Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage an den EuGH: Kürzung des Kindergeldes im Wohnland Deutschland um die im Beschäftigungsland Schweiz vorgesehenen, aber nicht beantragten Kinderzulagen?
Leitsatz (amtlich)
Dem EuGH werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Regelung in Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 entsprechend auf Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 anzuwenden in Fällen, in denen der anspruchsberechtigte Elternteil die ihm im Beschäftigungsland zustehenden Familienleistungen nicht beantragt?
2. Für den Fall, dass Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 entsprechend anwendbar ist: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Wohnlandes Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 anwenden, als ob Leistungen im Beschäftigungsland gewährt würden? Kann das Ermessen, den Erhalt von Familienleistungen im Beschäftigungsland zu unterstellen, eingeschränkt sein, wenn der Anspruchsberechtigte im Beschäftigungsland die ihm zustehenden Familienleistungen bewusst nicht beantragt, um der Kindergeldberechtigten im Wohnland zu schaden?
Normenkette
EStG §§ 62-63; EWGV 1408/71 Art. 76 Abs. 2; EWGV 574/72 Art. 10 Abs. 1 Buchst. a, b i
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wohnt mit zwei ihrer 1992 und 1995 geborenen Kinder in Deutschland. Sie begann 2005 eine selbständige Tätigkeit im Rahmen von Hausverwaltungen, Hausmeister- und Reinigungsdiensten. Ab Mai 2006 war sie geringfügig bei einer Firma beschäftigt. Die Klägerin entrichtete im streitigen Zeitraum freiwillig Beiträge zur Deutschen Rentenversicherung (DRV) sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bei der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK). Der Vater der Kinder, von dem die Klägerin seit 1997 geschieden ist, arbeitet in der Schweiz. Die ihm nach Schweizer Recht zustehenden Familienleistungen von 109,75 € je Kind beantragte er nicht.
Durch Bescheid vom 21. März 2006 setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) für die beiden Kinder ab Januar 2006 Kindergeld nur in Höhe eines Teilbetrages von 44,25 € je Kind fest, soweit das deutsche Kindergeld von 154 € die in der Schweiz dem Vater zustehende Familienleistung von 109,75 € je Kind überstieg.
Die Familienkasse und das Finanzgericht (FG) sind der Auffassung, maßgebend für die Höhe des Kindergeldanspruchs der Klägerin seien die Konkurrenzregeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) sowie der dazu ergangenen Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72), jeweils in der geänderten und aktualisierten Fassung. Da die Klägerin keine Berufstätigkeit i.S. des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b i VO Nr. 574/72 ausgeübt habe, sei nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 der Anspruch auf Familienleistungen in der Schweiz gegenüber dem deutschen Kindergeldanspruch vorrangig. Darauf, ob die Familienleistungen in der Schweiz tatsächlich in Anspruch genommen würden, komme es nach dem entsprechend anwendbaren Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 nicht an. Das eingeräumte Ermessen könne nur so interpretiert werden, dass lediglich in begründeten Ausnahmefällen anzunehmen sei, dass im Beschäftigungsland keine Familienleistungen gewährt würden mit der Folge, dass das Wohnland die Familienleistung in vollem Umfang zu erbringen habe.
