Leitsatz (amtlich)
1. Die Vorschrift 4 zu Abschn. XI des Deutschen Zolltarifs 1963 und 1965 regelt in den Absätzen A und B, welche Garne als solche in Aufmachung für den Einzelverkauf „gelten” oder nicht „gelten”. Sie bestimmt nicht, welche Garne solche in Aufmachung für den Einzelverkauf sind oder nicht sind, enthält also keine Begriffsbestimmungen für die beiden Arten von Garnen.
2. Besondere Verhältnisse des Einzelfalles können es rechtfertigen, eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen, daß sich der Zollbeteiligte gegenüber einer durch Berichtigung der Tarifierung zum freien Verkehr abgefertigter Waren veranlaßten, auf § 94 Abs. 1 Nr. 1 und § 223 AO beruhenden Eingangsabgabennachforderung nur dann auf Treu und Glauben berufen kann, wenn es ihm nicht zuzumuten war, vor dem Abfertigungsantrag eine verbindliche Zolltarifauskunft einzuholen.
Normenkette
DZT 1963, 1965, Vorschrift 4 Abschn. XI; AO § 94 Abs. 1 Nr. 1, § 223
Tatbestand
Die Klägerin führte in den Jahren 1964 und 1965 von ihrer Muttergesellschaft Ausrüstungen zum Knüpfen von Teppichen ein, die sie im Versandhandel an Endverbraucher verkaufte. Vom 2. Januar 1964 an beantragte sie hauptsächlich beim Zollamt (ZA) N., in fünf Fällen bei zwei anderen ZA, mit 68 Zollanmeldungen, „Streichgarne aus Wolle, nicht in Aufmachung für den Einzelhandel”, zum freien Verkehr abzufertigen. Es handelte sich um Teppichwolle, die aus etwa 6,8 cm langen, gezwirnten und gefärbten, in Teilmengen von etwa 49 g abgepackten Streichgarnabschnitten bestand, und um Fransenwolle im Strang in Kreuzhaspelung. Die Oberfinanzdirektion (OFD) X hatte der Muttergesellschaft zu Händen des späteren Geschäftsführers der Klägerin im Hinblick auf deren Gründung und künftige Importe am 28. November 1958 nach § 63 ZG 1939 eine verbindliche Zollauskunft dahin erteilt, daß die Garnabschnitte zur Tarifstelle 53.06-B-2 gehörten und zum Satz von 6 v. H. des Wertes einfuhrzollbar seien. Zur Begründung hatte sie unter der Überschrift „Tarifierung” ausgeführt:
„Wolle gehört in das Kapital 53, wo Streichgarne aus Wolle, nicht in Aufmachung für den Einzelverkauf, der Tarifnummer 53.06 zuzuweisen sind, während solche in Aufmachung für den Einzelverkauf unter die Tarifnummer 53.10 fallen. Als Garne in Aufmachung für den Einzelverkauf können die vorliegenden Garne nicht gelten, weil sie nach ihrer Beschaffenheit und Aufmachung nicht von der Vorschrift 4 A zu Abschnitt XI erfaßt werden. Es bleibt daher nur übrig, diese Garne – auch wenn sie nicht ausdrücklich unter der Bestimmung des Absatzes B dieser Vorschrift … aufgeführt sind – als nicht in Aufmachung für den Einzelverkauf anzusprechen.”
Unter „unverbindliche Bemerkungen” war ausgeführt, die Ware unterliege der Ausgleichsteuer zum Satze von 4 v. H.
Bei den Abfertigungen wiesen die ZÄ die Ware zunächst der Tarifstelle 53.06-A, vom 26. Februar 1965 an jedoch der Tarifstelle 53.10-B zu. Diese letztere Tarifierung wurde in einem Gutachten der Zolltechnischen Prüfungs- und Lehranstalt (ZPLA) X vom 19. März 1965 mit folgender Begründung bestätigt. Die Ware werde in ihrer vorliegenden Aufmachung weder durch die Tarifnr. 53.06 noch durch die Tarifnr. 53.10 unmittelbar erfaßt. Sie sei daher nach der Allgemeinen Tarifierungsvorschrift (ATV) 5 wie eine ihr am meisten ähnliche Ware zu tarifieren. Die Garnstücke lägen über der für Handarbeitsgarne üblichen Verarbeitungsstufe und seien daher als „Garne in Aufmachung für den Einzelverkauf zu behandeln.
