Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB ‐ neues Recht; Verfahrensmangel und Zurückverweisung
Leitsatz (NV)
- Die in einem entscheidungserheblichen Punkt fehlende oder unzureichende Urteilsbegründung kann ‐ unter dem Gesichtspunkt der Verletzung rechtlichen Gehörs ‐ als Verfahrensmangel gewertet werden und infolgedessen zu einer Entscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO n.F. führen.
- Ein Urteil, das einen auf § 169 Abs. 2 Satz 2 und § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 gestützten Steuerbescheid als rechtmäßig bestätigt, ist nicht ausreichend begründet, wenn es weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen Feststellungen bzw. Ausführungen enthält, welche die Beteiligten und das Revisionsgericht in die Lage versetzen, die tragenden Erwägungen einer solchen Entscheidung im einzelnen zu verstehen.
Normenkette
AO 1977 § 169 Abs. 2 S. 2, § 173 Abs. 2 S. 1; FGO § 96 Abs. 1 Sätze 1, 3, § 105 Abs. 2 Nrn. 4-5, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6
Gründe
Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrenmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in der für den Streitfall maßgeblichen neuen Fassung (n.F.; Art. 4 und 6 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757; s. dazu die Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Urteil). Dies hat gemäß § 116 Abs. 6 FGO n.F. die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zur Folge.
1. Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend gemachte Verletzung rechtlichen Gehörs besteht darin, dass das FG seine rechtlichen Erwägungen zur vorrangigen Frage der Korrekturbefugnis des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ―FA―) nicht in ausreichendem Maße dargelegt sowie die hierzu erforderlichen Tatsachenfeststellungen nicht getroffen und dadurch gegen seine Begründungspflicht (§ 96 Abs. 1 Satz 3 sowie § 105 Abs. 2 Nr. 4 und Nr. 5 FGO) verstoßen hat.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt offensichtlich entscheidend davon ab, ob das FA trotz Eintritts der Regelverjährung nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) mit der Folge eines Regelungsverbots nach § 169 Abs. 1 Satz 1 und einer gemäß § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 verstärkten Bestandskraft noch Änderungsbescheide für die Streitjahre erlassen durfte. Die angefochtenen Steuerverwaltungsakte sind demnach nur dann rechtmäßig gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 und § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977, wenn dem Kläger hinsichtlich der darin vorgenommenen Erhöhungen der jeweiligen Jahressteuerschuld bzw. der Bemessungsgrundlagen in objektiver und subjektiver Hinsicht eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977) oder Steuerverkürzung (§ 378 AO 1977) nachgewiesen wird. Lässt sich dies nicht mit der erforderlichen Sicherheit zur Überzeugung des Gerichts feststellen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), sind die angefochtenen Bescheide allein wegen fehlender Korrekturbefugnis rechtswidrig und daher aufzuheben.
Zu diesem vorrangigen Problem enthält die Begründung des FG-Urteils nur zwei Bemerkungen:
Dem Tatbestand (Einleitungssatz) ist zu entnehmen, dass die Beteiligten um die Frage streiten, ob die angefochtenen Bescheide "für die Kalenderjahre 1984 und 1985 abänderbar sind".
Die Entscheidungsgründe enthalten die Aussage, der Kläger könne nicht einwenden, das FA sei zur Änderung der angefochtenen Bescheide nicht berechtigt gewesen, denn aus dem zuvor dargestellten Sachverhalt, nämlich dass die ―anlässlich einer Fahndungsprüfung, in Kopie, aufgefundenen, die streitigen Hinzuschätzungen tragenden― Lohnkostenlisten ("Lohnkosten Eigenes Bauvorhaben") "im Betrieb des Klägers mit dessen Billigung erstellt worden … und nicht der Besteuerung zugrunde gelegt worden sind", ergebe sich, "dass die Voraussetzungen des § 173 Abs. 2 bzw. 169 Abs. 2 Satz 2 AO vorliegen".
Die Ausführungen der Vorinstanz, die im Übrigen, von den beiden zitierten Ausnahmen abgesehen, nur der Bedeutung und dem Aussagewert der Lohnkostenliste für die vom FG der Höhe nach zugunsten des Klägers veränderten Hinzuschätzungen gelten, genügen den Mindestanforderungen, die an eine Urteilsbegründung zu stellen sind, weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht.
a) Ganz abgesehen davon, dass durchweg unklar bleibt, inwiefern das Urteil ―dem Tenor zufolge― hinsichtlich der Einkommensteuer, außer den Veranlagungszeiträumen 1984 und 1985 auch noch die Jahre 1982, 1983 und 1986 betreffen soll, fehlen im Tatbestand (§ 105 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 FGO) jegliche Angaben
zu Beginn, evtl. Hemmung oder Unterbrechung sowie zum Ablauf der Regelverjährung;
zum Datum und zum Gegenstand der früheren Außenprüfung, die offenbar gemäß § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 eine Änderungssperre ausgelöst hat;
zum Datum der Fahndungsprüfung;
zum Eintritt der (verstärkten) Bestandskraft nach § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 und ihrer Durchbrechung, insbesondere ―in objektiver Hinsicht― zur Zurechnung der steuererhöhenden Tatsachen oder Beweismittel. Nach dem Urteilstenor verfolgt der Kläger sein Rechtschutzbegehren "als Rechtsnachfolger" seiner verstorbenen Mutter, von der es im Tatbestand heißt, bis zu ihrem Tod sei sie Inhaberin eines Unternehmens für …, der Kläger darin bis zum gleichen Zeitpunkt als Betriebsleiter tätig gewesen. Zum Datum des Todes hat das FG keine Feststellungen getroffen, ebenso wenig dazu, welche entscheidungserheblichen Veränderungen dies mit sich brachte bzw. wie, bezogen hierauf, der streitige Vorgang zeitlich einzuordnen ist und wie man sich vor diesem Hintergrund die tatsächliche Grundlage für eine Zuweisung der den streitigen Hinzuschätzungen zugrunde liegenden Betätigungen des Klägers in dessen (eigenen) betrieblichen/unternehmerischen Bereich vorzustellen hat;
zur steuerstrafrechtlichen Beurteilung.
