Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachzahlungszinsen bzw. Erstattungszinsen: Zweck des § 233a AO 1977, auch bei rückwirkend entstehenden Steuerschulden, Änderung der Rechtsprechung, rückwirkende Erhöhung der Körperschaftsteuer aufgrund von Gewinnausschüttungen, Abschöpfung eines Zins- und Liquiditätsvorteils, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers - Abweichung eines Senats des BFH von einem im Vollziehungsaussetzungsverfahren ergangenen BFH-Beschluß eines anderen Senats ohne Vorlage an den Großen Senat zulässig
Leitsatz (amtlich)
Steuernachforderungen sind auch dann gemäß § 233a AO 1977 zu verzinsen, wenn sich diese aus einer Steuerfestsetzung ergeben, durch die die ursprüngliche Steuerfestsetzung rückwirkend gemäß § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 geändert worden ist. Der Umstand, daß sich für den Steuerschuldner aufgrund der bisherigen Steuerfestsetzung kein Zinsvorteil oder Liquiditätsvorteil ergeben hat, steht dem nicht entgegen.
Orientierungssatz
1. Abweichung von dem im Vollziehungsaussetzungsverfahren ergangenen Beschluß des VIII. Senats des BFH vom 27.9.1994 VIII B 21/94.
2. Für die Verzinsung nach § 233a AO 1977 ist es unbeachtlich, ob die Steuer in einem Erstbescheid oder in einem Änderungs- oder Berichtigungsbescheid festgesetzt wird oder aus welchen Gründen es zu einer Änderung oder Berichtigung der Steuerfestsetzung kommt.
3. Die Verzinsung nach § 233a AO 19977 ist auch dann vorzunehmen, wenn der Steuerbescheid aufgrund nachträglich eingetretener Umstände geändert wird. Zu solchen nachträglichen Umständen gehören auch Gewinnausschüttungen, die erst nach Ablauf des betreffenden Wirtschaftsjahres beschlossen werden und die sich gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 KStG über die Herstellung der Ausschüttungsbelastung auf die Körperschaftsteuerfestsetzung dieses Jahres auswirken. Dies gilt auch dann, wenn die dadurch bedingte Änderung der Körperschaftsteuer für das abgelaufene Wirtschaftsjahr darauf beruht, daß die beschlossene Gewinnausschüttung gemäß § 28 Abs. 2 KStG mit dem verwendbaren Eigenkapital zum Schluß des abgelaufenen Wirtschaftsjahres zu verrechnen ist (Abschn. 78 Abs. 2 Satz 2 KStR 1985, Abs. 3 Satz 3 KStR 1996).
4. § 233a AO 1977 soll Zins- und Liquiditätsvorteile abzuschöpfen. Wenn dieser Gesetzesplan im Gesetz jedoch nicht durchgängig verwirklicht worden ist, steht es den Finanzgerichten nicht zu, korrigierend einzugreifen. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, einen Gesetzeszweck "perfekt" mit ins einzelne gehenden Festlegungen gesetzlich umzusetzen. Er hat aber auch die Gestaltungsfreiheit, hierauf --nicht zuletzt aus Gründen des vereinfachten Gesetzesvollzuges-- zu verzichten. Wirkt sich dies zu Lasten des Steuerpflichtigen aus, ist es dann Sache der Verwaltung und der Gerichte, etwaige Wertungsüberhänge durch Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall abzufangen. Anderenfalls muß das Gesetz geändert werden.
5. Ein Senat des BFH darf von einem --zur Aussetzung der Vollziehung ergangenen, Rechtsfragen nicht abschließend entscheidenden-- Beschluß eines anderen Senats des BFH ohne Anfrage gemäß § 11 Abs.2 FGO abweichen (vgl. BFH-Urteil vom 27.6.1968 V R 128/66).
