Leitsatz (amtlich)
1. Die Aufforderung - bzw. das Unterlassen - des Vorsitzenden, Schriftsätze einzureichen, ist eine Maßnahme der Prozeßleitung. Sie ist für sich nicht anfechtbar, kann jedoch u. U. im Zusammenhang mit der Rüge anderer Verfahrensmängel (so mangelndes rechtliches Gehör, ungenügende Sachaufklärung) beanstandet werden. Wird ein Schriftsatz entgegen § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO der Gegenpartei nicht von Amts wegen zugestellt, so könnten nur deren Rechte, nicht die der absendenden Partei verletzt sein.
2. Zu den Einkünften im Sinne des § 54 LAG, die bei der Prüfung der Voraussetzungen für einen Erlaß wegen Alters oder Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen sind, gehören unter anderem die Rentenbezüge des Abgabeschuldners aus der gesetzlichen Angestellten- und der Invalidenversicherung.
Normenkette
FGO § 77 Abs. 1; LAG § 54
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger, der selbst auf Grund eines unanfechtbar gewordenen Vermögensabgabe-Veranlagungsbescheides vom 14. Dezember 1956 zur Zahlung eines Vierteljahrsbetrages von 87,05 DM abzüglich Familienermäßigung (15 bzw. 10 DM) herangezogen worden ist und der als Miterbe nach seiner verstorbenen Mutter auch deren Vermögensabgabe-Vierteljahrsbetrag in Höhe von ursprünglich 137,50 DM, späterhin geändert auf 88,40 DM, zu einem Halbanteil mitzuentrichten hat, stellte erstmalig am 11. November 1961 den Antrag, ihm für das Kalenderjahr 1961 die nach § 54 LAG wegen Alters und Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Vergünstigungen - Stundung mit dem Ziel des Erlasses - einzuräumen. Das FA lehnte zunächst durch schriftlichen Bescheid vom 2. Februar 1962 eine Stundung der Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge für das Kalenderjahr 1961 ab. Es wiederholte diese ablehnende Entscheidung späterhin durch eine unter Verwendung des amtlichen Vordrucks erlassene Verfügung vom 5. Februar 1963, änderte die Verfügung aber auf Grund eines vom Kläger eingelegten Rechtsbehelfs durch eine nach § 304 AO a. F. vorgenommene Berichtigung vom 30. Juli 1964 dahin ab, daß es für das Kalenderjahr 1961 eine Teilstundung der auf die verstorbene Mutter des Klägers entfallenden Vierteljahrsbeträge in Höhe von 24,60 DM gewährte. Über den gegen diesen berichtigten Bescheid erneut eingelegten Rechtsbehelf vom 25. August 1964 entschied das FA nicht, sondern trat in eine Prüfung der Erlaßmöglichkeiten nach dem neugefaßten § 54 LAG ein. Dabei errechnete es gemäß den Anweisungen der Verwaltungsanordnung vom 23. Dezember 1964 (BStBl I 1965, 4 ff.) für den dreijährigen Erlaßzeitraum vom 1. Januar 1961 bis 31. Dezember 1963 die nach Abzug der für eine bescheidene Lebensführung unerläßlichen Beträge von den Jahreseinkünften verbleibenden Überschußbeträge auf 1 275 DM für 1961, auf 4 088 DM für 1962 und auf 5 479 DM für 1963. Da aus diesen nach der Berechnung des FA dem Kläger verbleibenden Beträgen die in den Kalenderjahren 1961 bis 1963 von ihm zu entrichtenden Vierteljahrsbeträge in Höhe von jeweils 661,80 DM voll hätten entrichtet werden können, lehnte das FA einen Erlaß der Vermögensabgabe auf Grund des § 54 LAG für den gesamten Erlaßzeitraum durch Verfügung vom 23. März 1966 ab.
Gegen die Entscheidung des FA legte der Kläger Einspruch ein, der erfolglos blieb.