Die Klägerin wendet dagegen ein, ihr stehe schon aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in Deutschland das volle Kindergeld zu. Die Familienkasse und das FG hätten den Begriff der Erwerbstätigkeit zu eng ausgelegt. Geringfügig Beschäftigte seien versicherungspflichtigen Arbeitnehmern gleichzustellen. Zwar würden bei einem "versicherungsfreien" Minijob keine Sozialabgaben vom Bruttolohn einbehalten. Aber ihr Arbeitgeber habe zusätzlich zum Bruttolohn 13 % Krankenversicherungsbeitrag, 15 % Rentenversicherungsbeitrag und 2 % Pauschsteuer sowie Umlagen für Krankheitsaufwendungen und Mutterschaftsaufwendungen abführen müssen. Der geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer sei somit ebenfalls versicherungspflichtig. Unabhängig davon stehe ihr das Kindergeld auch deshalb in voller Höhe zu, weil der Vater der Kinder in der Schweiz bewusst keinen Antrag auf Familienleistungen stelle, um ihr zu schaden. Der Fall, dass der Vater in dem zuständigen Beschäftigungsland Kindergeld absichtlich nicht beantrage, sei in Art. 10 Abs. 1 VO Nr. 574/72 nicht geregelt. Insoweit liege eine offensichtliche Regelungslücke vor, die durch eine analoge Anwendung des Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 zu schließen sei. Das Ermessen sei im Streitfall in der Weise auszuüben, dass das Kindergeld im Wohnland in voller Höhe auszuzahlen sei.
Entscheidungsgründe
II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft die im Tenor bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor.
1. Die Entscheidung des Streitfalles hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 steht der Klägerin das Kindergeld im Wohnland Deutschland ungekürzt zu, weil in dem an sich vorrangigen Beschäftigungsland mangels Antrags des Vaters keine Familienleistungen geschuldet werden. Ist jedoch Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 entsprechend anwendbar, kann die Familienkasse Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 anwenden, als ob Leistungen im Beschäftigungsland Schweiz gewährt würden, mit der Folge, dass sie deutsches Kindergeld nur zu zahlen braucht, soweit es höher als die Familienleistungen in der Schweiz ist. Da Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 eine Ermessensentscheidung ist ("kann"), kommt es bei dessen entsprechender Anwendung weiter darauf an, welche Ermessenserwägungen anzustellen sind und welche Ermessenserwägungen es rechtfertigen, die Leistung nicht beantragter Familienleistungen im Beschäftigungsland zu unterstellen.
2. Der EuGH ist für die Beantwortung der vorgelegten Fragen zuständig. Denn die Vorlage betrifft die Auslegung der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72 und damit die Auslegung von Gemeinschaftsrecht. Unerheblich ist, dass das Gemeinschaftsrecht im Verhältnis zur Schweiz nur aufgrund des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (BGBl II 2001, 811) gilt (Anhang II, BGBl II 2001, 822), das am 2. September 2001 als Gesetz beschlossen worden (BGBl II 2001, 810) und am 1. Juni 2002 (BGBl II 2002, 1692) in Kraft getreten ist. Denn es besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, dass die Vorschriften unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewendet werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um in der Zukunft voneinander abweichende Auslegungen zu verhindern (vgl. EuGH-Urteil vom 16. Juni 1998 C-53/96, Slg. 1998, I-3603, Rz 32, m.w.N.; Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Art. 234 Rz 15).
3. Sowohl die Klägerin als auch der Vater der Kinder haben Anspruch auf Familienleistungen.
a) Der Klägerin steht für ihre minderjährigen Kinder in Deutschland Kindergeld zu, da sie hier ihren Wohnsitz hat und die Kinder in ihrem Haushalt leben (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--).
b) Der Vater, der in der Schweiz beschäftigt ist und wahrscheinlich dort auch seinen Wohnsitz hat, hat Anspruch auf Familienleistungen nach Schweizer Recht. Die kantonalen Kinder- und Ausbildungszulagen in der Schweiz gehören --ebenso wie das deutsche Kindergeld-- zu den Familienleistungen i.S. des Art. 1 Buchst. u VO Nr. 1408/71 (Senatsurteil vom 24. März 2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BStBl II 2008, 369, m.w.N.).
4. Bestehen sowohl im Wohnland als auch im Beschäftigungsland Ansprüche auf Familienleistungen, ist nach den Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72 zu entscheiden, welche Leistungen vorrangig sind.