Auf Grund dieses Gutachtens überprüfte das ZA N. die von der Klägerin seit dem 1. Januar 1964 vorgenommenen Einfuhren und stellte lest, daß die Aufmachung der Ware für den Einzelverkauf in den Rechnungen bis zum 25. Mai 1964 bejaht, dann aber verneint worden war. Die daraufhin eingeschaltete Steuerfahndung stellte ein Schreiben der Muttergesellschaft vom 13. Mai 1964 an den inzwischen verstorbenen Geschäftsführer der Klägerin sicher, mit dem bestätigt wurde, daß in den Rechnungen künftig die Frage der Aufmachung für den Einzelverkauf verneint werde. Nach einer bei der Klägerin im März 1966 durchgeführten Betriebsprüfung berichtigte das ZA N. zugleich für die beiden anderen ZÄ durch Steuerbescheid vom 27. Dezember 1966 zahlreiche Steuerbescheide aus dem Zeitraum vom 2. Januar 1964 bis 22. Februar 1966 und forderte Eingangsabgaben in Höhe von insgesamt 176 268,16 DM nach.
Die hiergegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit folgender Begründung ab: Die verbindliche Zollauskunft von 1958 habe Zwar auch als der Klägerin erteilt und von dieser auch hinsichtlich der Tarifierung zunächst als verbindlich angesehen werden können und müssen. Sie habe aber zur Zeit der in Rede stehenden Einfuhren nicht mehr gegolten. Ihre Gültigkeit sei nach § 87 der Allgemeinen Zollordnung (AZO) 1939 durch Änderung der für die Bemessung der Zollschuld maßgebenden Zollsätze, Maßstäbe und sonstigen Vorschriften beendet worden. Außerdem seien mit Ablauf des Jahres 1961 das ZG 1939 und die AZO 1939 durch neue Vorschriften ersetzt worden. Die ZÄ hätten bei der Abfertigung der Ware unstreitig falsch tarifiert und sich dabei noch immer nach der Auskunft von 1958 gerichtet. Hieraus habe die Klägerin aber keinen Anspruch auf Vertrauensschutz erworben, da sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, nach § 23 ZG 1961 eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) einzuholen. Das sei schon wegen des Alters der verbindlichen Zollauskunft von 1958, wegen der inzwischen eingetretenen Änderung der Tarifnummern und wegen des Inkrafttretens des neuen ZG geboten gewesen. Es sei unerheblich, daß die von der Klägerin beauftragte Speditionsfirma in einem Schreiben vom 13. Oktober 1964 auf die Zollauskunft 1958 hingewiesen und dabei Erstattungen erzielt habe. Denn diese Vorgänge hätten nur die Ausgleichsteuer betroffen und dem ZA keinen Anlaß gegeben zu prüfen, ob die Angabe in der Zollanmeldung in bezug auf die Aufmachung der Ware richtig war. Für den Ausgleichsteuersatz sei es nur auf die Frage der Kreuzhaspelung bei der Fransenwolle angekommen. Die Abgabenforderung sei nicht verjährt.
Die Klägerin begründet ihre Revision im wesentlichen wie folgt:
I.