Mit der Klage gegen die Einspruchsentscheidung wendete sich der Kläger gegen den Ansatz seiner Rentenbezüge unter den ihm zur Verfügung stehenden Jahreseinkünften; er beanstandete weiterhin die Kürzung der von ihm geltend gemachten Ausgaben, insbesondere der Aufwendungen für Diätkost, und machte schließlich geltend, daß das FA bei der Berechnung der in jedem Kalenderjahr fällig gewordenen Vierteljahrsbeträge deshalb von einer zu niedrigen Summe ausgegangen sei, weil es statt des ursprünglich gegen seine Mutter festgesetzten Vierteljahrsbetrages von 137,50 DM den später auf Grund der Berichtigung ihres Vermögensabgabe-Bescheides ermäßigten Vierteljahrsbetrag von 88,40 DM zugrunde gelegt habe.
Das FG wies die Klage nach mündlicher Verhandlung am 26. April 1968 ab. Obwohl das FG statt des vom FA angesetzten Betrages von 144 DM für Diätkost des Klägers den Höchstsatz von 720 DM als Ausgabeposten anerkannte, gelangte es doch zu einer Zurückweisung des Klagebegehrens, weil trotz dieser Erhöhung der Ausgaben die verbleibenden Mittel aus den Einnahmen des Klägers, zu denen das FG unter Ablehnung der gegenteiligen Ansicht des Klägers auch die von ihm bezogene Angestelltenrente zählte, ausreichten, um die vom FG auf 623,20 DM berechnete Summe der vom Kläger innerhalb eines Kalenderjahres zu entrichtenden Vierteljahrszahlungen zu erbringen. Den Streitwert der Klage setzte das FG durch einen gleichzeitig erlassenen Beschluß auf 485 DM fest.
Gegen das am 26. April 1968 erlassene Urteil des FG richtet sich die Revision des Klägers, mit der er als Verfahrensverstoß eine Verletzung der Vorschrift des § 77 FGO durch das FG rügt. Darüber hinaus bestreitet er, im Jahre 1961 Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bezogen zu haben, und hält es für unzulässig, seine Rente bei "den ihm zur Verfügung stehenden Einnahmen" anzusetzen. Im übrigen macht er zusätzliche Grundstücksaufwendungen unter anderem für Grundsteuer, Hausversicherung, Hypothekenzinsen sowie nicht näher bezifferte Ausgaben für Fahrten, Schreibmaterial, Telefon, Licht und Kohlen geltend.
Der Kläger beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils, der Einspruchsentscheidung des FA und des einen Erlaß gemäß § 54 LAG ablehnenden Bescheids des FA vom 23. März 1966. Er begehrt wegen Alters oder Erwerbsunfähigkeit den vollen Erlaß der Vermögensabgabe für den Erlaßzeitraum 1961 bis 1963 nach § 54 LAG.
Der Beklagte beantragt kostenpflichtige Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Trotz Streitwertfestsetzung des FG auf nur 485 DM ist die Revision zulässig. Der Senat hat selbst die Zulässigkeit der Revision zu prüfen. Insbesondere hat er die Höhe des Streitwerts für die Revisionsinstanz in eigener Zuständigkeit zu ermitteln. Dabei ist er an die Streitwertfestsetzung des FG nicht gebunden, die im Streitfall unzutreffend ist. Gegenstand des Streites ist, wie schon das FA in seiner Einspruchsentscheidung zutreffend ausgeführt hat, die den Erlaß der Vermögensabgabe-Vierteljahrsleistungen ablehnende Verfügung des FA vom 23. März 1966, nicht die vorangegangene Stundungsverfügung vom 30. Juli 1964, gegen die der Kläger ebenfalls einen Rechtsbehelf eingelegt hat. Auch das FG geht in seinem Urteil davon aus, daß die angefochtene Erlaßentscheidung des FA Gegenstand des anhängigen Verfahrens sei. Infolgedessen ist nicht nur der Erlaß der Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge für das Kalenderjahr 1961, sondern ebenso der Erlaß der Vermögensabgabe für die Kalenderjahre 1962 und 1963 im Streit; denn entsprechend der Vorschrift des § 54 Abs. 4 LAG in der ab 1. Januar 1961 maßgebenden Neufassung hatte das FA in der angefochtenen Verfügung über den dreijährigen Erlaßzeitraum vom 1. Januar 1961 bis 31. Dezember 1963 entschieden. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich, daß sein Klagebegehren auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung des FA gerichtet ist. Da Gegenstand dieser Entscheidung der ablehnende Erlaßbescheid vom 23. März 1966 gewesen ist, der für den 3-Jahres-Zeitraum von 1961 bis 1963 ergangen war, bildet die Gesamtverfügung für den Erlaßzeitraum vom 1. Januar 1961 bis 31. Dezember 1963 den Streitgegenstand des Klageverfahrens. Dem steht nicht entgegen, daß die vorangegangene Stundungsverfügung nur für das Jahr 1961 ergangen war. Denn diese Verfügung ist nicht Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens. Ist die Gewährung eines Abgabenerlasses streitig, so ist als Streitwert der volle, vom Kläger erstrebte Erlaßbetrag zugrunde zu legen, der selbst bei Berücksichtigung des durch Berichtigung ermäßigten Vermögensabgabe-Vierteljahrsbetrages für die Mutter des Klägers jährlich mindestens 485 DM beträgt, so daß sich für den dreijährigen Erlaßzeitraum ein Streitwert von mindestens 1 455 DM ergibt. Die Revisionssumme wird daher im Streitfall erreicht.
Die Revision ist jedoch unbegründet.
Die vom Kläger vorgebrachte Verfahrensrüge greift nicht durch. Der Kläger will den Verfahrensverstoß vor allem darin erblicken, daß der Vorsitzende des Gerichts den Beklagten nicht zur schriftlichen Erwiderung der zur Klagebegründung eingereichten Schriftsätze vom 25. Februar, 9. März, 28. März und 14. April 1967 aufgefordert habe. Dabei übersieht er jedoch, daß in § 77 Abs. 1 Satz 2 FGO dem Vorsitzenden des Gerichts nur die Befugnis eingeräumt wird, eine solche Anordnung zu treffen, daß es aber grundsätzlich in das Ermessen des Vorsitzenden gestellt ist, ob er von diesem Recht Gebrauch machen will oder nicht. Da es sich insoweit um Maßnahmen der Prozeßleitung handelt, ist die Entscheidung des Vorsitzenden nicht selbständig anfechtbar. Sie könnte allenfalls im Zusammenhang mit der Rüge anderer Verfahrensmängel (mangelndes rechtliches Gehör, ungenügende Sachaufklärung u. a. ) beanstandet werden. Darüber hinaus verkennt der Kläger die Bedeutung einer solchen Anordnung des Vorsitzenden auch insofern, als das FA selbst im Falle einer solchen Aufforderung zur Stellungnahme nicht zur Abgabe schriftsätzlicher Gegenäußerungen gezwungen werden kann (vgl. Kühn, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Bem. 1 zu § 77 FGO). Nimmt das FA als Beklagter die etwa eintretenden nachteiligen Prozeßfolgen unterlassener schriftlicher Gegenäußerungen in Kauf, so kann es die Beantwortung der klägerischen Schriftsätze selbst dann unterlassen und sich ggf. auf Gegenerklärungen in der mündlichen Verhandlung beschränken, wenn der Vorsitzende des Gerichts eine Aufforderung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 FGO erlassen hat. Allerdings müssen dem Beklagten die Schriftsätze des Klägers grundsätzlich gemäß § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO zugestellt werden. Selbst wenn aber im Streitfalle die Zustellung des einen oder anderen vom Kläger eingereichten Schriftsatzes an den Beklagten unterblieben sein sollte, so würden damit ggf. nur die Belange des Beklagten verletzt sein, nicht diejenigen des Klägers. Mängel in der Aufklärung des Sachverhalts, die der Kläger dem Gericht in diesem Zusammenhang vorwerfen will, wären aber schon deshalb als geheilt zu betrachten, weil die am 26. April 1968 abgehaltene mündliche Verhandlung, zu der der Kläger laut protokollarischer Feststellung des Gerichts ordnungsmäßig geladen war, ausreichende Gelegenheit zur Erörterung der Sach- und Rechtslage geboten hätte.