b) Demgemäß enthalten die Entscheidungsgründe keine Rechtsausführungen zu folgenden für die richterliche Überzeugungsbildung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) maßgeblichen Punkten (§ 96 Abs. 1 Satz 3 FGO):
zur Regelverjährung hinsichtlich des streitigen Steueranspruchs;
zur Bedeutung der Außenprüfung und der Fahndungsprüfung für die Entscheidung dieses Rechtsstreits;
vor allem aber zur Subsumtion unter § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 und § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ―jeweils i.V.m. § 370 bzw. § 378 AO 1977―. Hierzu beschränkt sich die Urteilsbegründung auf eine floskelhafte Wendung. Es fehlt eine nachvollziehbare Herleitung der gewonnenen Überzeugung anhand der festgestellten Tatsachen und der erhobenen Beweise einerseits sowie der einzelnen Merkmale der einschlägigen Gesetzestatbestände andererseits. Offen bleibt dabei vor allem, welchen der beiden Straftatbestände und aus welchen Gründen im Einzelnen das FG für gegeben hält. In objektiver Hinsicht ungeklärt bleibt die auch für die rein abgabenrechtliche Beurteilung entscheidende Frage, auf welche Weise der Kläger (als Rechtsnachfolger) als Betriebsleiter im Unternehmen seiner Mutter, mithin als Arbeitnehmer, Steuertatbestände verwirklichen konnte, die für alle drei hier streitigen Steuerarten Selbständigkeit voraussetzen. Zur subjektiven Seite der Steuerhinterziehung bzw. der leichtfertigen Steuerverkürzung schließlich enthält die schriftliche Urteilsbegründung überhaupt keine Ausführungen.
c) Damit fehlen dem Urteil wesentliche Begründungselemente (dazu: Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 105 Rz. 2, 11): hinsichtlich des Tatbestands, weil die tatsächliche Basis für die Urteilsfindung in entscheidenden Punkten nicht zu erkennen ist (s. dazu Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 21. Januar 1981 I R 153/77, BFHE 133, 33, 35, BStBl II 1981, 517, 518; vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417; vom 14. März 1991 IV R 104/89, BFH/NV 1992, 47, 48; Gräber, a.a.O., § 105 Rz. 16), hinsichtlich der Entscheidungsgründe, weil den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, das Urteil auf seine Richtigkeit hin zu prüfen (BFH-Entscheidungen vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351; vom 20. Mai 1994 VI R 10/94, BFHE 174, 391, BStBl II 1994, 707; vom 9. Juli 1996 VII S 16/95, BFH/NV 1997, 143, 145; vom 23. April 1998 IV R 30/97, BFHE 186, 120, BStBl II 1998, 626; Gräber, a.a.O., § 105 Rz. 23 f.).
2. Auf diesen Verfahrensmängeln kann das angefochtene Urteil auch beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO n.F.; s. auch BFH-Beschlüsse vom 9. Juli 1998 X R 25/98, BFH/NV 1999, 66, und vom 14. Oktober 1999 V B 56/99, BFH/NV 2000, 459), denn es ist nicht auszuschließen, dass es bei vollständiger Erfassung des entscheidungserheblichen Sachverhalts und dessen rechtlicher Würdigung in allen maßgeblichen Punkten anders ausgefallen wäre. Außerdem kommt dem FG als einziger Tatsacheninstanz gerade auch hinsichtlich der Prüfung und Entscheidung der in Frage stehenden Steuerstraftatbestände eine besondere Bedeutung zu (s. dazu BFH-Entscheidungen vom 26. Oktober 1994 II R 84/91, BFH/NV 1995, 476, 478; vom 24. April 1996 II R 73/93, BFH/NV 1996, 731, 732 f.; vom 25. Juni 1997 VIII B 35/96, BFH/NV 1998, 8; zu den Einzelheiten: BFH-Entscheidungen vom 14. August 1991 X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128; vom 2. April 1998 V R 60/97, BFHE 186, 1, BStBl II 1998, 530; vom 17. Februar 1999 IV B 66/98, BFH/NV 1999, 1188, 1189 f.; vom 17. März 2000 VII B 39/99, BFH/NV 2000, 1180, 1181 f.).
3. Unter den gegebenen Umständen konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
4. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO n.F.).
Fundstellen
Haufe-Index 665949 |
BFH/NV 2002, 348 |