Hängt der Anspruch auf Kindergeld im Wohnland der Kinder --wie in Deutschland-- nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit ab, ruht er nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 bis zur Höhe der Leistungen, die allein aufgrund innerstaatlicher Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder z.B. nach Art. 73 VO Nr. 1408/71 aufgrund der Arbeitnehmertätigkeit eines Elternteils in einem anderen Mitgliedstaat geschuldet werden. Übt der anspruchsberechtigte Elternteil im Wohnland aber eine Berufstätigkeit aus, ruht der Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsland bis zur Höhe der im Wohnland geschuldeten Leistungen (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b i VO Nr. 574/72).
5. Die Konkurrenz der Ansprüche auf Familienleistungen ist im Streitfall nach Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 zu lösen, da die Klägerin in Deutschland keine Berufstätigkeit i.S. des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b i VO Nr. 574/72 ausübte.
a) Nach dem Beschluss Nr. 207 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 7. April 2006 zur Auslegung des Art. 76 und des Art. 79 Abs. 3 VO Nr. 1408/71 sowie des Art. 10 Abs. 1 VO Nr. 574/72 bezüglich des Zusammentreffens von Familienleistungen oder -beihilfen ist die Formulierung in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b i VO Nr. 574/72 "Wird … eine Berufstätigkeit ausgeübt" als tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger zu verstehen.
Arbeitnehmer oder Selbständiger ist nach den Begriffsbestimmungen in Art. 1 VO Nr. 1408/71 u.a. eine Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, im Rahmen eines für Arbeitnehmer oder Selbständige geschaffenen Systems der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats freiwillig versichert ist (Art. 1 Buchst. a iv VO Nr. 1408/71). Auch nach Auffassung der Familienkasse erfüllte die Klägerin ab Januar 2006 diese Voraussetzungen, da sie während ihrer zunächst selbständigen und später nicht selbständigen Beschäftigung freiwillig Mitglied der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung war.
Die Bestimmungen der Begriffe "Arbeitnehmer" und "Selbständiger" in Art. 1 VO Nr. 1408/71 werden jedoch durch Anhang I Teil I Buchst. E VO Nr. 1408/71 für die Konkurrenzregeln in Titel III Kapitel 7 VO Nr. 1408/71 eingeschränkt. Da Art. 10 VO Nr. 574/72 die Konkurrenzregeln in Titel III Kapitel 7 ergänzt (vgl. Schuler in: Fuchs (Hg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., Art. 12 Rz 14), gilt die Einschränkung auch für die Begriffe in Art. 10 VO Nr. 574/72.
b) Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 VO Nr. 1408/71, so ist nach Anhang I Teil I Buchst. E a VO Nr. 1408/71 als Arbeitnehmer i.S. des Art. 1 Buchst. a ii VO Nr. 1408/71 anzusehen, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder im Anschluss an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen erhält. Als Selbständiger gilt nach Anhang I Teil I Buchst. E b VO Nr. 1408/71, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.
c) Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie war während ihrer selbständigen Tätigkeit nicht in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig; sie war auch nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig. Denn aufgrund ihrer geringfügigen selbständigen Tätigkeit war sie nach § 5 Abs. 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch --Gesetzliche Rentenversicherung-- (SGB VI) i.V.m. § 8 Abs. 3 SGB IV --Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung-- (SGB IV) versicherungsfrei. Sie war in der gesetzlichen Rentenversicherung lediglich freiwillig versichert.
Während ihrer geringfügigen Beschäftigung war sie auch nicht für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert. Das sind nur solche Personen, die in einem Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit i.S. von § 24 SGB III --Arbeitsförderung-- (SGB III) stehen. Dazu gehören aber nicht Personen, die --wie die Klägerin als geringfügig Beschäftigte-- nach § 27 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB IV versicherungsfrei sind.
Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass sie aufgrund ihrer freiwilligen Rentenversicherung die Merkmale des Art. 1 Buchst. a iv VO Nr. 1408/71 als Arbeitnehmerin oder Selbständige erfüllt, da andernfalls der Anhang im Ergebnis praktisch unwirksam wäre (vgl. EuGH-Urteile vom 30. Januar 1997 C-4/95, Stöber, Pereira, Slg. 1997, I-511, und vom 12. Juni 1997 C-266/95, Garcia, Slg. 1997, I-3279).
