Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmender Schriftsatz: Unterschrift oder Paraphe
Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob daran festgehalten werden kann, daß ein bestimmender Schriftsatz, der mit einer Abkürzung (Paraphe, Namenszeichen) unterschrieben ist, dem Erfordernis der Schriftlichkeit nicht genügt, hat grundsätzliche Bedeutung.
Orientierungssatz
Zur Neubestimmung des Erfordernisses der Schriftlichkeit unter Berücksichtigung der Nachweisfunktion und Sicherheitsfunktion einerseits und der technischen Möglichkeiten andererseits.
Normenkette
FGO §§ 64, 115 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Schriftsatz zur Klageerhebung schließt mit dem vollen, maschinengeschriebenen Namen der Prozeßvertreterin der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) und handschriftlich mit dem ersten Buchstaben ihres aus vier Buchstaben bestehenden Namens. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage wegen mangelnder Schriftform als unzulässig ab, ohne die Revision zuzulassen.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Die Frage, ob an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten werden kann, daß bestimmende Schriftsätze, die mit einer Abkürzung (Paraphe, Namenszeichen) unterschrieben sind, der Schriftform (§ 64 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) nicht genügen, hat grundsätzliche Bedeutung.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) und der anderen obersten Bundesgerichte, der sich bisher auch der erkennende Senat angeschlossen hat, gehört zum Formerfordernis der Schriftlichkeit grundsätzlich die eigenhändige (handschriftliche) Unterzeichnung. Eine Abkürzung genügt als Unterschrift nicht (vgl. Senatsbeschluß vom 12. September 1991 X R 38/91, BFH/NV 1992, 50, und Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 22. Oktober 1993 V ZR 112/92, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1994, 55, jeweils m.w.N.).
Ausnahmen hiervon hat die Rechtsprechung bisher nur --unter Berücksichtigung der technischen Fortentwicklung-- für Telegramme, Fernschreiben und Telekopien anerkannt.
Mit Beschluß vom 19. Dezember 1994 5 B 79/94 (NJW 1995, 2121) hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) die Rechtsprechung zu technisch bedingten Ausnahmen auf eine durch Bildschirmtext-Mitteilung (Btx) erhobene Klage ausgedehnt. Bei dieser Form der Schriftsatzübermittlung ist eine eigenhändige Unterschrift technisch unmöglich. Die Entscheidung des BVerwG betrifft Fälle, in denen bestimmende Schriftsätze in einem Computer erstellt und direkt in ein gerichtliches Telefax-Gerät übermittelt werden. Dieses Verfahren setzt beim Absender nicht einmal mehr einen zu Papier gebrachten, in einem Schriftstück verkörperten Text voraus, der unterschrieben werden könnte. Zum Ausdruck kommt es vielmehr erst im Empfangsgerät, d.h. notwendigerweise in nicht unterschriebener Form.
Mag diese Art der Übermittlung, für sich allein gesehen, in der Praxis der gerichtlichen Verfahren (noch) als Ausnahme angesehen werden, für die verschiedenen modernen Kommunikationsmittel insgesamt kann das nicht mehr gelten. Daß diese außerdem typischerweise zum Zwecke der Beschleunigung eingesetzt werden, führt in allen Fällen fristgebundenen Prozeßvorbringens hinsichtlich so grundlegender Fragen wie denen der Fristwahrung (vgl. dazu allgemein: BGH-Urteil vom 7. Dezember 1994 VIII ZR 153/93, NJW 1995, 665, Betriebs-Berater --BB-- 1995, 221; Burgard, Archiv für civilistische Praxis --AcP-- 195 (1995), 74 und BB 1995, 222; Gräber, Kommentar zur FGO, 3. Aufl., 1993, § 64 Rz. 8 m.w.N.) und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. dazu allgemein Gräber, a.a.O., § 56 Rz. 49) dazu, daß ein und dasselbe Formerfordernis an unterschiedlichen Kriterien gemessen wird - je nachdem, ob sich der Rechtsuchende eines "traditionellen" oder eines modernen Kommunikationsmitteln bedient: Wendet er sich per Briefpost an das Gericht, muß der Schriftsatz eine Originalunterschrift aufweisen, die mindestens einzelne Buchstaben erkennen läßt (vgl. Gräber, a.a.O., § 64 Rz. 20 ff. m.w.N.), bedient er sich der Tele-Kommunikation, erübrigt sich das Unterschriftserfordernis, wenn der Absender --wie bei der Telekopie in zunehmendem Maße zu beobachten-- davon absieht, überhaupt noch ein "Original"-Schriftstück folgen zu lassen und dies keine prozessualen Konsequenzen hat. Für diese unterschiedliche Behandlung dürfte es an rechtfertigenden Gründen fehlen, wenn man die per Telegramm, Fernschreiben, Telefax oder Btx übermittelten Willensbekundungen als vollwirksame Prozeßhandlungen anerkennt.
