Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Fehler in vorläufigen Veranlagungen können in vollem Umfang bei der endgültigen Veranlagung richtiggestellt werden.
Eine Ausnahme gilt, wenn das FA durch besondere Umstände in dem Steuerpflichtigen die Vorstellung begründet hat, daß ihm eine - tatsächlich zu Unrecht - gewährte Vergünstigung zustehe und der Steuerpflichtige daraufhin andere mögliche steuerliche Vergünstigungen nicht in Anspruch genommen hat.
Normenkette
EStG § 10a/1/2; AO § 100 Abs. 2
Tatbestand
Bei den endgültigen Veranlagungen zur Einkommensteuer für die Jahre 1954 und 1955 und den vorläufigen Veranlagungen zur Einkommensteuer für die Jahre 1956 bis 1958 gewährte das Finanzamt (FA) dem Revisionskläger (Steuerpflichtigen - Stpfl. -) antragsgemäß die Steuervergünstigungen aus §§ 7 a und 10 a EStG, weil der Stpfl. als rassisch Verfolgter seine Erwerbsgrundlage verloren habe. Nach einer Betriebsprüfung berichtigte das FA die Veranlagungen und gewährte die Vergünstigung des § 10 a EStG nicht mehr; die Vergünstigung des § 7 a EStG beließ es dem Stpfl., weil die begünstigten Wirtschaftsgüter kurzlebig oder bereits veräußert seien. Bei der Einkommensteuerveranlagung 1959 gewährte das FA die Vergünstigung des § 10 a EStG dem Stpfl. ebenfalls nicht.
Auf den Einspruch hob das FA die Berichtigungsbescheide 1954 und 1955 auf und setzte die ursprünglichen Bescheide wieder in Kraft. Die Einsprüche gegen die Berichtigungsbescheide 1956 bis 1958 und den Einkommensteuerbescheid 1959 wies es dagegen als unbegründet zurück.
Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) nahm an, der Stpfl. selbst habe keine Erwerbsgrundlage verloren. Es hielt die Berichtigungen auch für zulässig.
Mit seiner Revision rügt der Stpfl. unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts, insbesondere des § 10 a EStG und der §§ 100, 222 und 225 AO. Er macht geltend, die Berichtigungsbescheide seien auf § 222 bzw. 225 AO gestützt worden. Das FA berufe sich also, wenigstens soweit die Bescheide 1954 bis 1957 in Betracht kämen, selbst nicht auf die Vorläufigkeit. Die Feststellung des FG, die Betriebsprüfung habe noch andere neue Tatsachen ergeben, so daß die Wiederaufrollung auf jeden Fall gerechtfertigt sei, widerspreche den Feststellungen des Betriebsprüfungsberichts. Er habe auch nicht, wie das FG feststelle, wiederholt versprochen, den Nachweis der rassischen Verfolgung zu erbringen. Er habe lediglich einmal in der Einkommensteuererklärung 1955 die Beibringung zugesagt; später habe er immer "amtsbekannt" eingesetzt. Dem FA sei bekannt gewesen, daß er zum Kreis der rassisch Verfolgten gehöre und daß das Unternehmen, das er jetzt mit seiner Mutter und seinem Bruder führe, seinem Vater entzogen worden sei. Das FA verstoße mit der Berichtigung wider Treu und Glauben, weil es ihm jahrelang zu erkennen gegeben habe, daß er mit einer Berichtigung der Bescheide nicht mehr zu rechnen brauche, zumal in dem Bericht über die Betriebsprüfung für die Jahre 1950 bis 1953 ausdrücklich festgestellt worden sei, daß der Gewährung nichts entgegenstehe. Er habe sich in seinen wirtschaftlichen Dispositionen hierauf verlassen und es darum unterlassen, andere steuerliche Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen. Wenn das FG darauf hinweise, daß die berichtigten Bescheide vorläufig gewesen seien, so sei das für den Verstoß gegen Treu und Glauben unerheblich, zumal die Veranlagungen seinerzeit zu Unrecht nur vorläufig durchgeführt worden seien. Im übrigen stehe er nach wie vor auf dem Standpunkt, daß ihm die Vergünstigung des § 10 a EStG gar nicht zu Unrecht gewährt worden sei. Er sei zwar, als im Jahre 1938 seinem Vater die Mitunternehmerschaft an dem inzwischen zurückerstatteten Betrieb entzogen worden sei und seine Familie Deutschland verlassen habe, erst 12 Jahre alt gewesen. Sein Vater sei im Jahre 1945 nach Kriegsende gestorben und sei von der Mutter als Alleinerbin beerbt worden. Er - der Stpfl. - habe durch die Verfolgung seine eigene Erwerbsgrundlage verloren, weil er, wenn es nicht zur Entziehung gekommen wäre, in das väterliche Geschäft eingetreten wäre. Entsprechend den Grundsätzen des Urteils des BFH VI 57-59/60 U vom 16. Dezember 1960 (BStBl 1961 III S. 62, Slg. Bd. 72 S. 167) müsse auch bei ihm der Verlust der Erwerbsgrundlage angenommen werden.