6. Nach dem Wortlaut des Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 steht der Klägerin in Deutschland das volle Kindergeld zu. Denn der Anspruch auf Kindergeld im Wohnland ruht nur, soweit im Beschäftigungsland Familienleistungen geschuldet werden. Geschuldet werden Familienleistungen aber nur, wenn alle Voraussetzungen für deren Auszahlung erfüllt sind. Dazu gehört, dass der Anspruchsberechtigte bei antragsabhängigen Leistungen einen Antrag stellt. Da der Vater die ihm in der Schweiz zustehenden, einen Antrag erfordernden Familienleistungen aber nicht beantragt hat, schuldete ihm die Schweiz keine Familienleistungen.
7. Zweifelhaft ist aber, ob in Fällen, in denen die im Beschäftigungsland vorgesehenen Familienleistungen nicht beantragt werden, Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 entsprechend anzuwenden ist.
a) Der EuGH war zu Art. 76 VO Nr. 1408/71 a.F. der Auffassung, im Wohnland aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehene, aber mangels Antrag nicht gezahlte Familienleistungen führten nicht zu einer Aussetzung der in einem anderen Mitgliedstaat geschuldeten Familienleistungen, weil die Regelung nur die Kumulierung von Leistungen verhindern solle (EuGH-Urteile vom 13. November 1984 C-191/83, Salzano, Slg. 1984, 3741; vom 23. April 1986 C-153/84, Ferraioli, Slg. 1986, 1401, und vom 4. Juli 1990 C-117/89, Kracht, Slg. 1990, I-2781).
Als Reaktion auf diese Rechtsprechung wurde Art. 76 VO Nr. 1408/71 a.F. geändert. Werden im Wohnland keine Familienleistungen beantragt, "kann" nach dem --seit 1. Mai 1990 geltenden-- Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 der zuständige Träger des anderen Landes "Absatz 1 anwenden", als ob Leistungen im Wohnland gewährt würden. Er braucht daher, wenn der Anspruch auf Familienleistungen im Wohnland geringer ist, nur den Differenzbetrag auszuzahlen.
Nach dem Urteil des EuGH in Slg. 1990, I-2781 ist durch die Einfügung des Abs. 2 in Art. 76 VO Nr. 1408/71 die bisherige Rechtslage nicht klargestellt, sondern erstmals geregelt worden. Da Art. 10 VO Nr. 574/72 nicht in gleicher Weise ergänzt wurde, beschränkt sich die Regelung auf die Fälle, in denen das Kindergeld im Wohnland von einer Erwerbstätigkeit abhängt.
b) Umstritten ist aber, ob Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 auf die Fälle des Art. 10 VO Nr. 574/72 entsprechend anzuwenden ist.
Für eine entsprechende Anwendung des Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 soll sprechen, dass die Regelung dazu diene, die Lasten zwischen den Mitgliedsstaaten gerecht zu verteilen. Eine unterlassene Antragstellung solle nicht zu Lasten des nachrangig verpflichteten Landes gehen (Trinkl, Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001, S. 244; Igl in: Fuchs, a.a.O., Art. 76 Rz 7). Auch solle die Regelung den Missbrauch eines sonst gewährten Wahlrechts verhindern (Trinkl, a.a.O., S. 244). Es sei kein Grund erkennbar, warum bei der Konkurrenz mit einem erwerbsabhängigen Anspruch ein unterbliebener Antrag fingiert werde, bei einem erwerbsunabhängigen Anspruch dagegen nicht (Trinkl, a.a.O., S. 248).