Das FG habe zwar die Tarifierung der Garnabschnitte nicht prüfen müssen, weil beide Verfahrensbeteiligten der Ansicht gewesen seien, daß die spätere Zuweisung zur Tarifstelle 53.10-B richtig gewesen sei. Nach Prüfung der Rechtslage sei sie entgegen ihrer früheren Auflassung nunmehr aber der Meinung, daß die Garnabschnitte gem. der überzeugenden Begründung in der Zollauskunft von 1958 der Tarifstelle 53.06-A zuzuweisen seien. Da die Garnabschnitte als Streichgarne aus Wolle entweder zur Tarifnr. 53.06 oder 53.10 gehörten, sei lediglich die Frage zu entscheiden, ob sie sich in Aufmachung für den Einzelverkauf befunden hätten. Nach der ATV 1 seien für die Tarifierung maßgebend: Der Wortlaut der Tarifnummern mit ihren Anmerkungen, die Vorschriften zu den Abschnitten oder Kapiteln sowie die Allgemeinen Tarifierungsvorschriften. Die letzteren hätten jedoch nur insoweit Geltung zu beanspruchen, als in den Tarifnummern und deren Anmerkungen oder in den Vorschriften zu den Abschnitten oder Kapiteln nichts anderes bestimmt sei. Bei Anwendung dieser in der ATV 1 festgelegten Reihenfolge ergebe sich: Die Frage, welche Garne als für den Einzelverkauf aufgemacht anzusehen sind, sei in den Zolltarifnrn. 53.06 und 53.10 selbst nicht geregelt. Eine abschließende und vollständige Regelung enthalte aber die Vorschrift 4 zu Abschn. XI in ihren Abs. A und B. so daß die ATV 5 nicht mehr hinzugezogen werden könne. Das Hauptzollamt (HZA) irre mit der Auffassung, die ATV 5 sei deshalb anzuwenden, weil die Garnabschnitte weder in Abs. A noch in Abs. B der Vorschrift 4 zu Abschn. XI erwähnt seien. Es übersehe, daß der erwähnte Abs. A den Begriff „Garne in Aufmachung für den Einzelverkauf” definiere, während Abs. B nur die Ausnahmen von Abs. A wiedergebe, also die Aufmachungsart bezeichne, die im Grundsatz nach Abs. A gehörte, aber aus anderen Erwägungen doch nicht als „Garne in Aufmachung für den Einzelverkauf” gelten sollten. Diese Regelung zeige, daß der Gesetzgeber darauf verzichtet habe, auch den Begriff „Garne, nicht in Aufmachung für den Einzelverkauf zu definieren. Wenn daher Garne nach Abs. A nicht als für den Einzelverkauf aufgemacht anzusehen seien, dann gälten sie eben als „Garne, nicht in Aufmachung für den Einzelverkauf”.
Da die Garnabschnitte im Kleinhandel unmittelbar an die Hausfrau abgesetzt würden, liege es zwar nach den Begriffen des Handels nahe, sie als für den Einzelverkauf aufgemacht anzusehen. Hier seien jedoch nur die Begriffe des Zolltarifs maßgebend, selbst wenn sie hinter der Entwicklung der Konsumgewohnheiten zurückbleiben sollten.
II.
Selbst wenn aber die Garnabschnitte zolltariflich als für den Einzelverkauf aufgemacht zu betrachten und der Tarifnr. 53.10 zuzuweisen seien, müsse der Nachforderungsbescheid vom 27. Dezember 1966 wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben aufgehoben werden.
Der Grundsatz, daß sich der Zollbeteiligte gegenüber einer auf Berichtigung der Tarifierung beruhenden Nachforderung nicht auf Treu und Glauben berufen könne, wenn er nicht von der Möglichkeit, eine vZTA einzuholen, Gebrauch gemacht hat, erleide nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) Ausnahmen. Diese Rechtsprechung befasse sich in den Urteilen VII 35/62 vom 9. April 1963 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963 S. 423 – HFR 1963, 423 –), VII 197/63 vom 27. Juli 1965 (HFR 1965, 571), VII 153/61 vom 19. Januar 1966 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 85 S. 370 – BFH 85, 370 –, BStBl III 1966, 341) und VII 64/62 vom 11. Januar 1966 (BFH 85, 66, BStBl III 1966, 235) allerdings mit ganz speziellen Fällen, nicht etwa mit der normalen Abfertigung zum freien Verkehr. In einem weiteren Urteil VII 56/65 vom 7. Mai 1968 (Der Betrieb 1969 S. 191 – DB 1969, 191 –) sei ein Fall entschieden worden, in dem zwei ZA unter Beteiligung von mindestens 10 Beamten in einem Zeitraum von mehr als drei Jahren mehr als 100 Sendungen zum freien Verkehr abgefertigt hätten und zwei nur unverbindliche Zollauskünfte eingeholt worden seien. Der BFH habe die Abgabennachforderung für diejenigen Sendungen als Verstoß gegen Treu und Glauben angesehen, die gegenüber den ZA zutreffend bezeichnet und von diesen trotz einfacher Verhältnisse immer wieder falsch tarifiert worden seien. Aus der Rechtsprechung des BFH ergebe sich insgesamt, daß sich auch derjenige Zollbeteiligte gegenüber einer auf Berichtigung der Tarifauffassung beruhenden Nachforderung auf Treu und Glauben berufen könne, der eine verbindliche Zollauskunft bzw. Zolltarifauskunft nicht eingeholt habe, sofern
- die fehlerhafte Tarifierung sich jahrelang wiederholt habe und deshalb als eine bestimmte Willensäußerung der Verwaltung aufzufassen sei,
- der Verzicht auf Einholung einer verbindlichen Auskunft hinter der Bedeutung besonderer, vom Normalfall abweichender Umstände zurücktrete,
- der Zollbeteiligte gegenüber der Verwaltung zutreffende Angaben gemacht und auch sonst nicht selbst gegen Treu und Glauben verstoßen habe.