Der Stpfl. beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Aufhebung auch der Einspruchsentscheidung die Steuerfestsetzungen dahin zu ändern, daß die Vergünstigung des § 10 a EStG wieder gewährt wird.
Das FA beantragt, Die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.
Mit Recht hat das FG angenommen, daß dem Stpfl., wenngleich er zu dem Kreis der durch § 10 a EStG begünstigten Personen gehört, die Vergünstigung nicht zusteht, weil er durch die Verfolgung keine eigene Erwerbsgrundlage verloren hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist der Verlust einer Erwerbsgrundlage nur eingetreten, wenn der Steuerpflichtige zur Zeit der Entziehung selbst bereits eine eigene Erwerbsgrundlage besaß. Dafür reicht es nicht aus, daß der Stpfl., wenn die Entziehung nicht eingetreten wäre, bei normalem Ablauf der Dinge wahrscheinlich in dem entzogenen Unternehmen seiner Eltern später eine eigene Erwerbsgrundlage gefunden hätte. Im Streitfall hat nur der Vater des Stpfl. durch die Entziehung des Unternehmens seine Erwerbsgrundlage verloren, nicht aber der Stpfl., der als Jugendlicher zum Familienverband gehörte und einen Unterhaltsanspruch gegen seinen Vater hatte (vgl. die Grundsatzentscheidung des Senats VI 147/60 S vom 23. September 1960, BStBl 1960 III S. 462, Slg. Bd. 71 S. 570). Die Entscheidung VI 57 - 59/60 U (a. a. O.) behandelt einen Sonderfall, der hier nicht vorliegt. Wenn § 10 a EStG neben der Zugehörigkeit zum begünstigten Personenkreis auch den Verlust der Erwerbsgrundlage verlangt, so liegt darin das zusätzliche Erfordernis, daß der Stpfl. durch die Entziehung eine eigene wirtschaftliche Erwerbs- und Existenzgrundlage verloren haben muß. Würde man dem § 10 a EStG die Auslegung geben, die der Stpfl. erstrebt, so wäre dieses Erfordernis gegenstandslos, weil man dann im Grunde bei jedem, wenn er das notwendige Alter gehabt hätte, unterstellen müßte, daß er in absehbarer Zeit selbst eine eigene Erwerbsgrundlage erlangt haben würde und damit bereits zur Zeit der Entziehung eine Erwerbsgrundlage verloren hätte.
Dem FG ist auch darin beizutreten, daß die "Berichtigung" der vorläufigen Bescheide verfahrensrechtlich unbedenklich war. Wenn die an die Stelle der vorläufigen Veranlagungen tretenden endgültigen Veranlagungen nicht auf §§ 100 und 225 AO, sondern auf § 222 AO gestützt worden sind, so ist das nur eine unrichtige Bezeichnung. Entscheidend ist, daß die ursprünglichen Veranlagungen in vollem Umfang vorläufig waren und infolgedessen vor dem Erlaß der endgültigen Steuerbescheide der gesamte Steuerfall neu geprüft und auch ein etwaiger Fehler richtiggestellt werden konnte (Urteil des Senats VI 124/60 U vom 12. Mai 1961, BStBl 1961 III S. 377, Slg. Bd. 73 S. 305). Ob die Veranlagungen zu Recht oder zu Unrecht nur vorläufig gemacht waren, kann hier dahingestellt bleiben; denn wenn ein Steuerpflichtiger die Vorläufigkeit seiner Veranlagung für ungerechtfertigt hält, so muß er das durch ein Rechtsmittel gegenüber dem vorläufigen Bescheid geltend machen. Ist der vorläufige Bescheid rechtskräftig geworden, so kann der Steuerpflichtige mit seinen Einwendungen gegen die Vorläufigkeit nicht mehr gehört werden (Urteil des Senats VI 53/61 U vom 3. Mai 1963, BStBl 1963 III S. 389, Slg. Bd. 77 S. 196).
Der Steuerpflichtige kann sich auch gegenüber der Richtigstellung von Fehlern beim Erlaß endgültiger Steuerbescheide grundsätzlich nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben mit der Begründung berufen, daß er auf die Richtigkeit der vorläufigen Veranlagung vertraut habe, weil der Steuerpflichtige bei vorläufigen Bescheiden immer mit einer änderung rechnen muß. Die Auslegung wirkt übrigens, wie der Senat wiederholt ausgeführt hat, "zweiseitig"; denn auch der Steuerpflichtige ist bei vorläufigen Bescheiden nicht gehindert, vor der endgültigen Veranlagung noch neue Einwendungen zu erheben.
