erbringt
- und bereits vor In-Kraft-Treten des AltPflG die nach § 4 Nr. 14 UStG (analog), Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG erforderlichen beruflichen Befähigungsnachweise erbringen konnte.
Normenkette
FGO § 69; UStG 1993 § 4 Nr. 14; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist "staatlich anerkannte Altenpflegerin" und war in den Streitjahren 1994 bis 1999 für ein Altenheim, das als vollstationäre Pflegeeinrichtung gemäß § 72 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) zugelassen war, tätig. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt ―FA―) veranlagte die Antragstellerin zur Umsatzsteuer.
Die Antragstellerin legte gegen die Umsatzsteuerbescheide Einspruch ein und beantragte zunächst beim FA die Aussetzung der Vollziehung der Bescheide. Nachdem das FA diesen Antrag zurückgewiesen hatte, beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung der Bescheide. Das FG, dessen Beschluss in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 1193 veröffentlicht ist, hat dem Antrag mit Rücksicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 29. Oktober 1999 2 BvR 1264/90 (BVerfGE 101, 132, BStBl II 2000, 155) stattgegeben.
Hiergegen richtet sich die vorliegende ―vom FG zugelassene― Beschwerde. Zur Begründung führt das FA aus: Soweit das FG das Fehlen berufsrechtlicher Regelungen für unbeachtlich halte, weiche es bewusst von der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ab; es widerspreche auch ausdrücklich den Konsequenzen, die das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 28. Februar 2000 IV D 2 -S 7170- 12/00 (BStBl I 2000, 433) aus der Entscheidung des BVerfG gezogen habe. Schließlich messe das FG selbst der Frage grundsätzliche Bedeutung bei, ob auch solche Leistungen nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1993/1999 (UStG) steuerfrei seien, die nicht unmittelbar, sondern über einen Leistungsvermittler von einem Sozialversicherungsträger finanziert würden.
Die Antragstellerin ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO entsprechen. Danach soll die Vollziehung ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl. Beschluss des BFH vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182; seitdem ständige BFH-Rechtsprechung).
2. Nach dem o.g. Sachverhalt ist bereits ernstlich zweifelhaft, ob die Antragstellerin als selbständige Unternehmerin i.S. des § 2 UStG oder als nichtselbständige Arbeitnehmerin für das Altenheim tätig war. Nach dem Tatbestand des FG-Beschlusses war die Antragstellerin zwar "als selbständige Altenpflegerin tätig", dies aber offenbar nur in einem ―von ihrer Mutter betriebenen― Altenheim; ferner rechnete sie ihre Aufträge unmittelbar mit diesem ab. Maßgebend ist das Gesamtbild der Verhältnisse. Hierbei sind die für und gegen die Unternehmereigenschaft sprechenden Merkmale, die im Einzelfall unterschiedlich gewichtet werden können, gegeneinander abzuwägen (vgl. BFH-Urteil vom 30. Mai 1996 V R 2/95, BFHE 180, 213, BStBl II 1996, 493).
3. Selbst wenn die Beteiligten zu Recht davon ausgehen, dass die Antragstellerin selbständige Unternehmerin war, ist zweifelhaft, ob ihre Umsätze nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei sind. Falls der Tatbestand des § 4 Nr. 14 UStG nicht erfüllt sein sollte, kommt auch eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift oder eine Befreiung in unmittelbarer Anwendung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) in Betracht.
Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG a.F. sind "die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes oder aus der Tätigkeit als klinischer Chemiker" steuerfrei.
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG lautet:
"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer: …
c) die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die ihm Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufe erbracht werden."
4. Die Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 14 UStG und die Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG setzen gemeinsam voraus:
- Es muss sich um ärztliche oder arztähnliche bzw. heilberufliche Leistungen handeln.
- Diese müssen von Personen erbracht werden, die entsprechende berufliche Befähigungsnachweise erbringen.
5. Im Streitfall ist zweifelhaft, ob und inwieweit die Antragstellerin arztähnliche oder heilberufliche Leistungen erbracht hat.
Nach dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 10. September 2002 Rs. C-141/00 ―Ambulanter Pflegedienst Kügler GmbH― (BFH/NV 2003 Beilage 1, S. 30) erfasst die Steuerbefreiung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG auch Leistungen der Behandlungspflege durch qualifiziertes Krankenpflegepersonal, nicht aber Leistungen der Grundpflege.
Der bislang bekannte Sachverhalt reicht für die Qualifizierung der Leistungen der Antragstellerin nicht aus.
6. Zweifelhaft ist auch, welche Anforderungen an den für die Steuerbefreiung notwendigen Befähigungsnachweis zu stellen sind.
a) Zu § 4 Nr. 14 UStG hat das BVerfG in BVerfGE 101, 132, BStBl II 2000, 155 und mit Beschluss vom 10. November 1999 2 BvR 1820/92 (BStBl II 2000, 158) entschieden, das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―) verbiete eine allein nach der Existenz berufsrechtlicher Regelungen unterscheidende Umsatzsteuerbefreiung. Der Befreiungstatbestand des § 4 Nr. 14 UStG zeichne keinen berufsrechtlichen Lenkungszweck vor, der die Steuerbefreiung für Heil- und Heilhilfsberufe von ihrer beruflichen Qualifikation abhängig machen würde; vielmehr sei erkennbarer Normzweck des § 4 Nr. 14 UStG allein die Entlastung der Sozialversicherungsträger von der Umsatzsteuer.