Auch die Einwendungen der Revision gegen die materiell-rechtliche Beurteilung des Streitfalls durch die Vorinstanz gehen fehl. Bei der Prüfung der Frage, ob die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Abgabepflichtigen ausreicht, die Belastung durch die von ihm zu erbringenden Vermögensabgabe-Vierteljahrsraten zu tragen, müssen grundsätzlich seine gesamten der Einkommensbesteuerung unterliegenden Einkünfte - ungeachtet etwaiger Steuerbefreiungen -, also auch Bezüge aus einer Angestelltenrente sowie Miet- und Pachteinkünfte und ähnliches erfaßt werden. Dies bedeutet weder einen Verstoß gegen Art. 6 GG noch eine Art "Doppelbesteuerung", wie der Kläger meint; denn die Prüfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dient nicht der Durchführung neuer Besteuerungsmaßnahmen, sondern nur der Feststellung, ob die aus ganz anderen wirtschaftlichen Tatbeständen - nämlich dem Besitz vermögensabgabepflichtigen Vermögens - hergeleitete Abgabepflicht mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Pflichtigen erfüllt werden kann. Daß dabei die familiären Verhältnisse und Beziehungen des Abgabepflichtigen mitberücksichtigt werden, erweist sich in der Regel eher als ein Vorteil für den Abgabepflichtigen, nicht als ein Nachteil; denn regelmäßig sind die für den Lebensunterhalt der Familienangehörigen zu berücksichtigenden Aufwendungen (die hierfür vorgesehenen Pauschbeträge) höher als die bei der Dekkung der notwendigen Lebenshaltungskosten mitzuberücksichtigenden Einkünfte der übrigen Familienmitglieder. Das gilt auch für den Streitfall. Soweit der Kläger für das Jahr 1961 den Eingang von Miet- und Pachteinkünften in Abrede stellt, übersieht er, daß das FA in seiner Erlaßentscheidung für 1961 lediglich den Mietwert der eigengenutzten Wohnräume in Ansatz gebracht hat, dessen Höhe insoweit vom Abgabepflichtigen nicht angezweifelt worden ist.
Die vom Kläger erneut geltend gemachten Kostenbeträge führen zu keiner vom FG abweichenden Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Klägers. Die Kosten für den Lebensunterhalt des Abgabepflichtigen und seiner Familienangehörigen sind einschließlich der Diät- und Kurkosten des Klägers (720 DM und 453,80 DM) vom FG uneingeschränkt berücksichtigt worden, mit Ausnahme des in der Revision geltend gemachten Werbungskostenpauschbetrages von 200 DM, der lediglich im Rahmen der Einkommensteuer-Veranlagung zu berücksichtigen wäre. Neben diesen pauschal mit 5 400 DM angesetzten Kosten der Lebensführung können weitere Aufwendungen dafür nicht besonders geltend gemacht werden, weil sie mit den generell zugelassenen Pauschbeträgen für die Lebenshaltung des Antragstellers und seiner Familie bereits abgegolten sind. Die weiterhin angegebenen Hausunkosten sind, soweit nachgewiesen, bereits als Werbungskosten beim Ansatz der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mit insgesamt 613,03 DM in Abzug gebracht worden. Das Ergebnis der vom FA und FG für 1961 angestellten Überschußberechnung ist zutreffend. Die Ablehnung des Erlasses ist daher nicht zu beanstanden.
Da bei etwa gleichbleibender Kostenlage die Einkünfte des Klägers in den Kalenderjahren 1962 und 1963 erheblich gestiegen waren, bedurfte es durch das FG keiner weiteren Begründung der ablehnenden Erlaßentscheidung für die Kalenderjahre 1962 und 1963.
Fundstellen
Haufe-Index 69164 |
BStBl II 1970, 853 |
BFHE 1971, 160 |