Im Streitfall liegen jedoch besondere Umstände vor, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob das FA die bei den vorläufigen Veranlagungen zu Unrecht gewährte Steuerermäßigung nach § 10 a EStG bei der endgültigen Veranlagung versagen durfte. Auch bei der Wiederaufrollung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO hat der Senat wiederholt ausgesprochen, daß zwar grundsätzlich der gesamte Steuerfall neu zu beurteilen ist und grundsätzlich alle Fehler richtigzustellen sind. Das FA ist aber nach Treu und Glauben an seine frühere Beurteilung gebunden, wenn es zu erkennen gegeben hat, daß der Stpfl. mit einer Nachforderung nicht zu rechnen brauche. Das gleiche gilt, wenn das FA dem Steuerpflichtigen eine Zusage gegeben hat, die der Steuerpflichtige zur Grundlage seiner Dispositionen gemacht hat (vgl. z. B. das Urteil des Senats VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, BStBl 1964 III S. 587, Slg. Bd. 80 S. 314). Im Streitfall hat das FA dadurch, daß es die Vergünstigung des § 10 a EStG bei den vorläufigen Veranlagungen gewährte, dem Stpfl. keine Zusage gegeben oder erkennen lassen, daß der Stpfl. mit Nachforderungen nicht zu rechnen brauchte. Der Stpfl. beruft sich aber mit Recht darauf, daß bei der Betriebsprüfung für die Jahre 1950 bis 1953 sein Recht zur Inanspruchnahme der Vergünstigung des § 10 a EStG ausdrücklich festgestellt wurde und Gegenstand der Schlußbesprechung war. Wie sich aus den Akten ergibt, hat das FA, offenbar weil es damals den Begriff "Verlust der Erwerbsgrundlage" in § 10 a EStG weiter faßte als später, keine Unterlagen vom Stpfl. angefordert oder keine Zweifel geäußert, ob der Stpfl. eine Erwerbsgrundlage verloren habe. Damals sind die Fä noch weithin davon ausgegangen, daß auch Jugendliche, die zum Kreis der rassisch Verfolgten gehörten, durch die Entziehung des elterlichen Betriebs ihre Erwerbsgrundlage verloren hätten. Die Zweifelsfrage wurde erst durch die Entscheidung des Senats VI 147/60 S (a. a. O.) endgültig geklärt. Unter diesen Umständen liegt die Annahme nahe, daß das FA bei der Gewährung der Vergünstigung früher einem Rechtsirrtum unterlegen ist. Es hat jedenfalls bei den damaligen Veranlagungen alle für die Beurteilung erheblichen Umstände gekannt. Wollte man dem FA gestatten, diesen Rechtsirrtum nachträglich zu korrigieren, so würde dadurch der Stpfl. in nicht wieder gut zu machender Weise benachteiligt. Hätte das FA damals bereits den Stpfl. darauf hingewiesen, daß ihm die Vergünstigung des § 10 a EStG nicht zustehe, so hätte der Stpfl., wie er vorträgt, vielleicht seine Entnahmen aus dem Betrieb erhöhen und zu anderen steuerbegünstigten Maßnahmen, z. B. zur steuerbegünstigten Kapitalansammlung oder zum steuerbegünstigten Wohnungsbau, verwenden können. Es gelten hier ähnliche Rechtsgrundsätze, wie sie der Senat im Urteil VI 299/63 U (a. a. O.) für das steuerbegünstigte Sparen eines Bankiers bei seiner eigenen Bank ausgesprochen hat.
Das angefochtene Urteil war danach wegen möglichen Rechtsirrtums aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif und wird zur nochmaligen Entscheidung an das FG zurückverwiesen, das zu prüfen hat, ob der Stpfl. wahrscheinlich, wenn das FA ihn rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht hätte, daß ihm die Vergünstigung aus § 10 a EStG nicht zustehe, aus dem Betrieb höhere Entnahmen gemacht und in irgendeiner Form steuerbegünstigt angelegt hätte. Dabei spielt es auch eine Rolle, ob höhere Entnahmen aus dem Betrieb wirtschaftlich möglich gewesen wären und ob der Stpfl. nicht bereits alle anderen Möglichkeiten der Steuerbegünstigung ausgenutzt hatte.
Fundstellen
Haufe-Index 412073 |
BStBl III 1966, 519 |
BFHE 1966, 437 |
BFHE 85, 437 |