Hierauf haben Gesetzgebung, Rechtsprechung und Finanzverwaltung in unterschiedlicher Weise reagiert.
b) Der Gesetzgeber hat in § 27 Abs. 1 a UStG 1999 bestimmt, dass § 4 Nr. 14 UStG auf Antrag auf vor dem 1. Januar 2000 erbrachte Umsätze aus der Tätigkeit als Sprachheilpädagoge entsprechend anzuwenden ist, soweit der Sprachheilpädagoge gemäß § 124 Abs. 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) von den zuständigen Stellen der gesetzlichen Krankenkassen umfassend oder für bestimmte Teilgebiete der Sprachtherapie zur Abgabe von sprachtherapeutischen Heilmitteln zugelassen ist und die Voraussetzungen des § 4 Nr. 14 UStG spätestens zum 1. Januar 2000 erfüllt.
c) Der erkennende Senat hat in dem Fall, der Gegenstand des Beschlusses des BVerfG in BVerfGE 101, 132 gewesen war, entschieden, die Leistungen eines Heileurythmisten durch heilberufliche Tätigkeit seien jedenfalls dann nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei, wenn sie ihrer Art nach von den Sozialversicherungsträgern für den Patienten bezahlt würden (BFH-Urteil vom 13. April 2000 V R 78/99, BFHE 191, 441). Die Befreiung sei auch mit der Vorschrift des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG vereinbar. Aufgrund der Vorgabe des BVerfG brauchte der Senat nicht auf die Frage einzugehen, welche Bedeutung dem Tatbestandsmerkmal "im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes" in § 4 Nr. 14 UStG nach den Entscheidungen des BVerfG noch zukommt.
d) Auf diese Frage geht auch das BMF in seinem Schreiben in BStBl I 2000, 433 nicht ein. Es heißt dort, ein Beruf sei einem der im Gesetz genannten Katalogberufe ähnlich, wenn das typische Bild des Katalogberufs in seinen wesentlichen Merkmalen dem Gesamtbild des zu beurteilenden Berufs vergleichbar sei; ausreichendes Indiz für das Vorliegen einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit (i.S. des § 4 Nr. 14 UStG) sei die Zulassung des jeweiligen Unternehmers bzw. die regelmäßige Zulassung seiner Berufsgruppe gemäß § 124 Abs. 2 SGB V durch die zuständigen Stellen der gesetzlichen Krankenkassen. Nach der Rechtsprechung der Ertragsteuersenate des BFH ist dies aber kein ausreichendes Indiz dafür, dass auch eine freiberufliche Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes vorliegt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19. September 2002 IV R 45/00, BStBl II 2003, 21).
Zur Tätigkeit der Altenpfleger heißt es im Schreiben des BMF vom 27. März 2001 IV D 1 -S 7170- 17/01 (BStBl I 2001, 250):
"Soweit heilberufliche Leistungen von Altenpflegern/Altenpflegerinnen nicht auf der Grundlage des BMF-Schreibens vom 28. Februar 2000 - IV D 2 - S7170 - 12/00 (BStBl I S. 433) nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei sein konnten, wurden diese aufgrund einer fehlenden berufsrechtlichen Regelung nicht als steuerfreie ähnliche heilberufliche Tätigkeit eingestuft. Mit dem Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz - AltPflG) sowie zur Änderung des Krankenpflegegesetzes vom 17. November 2000 (BGBl. 2000 I S. 1513) wurde eine bundeseinheitliche berufsrechtliche Regelung geschaffen. Das Gesetz tritt in seinen wesentlichen Teilen am 1. August 2001 in Kraft.
…
Heilberufliche Leistungen von Altenpflegern/Altenpflegerinnen, denen die Erlaubnis nach § 1 Nr. 1 AltPflG erteilt worden ist oder nach § 29 AltPflG als erteilt gilt, sind nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei, soweit sie nach dem 31. Juli 2001 erbracht werden."
Das BMF hält es also für möglich, dass Altenpfleger auch bereits vor In-Kraft-Treten des o.g. Gesetzes steuerfreie heilberufliche Leistungen erbracht haben (zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens vgl. Urteil des BVerfG vom 24. Oktober 2002 2 BvF 1/01, BGBl I 2002, 4410).
Im Übrigen erscheint fraglich, ob bereits der Umstand, dass die Antragstellerin staatlich anerkannte Altenpflegerin ist, für den erforderlichen beruflichen Befähigungsnachweis ausreicht. Dies dürfte zwar dem zitierten Schreiben des BMF widersprechen, erscheint aber gleichwohl ungewiss.
7. Es ist also ernstlich zweifelhaft,
- ob die Antragstellerin selbständige Unternehmerin oder unselbständige Arbeitnehmerin war,
falls sie Unternehmerin war
- ob und inwieweit sie arztähnliche oder heilberufliche Leistungen erbrachte
- und bereits vor In-Kraft-Treten des Altenpflegegesetzes als staatlich anerkannte Altenpflegerin die nach § 4 Nr. 14 UStG (analog), Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG erforderlichen beruflichen Befähigungsnachweise erbringen konnte.
Fundstellen
Haufe-Index 929037 |
BFH/NV 2003, 872 |
BStBl II 2003, 622 |
BFHE 2003, 347 |
BFHE 201, 347 |
BB 2003, 1053 |
DStRE 2003, 679 |
HFR 2003, 706 |
UR 2003, 282 |