Im vorliegenden Falle seien nachdrückliche Willenserklärungen der Verwaltung zu sehen in der verbindlichen Zollauskunft von 1958, in der langjährigen, sich nach dieser richtenden Tarifierungspraxis mehrerer Zollstellen und in mehreren beantragten Ausgleichsteuererstattungen, die den Zollstellen ermöglicht hätten, die Tarifierung zu überprüfen. Eine verbindliche Zollauskunft sei hier sogar eingeholt worden. Daß sie alsbald außer Kraft getreten sei, habe auch die Verwaltung übersehen. Diese habe. immer wieder bekundet, daß sie die verbindliche Zollauskunft für gültig halte, so z. B. in einem Betriebsprüfungsbericht der OFD Y vom Dezember 1960. Selbst bei Kenntnis des Außerkrafttretens habe die Klägerin davon ausgehen dürfen, daß eine neue Auskunft nicht anders ausfallen werde. Denn der alten Auskunft habe die Vorschrift 4 zu Abschn. XI zugrunde gelegen, die im Laufe der Jahre höchstens unwesentlich geändert worden sei. Die Klägerin habe den Zollstellen auch richtige Erklärungen abgegeben. Sie habe die Garnabschnitte nicht nur richtig, sondern auch tarifgerecht angemeldet.
Die Klägerin hat beantragt, das FG-Urteil und den Steuerbescheid vom 27. Dezember 1966 samt der Einspruchsentscheidung aufzuheben, soweit es sich um die streitbefangenen 37 Zollabfertigungen handelt.
Das HZA hat beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es macht nunmehr u. a. geltend, Garne seien praktisch endlose, fadenförmige Gebilde (Koch-Satlow, Großes Textil-Lexikon, Stichwort „Garn”). Weder im Zolltarif noch in den Erläuterungen sei ein Hinweis darauf enthalten, daß aus Garn hergestellte, auf Längen geschnittene und gebündelte Erzeugnisse der Tarifnr. 53.06 oder 53.10 unmittelbar zugewiesen werden könnten. Auch die Tarifnr. 59.06 erfasse die Garnabschnitte nicht, da diese weder mit Schlaufen noch Einfassungen noch mit Zutaten versehen und auch nicht anders weiterverarbeitet worden seien.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
I. Garn ist ein durch Spinnen hergestelltes fadenförmiges Erzeugnis, das zwar in der Regel sehr lang, jedoch keineswegs „praktisch endlos” ist. Denn ein solches Erzeugnis wird nach der Verkehrsauffassung auch dann als Garn (z. B. als Nähgarn, Stopfgarn) angesehen, wenn seine Länge nicht einmal 100 m erreicht. Auch wenn Garn in verhältnismäßig kurze Abschnitte zerlegt wird, bleibt es ein Garn, da sich nichts daran ändert, daß es durch Spinnen hergestellt worden ist und eine fadenförmige Gestalt bat, also im Verhältnis zu seiner Dicke sehr lang ist. Die in Rede stehenden Garnabschnitte sind daher Garne im Sinne der Kapitel 50 bis 57 des Zolltarifs.