Normenkette
AO 1977 §§ 163, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, §§ 227, 233a Abs. 1, 5; FGO § 11 Abs. 2; KStG 1977 § 27 Abs. 3 S. 1, § 28 Abs. 2; KStR 1985 Abschn. 78 Abs. 2 S. 2; KStR 1996 Abschn. 78 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 01.02.1996; Aktenzeichen 6 K 186/95; EFG 1996, 411; LEXinform-Nr. 0144412) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, wendet sich gegen die Festsetzung von Nachzahlungszinsen zur Körperschaftsteuer 1989 gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977). Dieser Festsetzung liegt die folgende Entwicklung zugrunde:
-
Durch Bescheid vom 2. Mai 1991 hatte der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die
Körperschaftsteuer 1989 auf 56 631 DM festgesetzt und
dabei eine am 14. März 1991 von der Klägerin für 1989
beschlossene Gewinnausschüttung von 100 000 DM
berücksichtigt.
- Durch weiteren Bescheid vom 26. Juli 1991 wurden die
zunächst auf 72 188 DM festgesetzten
Körperschaftsteuervorauszahlungen für 1990 auf Antrag der
Klägerin auf 44 303 DM herabgesetzt.
- Durch Bescheid vom 3. Januar 1992 wurde die
Körperschaftsteuer 1990 festgesetzt. Sie wich um jenen
Betrag von 3 842 DM von den
Körperschaftsteuervorauszahlungen ab, um die diese durch
Bescheid vom 26. Juli 1991 zu hoch festgesetzt worden
waren. Der Erstattungsbetrag wurde verrechnet.
- Durch Bescheid vom 14. Januar 1992 änderte das FA den
Bescheid vom 2. Mai 1991 und erhöhte die
Körperschaftsteuer 1989 um 3 842 DM auf nunmehr 60 473 DM.
Zugrunde lag die am 27. Juni 1991 beschlossene
Gewinnausschüttung der Klägerin für 1990 in Höhe von 70
000 DM, die sich auf die Gliederung des verwendbaren
Eigenkapitals auswirkte (vgl. Abschn. 78 Abs. 2 der
Körperschaftsteuer-Richtlinien --KStR-- 1985). Daraus
folgte ein Nachforderungsbetrag von 3 842 DM, auf den das
FA für den Zeitraum vom 1. April 1991 bis zum 17. Februar
1992 Zinsen gemäß § 233a AO 1977 in Höhe von 190 DM
festsetzte.
Die gegen die Zinsfestsetzung gerichtete Klage hatte Erfolg
(Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1996, 411).
Das FA rügt mit seiner Revision Verletzung von § 233a AO 1977.
Es beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klageabweisung. Das FG hat zu Unrecht das Vorliegen der Zinspflicht verneint.
1. Nach § 233a Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sind Nachzahlungszinsen auf Steuern zu erheben, wenn die Festsetzung der Steuer zu einer Steuernachforderung führt. Es ist dabei ohne Bedeutung, ob die Steuer in einem Erstbescheid oder in einem Änderungs- oder Berichtigungsbescheid festgesetzt wird. Dies ergibt sich aus § 233a Abs. 5 AO 1977, wonach bisherige Zinsfestsetzungen zu ändern sind, wenn die Steuerfestsetzung aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO 1977 berichtigt wird. Geht man vom Wortlaut dieser Regelung aus, ist es unbeachtlich, aus welchen Gründen es zu einer Änderung oder Berichtigung der Steuerfestsetzung kommt. Dementsprechend gehen die Finanzverwaltung und überwiegend auch das Schrifttum davon aus, daß der Zinslauf u.a. auch dann 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, beginnt, wenn die Änderung auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 beruht. Diese Vorschrift stellt die Rechtsgrundlage für die Änderung von Steuerbescheiden aufgrund nachträglicher Umstände dar. Zu solchen nachträglichen Umständen gehören auch Gewinnausschüttungen, die erst nach Ablauf des betreffenden Wirtschaftsjahres beschlossen werden und die sich gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) über die Herstellung der Ausschüttungsbelastung (§ 27 Abs. 1 KStG) auf die Körperschaftsteuerfestsetzung dieses Jahres auswirken (vgl. Dötsch in Dötsch/Eversberg/Jost/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 27 KStG Rz. 127). Dies gilt auch dann, wenn die dadurch bedingte Änderung der Körperschaftsteuer für das abgelaufene Wirtschaftsjahr --wie im Streitfall-- darauf beruht, daß die beschlossene Gewinnausschüttung gemäß § 28 Abs. 2 KStG mit dem verwendbaren Eigenkapital zum Schluß des abgelaufenen Wirtschaftsjahres zu verrechnen ist (Abschn. 78 Abs. 2 Satz 2 KStR 1985, Abs. 3 Satz 3 KStR 1996).