Gegen eine entsprechende Anwendung wird vorgebracht, dem Verordnungsgeber sei bekannt gewesen, dass ein unterbliebener Antrag auch bei der Konkurrenz erwerbsunabhängiger Kindergeldansprüche Probleme aufwerfe. Wenn er gleichwohl keine vergleichbare Regelung getroffen habe, sei daraus zu folgern, dass kein Regelungswille und somit keine Regelungslücke bestanden habe, die eine entsprechende Anwendung rechtfertige (Fischer, Die Sozialgerichtsbarkeit --SGb-- 1991, 432, 438; Becker, SGb 1998, 553, 557; Trinkl, a.a.O., S. 249).
Nach Auffassung des Senats lässt sich der fehlende Regelungswille auch aus den in beiden Regelungen verwendeten, unterschiedlichen Begriffen folgern. Sind im Wohnland Familienleistungen "vorgesehen", ruht nach Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 der Anspruch in dem anderen Land. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 ruht dagegen der Anspruch im Wohnland, wenn im Beschäftigungsland Familienleistungen "geschuldet" werden. Reicht es aus, dass Familienleistungen nur "vorgesehen" sind, ist es folgerichtig, den Anspruch in dem anderen Land auch dann ruhen zu lassen, wenn der Berechtigte keinen Antrag gestellt hat. Ruhen die Leistungen in dem anderen Land nur dann, wenn die Leistungen "geschuldet" werden, wäre die Anordnung eines Ruhens, auch wenn die Leistungen nicht beantragt worden sind, widersinnig.
8. Da es sich bei der Befugnis nach Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 um eine Ermessensentscheidung handelt ("kann"; vgl. Kummer in Schulte/Zacher, Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 217) würde sich bei einer entsprechenden Anwendung die weitere Frage stellen, welche Ermessenserwägungen es rechtfertigen, nicht beantragte Familienleistungen im Beschäftigungsland zu fingieren. Ist die Ermessensentscheidung in dem Sinne vorgeprägt, dass bei einem an sich bestehenden, aber nicht geltend gemachten Anspruch Familienleistungen im Beschäftigungsland stets zu unterstellen sind oder kann es darauf ankommen, aus welchen Gründen die Leistungen nicht beantragt werden?
Ist die gerechte Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vorrangig, ist der Grund für die Nicht-Beantragung unerheblich. Soll dagegen die Regelung in Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 --wie der EuGH zu der Regelung in Art. 76 VO Nr. 1408/71 a.F. angenommen hat (s.o. unter II. 7. a)-- die Kumulierung von Leistungen verhindern, könnte bei der Ermessensentscheidung berücksichtigt werden, dass der Vater die ihm im Beschäftigungsland zustehenden Familienleistungen bewusst nicht beantragt, um der Klägerin zu schaden, zumal ohne seinen Antrag die Familienleistungen auch nicht --wie in Art. 75 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 vorgesehen-- über die Familienkasse an die Klägerin ausgezahlt werden können. Diese Möglichkeit besteht nur, wenn der Vater die Familienleistungen beantragt, aber nicht für den Unterhalt der Kinder verwendet.
Nach Auffassung des Senats darf die mit Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 bezweckte gerechte Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten nicht dazu führen, dass das Beschäftigungsland mangels Antrags des Vaters zwar entlastet wird, diese Entlastung aber zu Lasten der alleinerziehenden Mutter geht, der das Kindergeld im Wohnland gekürzt wird, obwohl weder sie noch der Vater Familienleistungen vom Beschäftigungsland erhalten haben.
Da die Klägerin die Voraussetzungen für das deutsche Kindergeld erfüllt und ihr Anspruch nur aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Konkurrenzregeln gemindert wird, ist es auch nicht gerechtfertigt, sie darauf zu verweisen, die Antragstellung durch den Vater auf dem Zivilrechtsweg durchzusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 2098236 |
BFH/NV 2009, 456 |
BFH/PR 2009, 180 |
BStBl II 2009, 923 |
BFHE 2008, 358 |
BFHE 223, 358 |
DStRE 2009, 350 |
HFR 2009, 370 |