Die Klägerin weist zutreffend darauf hin, daß bei der Tarifierung der Garnabschnitte in der durch ATV 1 festgelegten Reihenfolge vorzugehen, also zunächst der Wortlaut der Tarifnummern und ihre Anmerkungen zu beachten ist, dieser aber keinen Aufschluß darüber gibt, ob die Ware als Garn, nicht in Aufmachung für den Einzelverkauf der Tarifnr. 53.06 oder als Garn in Aufmachung für den Einzelverkauf der Tarifnr. 53.10 zuzuweisen ist. Die sodann als maßgebend in Betracht kommende Vorschrift Nr. 4 zu Abschn. XI regelt in Abs. A und B, welche Garne als solche in Aufmachung für den Einzelverkauf „gelten” oder nicht „gelten”. Sie bestimmt nicht, welche Garne solche in Aufmachung für den Einzelverkauf sind oder nicht sind, enthält also keine Begriffsbestimmungen für die beiden Arten von Garnen, sondern lediglich eine kasuistische Anordnung, bestimmte Garne als solche der einen oder der anderen Art anzusehen. Die in Rede stehenden Garnabschnitte werden durch die Aufzählungen in den erwähnten Vorschriften nicht erfaßt. Deshalb ist auf die ATV zurückzugreifen, die in Nr. 5 bestimmen, daß Waren, die durch keine Tarifnummer erfaßt werden, wie Waren zu tarifieren sind, denen sie am meisten ähnlich sind. Die Auffassung des FG, die Garnabschnitte seien am meisten den zum Einzelverkauf aufgemachten Garnen im Sinne der Tarifnr. 53.10 ähnlich, ist nicht zu beanstanden. Gegen sie haben die Beteiligten auch keine Einwendungen erhoben.
Der Umstand, daß die Garnabschnitte wegen ihres unmittelbaren Absatzes an die Hausfrau nach den Begriffen des Handels als für den Einzelverkauf aufgemacht angesehen werden können, ist entgegen der Auffassung der Klägerin auch für die zolltarifliche Beurteilung wesentlich. Denn nach § 1 Abs. 2 und 3 StAnpG ist bei der Auslegung von Steuergesetzen und bei der Beurteilung von Tatbeständen auch die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.
II. Der Nachforderungsbescheid vom 27. Dezember 1966 verstößt nicht gegen Treu und Glauben.
Der Zollbeteiligte kann sich gegenüber einer durch Berichtigung der Tarifierung zum freien Verkehr abgefertigter Waren veranlaßten, auf § 94 Abs. 1 Nr. 1 und § 223 AO beruhenden Eingangsabgabennachforderung grundsätzlich nur dann auf Treu und Glauben berufen, wenn es ihm nicht zuzumuten war, vor dem Abfertigungsantrag eine vZTA einzuholen (BFH-Urteile VII 117/60 U vom 11. Januar 1961, BFH 72, 237, BStBl III 1961, 89; VII 64/62 vom 11. Januar 1966, BFH 85, 66, BStBl III 1966, 235). Besondere Verhältnisse des Einzelfalles können es allerdings rechtfertigen, von diesem Grundsatz eine Ausnahme zu machen. Die Besonderheiten des vorliegenden Falles bestehen darin, daß
- im Jahre 1958 der Muttergesellschaft zu Händen des späteren Geschäftsführers der Klägerin eine verbindliche Zollauskunft über die Garnabschnitte erteilt worden war,
- daß sich die ZÄ vom Januar 1964 bis zum Februar 1965 bei den Abfertigungen noch immer nach dieser verbindlichen Zollauskunft richteten,
- daß die Muttergesellschaft mit Schreiben an den Geschäftsführer der Klägerin vom 13. Mai 1964 bestätigte, daß die Rechnungen künftig den Vermerk „Not put up for retail sale” enthalten würden,
- daß die von der Klägerin beauftragte Speditionsfirma im Schreiben vom 13. Oktober 1964 auf die verbindliche Zollauskunft von 1958 hingewiesen und Ausgleichserstattungen erzielt hat.
Diese Besonderheiten können aber eine Ausnahme von dem erwähnten Grundsatz nicht rechtfertigen.