2. a) Diesem Verständnis haben der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Beschluß vom 27. September 1994 VIII B 21/94, BFHE 175, 516) und --diesem folgend-- die Vorinstanz aber Sinn und Zweck der Verzinsung nach § 233a AO 1977 entgegengehalten. Entscheidend für die Verzinsung einer Steuernachforderung sei, daß dieser eine "verzinsliche" Steuerschuld zugrunde liege. Nur dann könne der Steuerschuldner Zins- oder Liquiditätsvorteile erlangen, die es über die Zinspflicht abzuschöpfen gelte. Eine Steuerschuld aber, deren Tatbestandsmerkmale erst mehr als 15 Monate nach ihrer rückwirkenden Entstehung erfüllt werden, wäre von diesem Zweck nicht mehr erfaßt. Eine solche Steuer habe nicht mehr innerhalb der Karenzzeit festgesetzt werden können. Demnach ergäben sich weder Liquiditätsnachteile zu Lasten des Fiskus noch Liquiditätsvorteile zugunsten des Steuerpflichtigen.
b) Der erkennende Senat folgt dieser Betrachtungsweise nicht. Der Gesetzgeber hat die Erhebung der Zinsen in § 233a AO 1977 nach dem Sollprinzip ausgestaltet. Das bedeutet, daß ihr ein Vergleich des Vorsolls mit dem endgültigen Soll zugrunde zu legen ist (BTDrucks 8/1410, Tz. 7.2; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 233a AO 1977 Tz. 10, m.w.N.). Dem entspricht es, wenn das Gesetz die Zinspflicht letztlich unterschiedslos an das Entstehen einer Nachforderung durch die Festsetzung der Steuer (§ 233a Abs. 1, 3 und 5 AO 1977) anknüpft und lediglich den Beginn des Zinslaufs in § 233a Abs. 3 AO 1977 vom Zeitpunkt des Entstehens der Steuer abhängig macht. Weitere Einschränkungen bestehen nicht. Zwar entspricht es Sinn und Zweck der Zinsregelungen in § 233a AO 1977, Zins- und Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, die - -im Falle der Steuernachforderung-- der Steuerschuldner und --im Falle der Steuererstattung-- der Fiskus erzielt. Wenn dieser Gesetzesplan im Gesetz jedoch nicht durchgängig verwirklicht worden ist, steht es den Finanzgerichten nicht zu, korrigierend einzugreifen. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, einen Gesetzeszweck "perfekt" mit ins einzelne gehenden Festlegungen gesetzlich umzusetzen. Er hat aber auch die Gestaltungsfreiheit, hierauf --nicht zuletzt aus Gründen des vereinfachten Gesetzesvollzuges-- zu verzichten. Wirkt sich dies zu Lasten des Steuerpflichtigen aus, ist es dann Sache der Verwaltung und der Gerichte, etwaige Wertungsüberhänge durch Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall abzufangen. Anderenfalls muß das Gesetz geändert werden, wie dies für den vorliegend streitigen Sachverhalt nunmehr auch durch das Jahressteuergesetz 1997 (JStG 1997) geschehen ist (§ 233a Abs. 2 a i.d.F. von Nr. 27 zu Art. 20 Nr. 4 JStG 1997, vgl. dazu auch BTDrucks 13/5359, S. 130 und S. 145).
c) Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn auch solche Steuernachforderungen der Verzinsung gemäß § 233a AO 1977 unterworfen werden, die aus rückwirkenden Ereignissen resultieren, obwohl sich für den Zeitraum bis zum Eintritt dieses rückwirkenden Ereignisses --wie im Streitfall für den Zeitraum bis zu dem Gewinnausschüttungsbeschluß für 1990 am 27. Juni 1991 und der sich daraus ergebenden Erhöhung der Körperschaftsteuer 1989-- aufgrund der bisherigen Steuerfestsetzung kein tatsächlicher Zins- oder Liquidationsvorteil ergeben hat und auch nicht ergeben konnte (überwiegende Ansicht, vgl. Hundt-Eßwein in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 233a Tz. 48; Baum, Der Betrieb 1993, 1491, 1492; Melchior, Deutsches Steuerrecht 1995, 82, 85; Krabbe in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 233a Tz. 25/1; Hoch, Deutsche Steuer-Zeitung 1997, 484; Günther in Kühr/Flockermann, Handbuch des Abgabenrechts, § 233a Rdnr. 30; Schwarz, Abgabenordnung, § 233a Rdnrn. 14 und 27; Stahl, Kölner Steuer-Dialog 1991, 8348, 8351 f., m.w.N.; Bundesministerium der Finanzen, Erlaß vom 3. August 1994 IV A 4 -S 0062- 12/94, BStBl I 1994, 472, Tz. 26; a.A. --zum vergleichbaren Fall von § 10d des Einkommensteuergesetzes-- Tipke/Kruse, a.a.O., 15. Aufl., § 233a AO 1977 Tz. 19; Hahn/Iwanek, Vollverzinsung, Rdnr. 86; Hoch, a.a.O.). Desgleichen kann es nicht darauf ankommen, daß infolge der Anpassung der Körperschaftsteuer-Vorauszahlung für 1990 durch Bescheid vom 26. Juli 1991 auf 44 303 DM jener Nachzahlungsbetrag, der sich aus dem geänderten Körperschaftsteuerbescheid 1989 vom 14. Januar 1992 gegenüber der ursprünglichen Festsetzung vom 2. Mai 1991 ergab, der Belastung nach vollen Umfangs von 3 842 DM ausgeglichen worden ist. Dadurch mag ein Billigkeitserweis durch das FA veranlaßt sein. Im Wege der Auslegung des Gesetzes läßt sich ein der Klägerin günstiges Ergebnis indes nicht erreichen.
d) Der Senat weicht mit seiner Entscheidung vom Beschluß des VIII. Senats des BFH in BFHE 175, 516 ab. Allerdings betrifft dieser nur eine Aussetzung der Vollziehung, ohne jedoch Rechtsfragen abschließend zu beurteilen. Einer Anfrage gemäß § 11 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bedarf es deshalb nicht (BFH-Urteil vom 27. Juni 1968 V R 128/66, BFHE 92, 144, BStBl II 1968, 488; Tipke/Kruse, a.a.O., § 11 FGO Tz. 2).
3. Die Vorinstanz ist von einer anderen Auffassung ausgegangen als der Senat. Ihr Urteil war deshalb aufzuheben. Der Senat kann durcherkennen und die Klage mangels sonstiger geltend gemachter oder erkennbarer Fehler des angefochtenen Zinsbescheides abweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 66744 |
BFH/NV 1998, 97 |
BFH/NV 1998, 97-98 (Leitsatz und Gründe) |
BStBl II 1997, 714 |
BFHE 183, 33 |
BFHE 1998, 33 |
BB 1997, 2260 (Leitsatz) |
DB 1997, 2259-2260 (Leitsatz und Gründe) |
DStR 1997, 1686-1687 (Leitsatz und Gründe) |
DStRE 1997, 943 (Leitsatz) |
DStZ 1997, 870 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1998, 6 |
StE 1997, 691 (Leitsatz) |