Eine Lösung des Problems setzt zunächst voraus, daß der Zweck des Erfordernisses der Schriftlichkeit von Grund auf überdacht wird. Nach herrschender Meinung (vgl. BFH-Entscheidungen vom 5. November 1973 GrS 2/72, BFHE 111, 278, BStBl II 1974, 242, und vom 10. März 1982 I R 91/81, BFHE 136, 38, 40, BStBl II 1982, 573, sowie den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 30. April 1979 GmS-OGB 1/78, NJW 1980, 172; weitere Nachweise bei Gräber, a.a.O., § 64 Rz. 7 und 19 ff.) soll die Schriftform sicherstellen, daß ein Schriftsatz vom Absender stammt und es sich um keinen bloßen Entwurf handelt. Gerade dies aber ist z.B. durch eine Telekopie nicht gewährleistet: Geht bei Gericht ein Telefax ein, steht weder fest, daß der wirkliche mit dem angegebenen Absender übereinstimmt, noch, daß nicht versehentlich ein Entwurf übersandt wurde. Das gilt selbst dann, wenn die beim Gericht ausgedruckte Telekopie mit einer Unterschrift endet. Angesichts der leichten und für den Empfänger nicht erkennbaren technischen Gestaltungs- und Manipulationsmöglichkeiten (z.B. läßt sich eine Unterschrift mit Hilfe eines Scanners eingeben, unter irgendeinen Text setzen und die Kopie einer solchen "Arbeit" per Fax übermitteln mit dem Ergebnis, daß beim Empfänger ein "unterschriebener" Schriftsatz ausgedruckt wird, der im Original nicht existiert und sich nicht von der Telekopie eines echten Schriftstücks unterscheidet) kann einer Telekopie für sich allein kein Beweiswert beigemessen werden (ebenso das BFH-Urteil vom 28. November 1995 VII R 63/95, BFHE 178, 504; BGH-Urteil vom 23. Juni 1994 I ZR 106/92, NJW 1994, 2298 zum gleichen Problem bei der Vollmacht; a.A. BFH-Urteil vom 15. Juni 1994 II R 49/91, BFHE 174, 394, BStBl II 1994, 763 jeweils m.w.N. zu dieser Streitfrage). Findet man sich aber mit einem solchen Unsicherheitsfaktor bei der Schriftsatzübermittlung durch EDV-Geräte ab, indem man in solchen Fällen faktisch auf eine eigenhändige Original-Unterschrift verzichtet, bedarf der Überprüfung, ob an diesem Formerfordernis bei in gleicher Funktion, nur auf andere Weise übermittelten Schriftsätzen festgehalten werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die Rechtsprechung des BFH noch mit der Rechtsprechung des BVerwG in den Urteilen vom 26. Mai 1978 4 C 11/78 (NJW 1979, 120) und vom 6. Dezember 1988 9 C 40/87 (NJW 1989, 1175 m.w.N.) übereinstimmt. Nach der Rechtsprechung des BVerwG kann eine nur maschinenschriftlich unterschriebene Klage zulässig sein, wenn "weitere Umstände" erkennen lassen, daß das Schriftstück von dem stammt und mit Willen dessen in den Rechtsverkehr gelangt ist, dem es zugerechnet werden soll. Als "weiterer Umstand" genügte die Sachkenntnis, die sich aus dem Schriftsatz ergab. Das BVerwG hat sich damit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) angenähert, das --allerdings gestützt auf § 92 des Sozialgerichtsgesetzes, der die Unterschrift nur als "Soll"-Erfordernis der Klageerhebung vorsieht-- Klagen ohne Unterschrift zuläßt (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 5. Aufl., § 92 Tz.7, und Henning/Danckwerts/König, Kommentar, Sozialgerichtsgesetz, § 90 Tz.4.1 und 5.1).
Wäre eine Klage nach diesen Grundsätzen zulässig, so könnte sie nicht abgewiesen werden, nur weil die Prozeßvertreterin zusätzlich zur maschinenschriftlichen Unterschrift noch handschriftlich paraphiert hat. Hierbei ist außerdem zu berücksichtigen, daß das BSG mittlerweile im begrenzten Umfang Paraphen bei richterlichen Unterschriften mit der Begründung gebilligt hat, daß --jedenfalls im internen Bereich des Gerichts-- kein Unterschied zwischen einer Paraphe und einem vollen Namenszug besteht (BSG-Urteil vom 30. Oktober 1991 8 RKn 14/90, NJW 1992, 1188).
Ziel einer Neubestimmung des Erfordernisses der Schriftlichkeit müßte an sich sein, möglichst für alle Teilrechtsordnungen, unter Berücksichtigung der Nachweis- und Sicherheitsfunktion einerseits und der technischen Möglichkeiten andererseits, im Interesse aller Beteiligten die gleichen Kriterien zu entwickeln. Dabei sind allerdings auch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung zu beachten, insbesondere, ob es nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist, die hier erörterte "wesentliche" Frage selbst zu beantworten.
Fundstellen
Haufe-Index 65503 |
BFH/NV 1996, 80 |
BFH/NV 1996, 80-81 (LT) |
BStBl II 1996, 140 |
BFHE 179, 233 |
BFHE 1996, 233 |
BB 1996, 520 |
BB 1996, 520-521 (LT) |
DB 1996, 557-558 (LT) |
DStR 1996, 424-425 (KT) |
DStZ 1996, 285-286 (KT) |
HFR 1996, 255-256 (L) |
StE 1996, 161 (K) |
Information StW 1996, 254 (KT) |
LEXinform-Nr. 0132307 |
NJW 1996, 1432 |
NJW 1996, 1432 (LT) |
BRAK-Mitt 1996, 116 (L) |
NVwZ 1996, 728 |
NVwZ 1996, 728 (L) |
CR 1996, 404-406 (ST) |
Jur-PC 1996, 244 |
Jur-PC 1996, 244-245 (LT) |