Die Verbindliche Zollauskunft war nicht von der Klägerin eingeholt und nicht ihr, sondern der Muttergesellschaft erteilt worden. Daran ändert nichts die Tatsache, daß die Gründung der Klägerin Anlaß für die Erteilung der verbindlichen Zollauskunft war und daß sie nach dem Willen der OFD in die Hände des späteren Geschäftsführers der Klägerin gelangen sollte. Entscheidend ist, daß die Klägerin selbst vor den Einfuhren nichts getan hat, um sich gegen die Folgen einer Tarifierungsberichtigung durch Einholung einer verbindlichen Auskunft zu schützen. Die Klägerin konnte auch nicht darauf vertrauen, daß eine im Jahre 1958 erteilte verbindliche Zollauskunft im Jahre 1964 noch gelten werde. Das ergibt sich letztlich daraus, daß am 1. Januar 1962 das ZG 1939 durch ein neues ZG abgelöst wurde. Wegen dieses Ereignisses konnte sich die Klägerin auch auf sonstige vor dem Jahre 1962 liegende Äußerungen der Verwaltung zur Frage der Tarifierung, insbesondere auf den Betriebsprüfungsbericht der OFD Y vom Dezember 1960, nicht verlassen. Gerade wegen der Ablösung des alten ZG durch ein neues und wegen der damit verbundenen Ersetzung des Instituts der sich auf Zollsätze beziehenden verbindlichen Zollauskunft (§ 63 ZG 1939) durch das der sich auf die Tarifstelle beziehende Institut der vZTA (§ 23 ZG 1961) konnte die Klägerin bei Kenntnis des Außerkrafttretens der verbindlichen Zollauskunft von 1958 nicht davon ausgehen, daß eine von ihr eingeholte Auskunft die in der alten Auskunft enthaltene Tarifauffassung bestätigen werde. Die Erwähnung der Vorschrift 4 zu Abschn. XI in der Begründung der alten Auskunft kann hieran schon deshalb nichts ändern, weil nicht ausgeschlossen war, daß eine neue Auskunft eine andere Vorschrift als für die Tarifierung maßgebend behandeln würde.
Für einen Anspruch der Klägerin auf Vertrauensschutz spricht zwar zunächst die Tatsache, daß die ZA die alte verbindliche Zollauskunft so behandelten, als ob sie der Klägerin erteilt und noch wirksam wäre. Die Klägerin muß sich aber andererseits als für die Frage ihres Vertrauensschutzes nachteilig anrechnen lassen, daß sie dem Schreiben der Muttergesellschaft vom 13. Mai 1964 zufolge diese veranlaßte, in den Rechnungen den die Aufmachung für den Einzelverkauf bejahenden Vermerk durch einen sie verneinenden zu ersetzen. Sie hat demnach selbst erkannt, daß die Garnabschnitte angesichts ihrer Bestimmung, unmittelbar an den Verbraucher abgegeben zu werden, von den ZÄ mit hoher Wahrscheinlichkeit als für den Einzelverkauf aufgemachte Ware angesehen werden konnten, und hat durch eine den ZÄ nicht offenbarte Beeinflussung der Muttergesellschaft darauf hingewirkt, daß ein solches Ergebnis verhindert wurde.
Ausgleichsteuererstattungen können auf Umständen beruhen, die mit der zolltariflichen Beurteilung der Ware nichts zu tun haben, insbesondere auf der Anwendung eines falschen Steuersatzes. Die Klägerin hat nicht dargelegt, inwiefern ihre Anträge auf Ausgleichsteuererstattung den ZÄ Anlaß zur Überprüfung der Tarifierung gaben. Sie hat insbesondere nicht die Feststellung des FG angegriffen, daß es bei den Erstattungen nur um die Frage der Kreuzhaspelung ging.
Die den BFH-Urteilen VII 35/62 vom 9. April 1963, VII 197/63 vom 27. Juli 1965, VII 153/61 vom. 19. Januar 1966 und VII 64/62 vom 11. Januar 1966 (a.a.O.) zugrunde liegenden Sachverhalte unterscheiden sich, wie die Klägerin selbst einräumt, von dem vorliegenden Fall besonders dadurch, daß es sich nicht um normale Abfertigungen zum freien Verkehr handelte. Wegen dieses Unterschiedes kann aus diesen Urteilen für die Entscheidung des gegenwärtigen Falles nichts hergeleitet werden. Soweit sich die Klägerin auf das Urteil VII 56/65 vom 7. Mai 1968 beruft, hält ihr das HZA zu Recht entgegen, daß die in ihm behandelte wiederholte Falschtarifierung den Zollstellen trotz einfacher Verhältnisse unterlaufen war, im gegenwärtigen Falle jedoch von einfachen Verhältnissen schon deshalb keine Rede sein kann, weil auch die Klägerin in ihrer Beurteilung der Tariffrage geschwankt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 514819 |
BFHE 1972, 202 |