Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorrang des § 17 vor § 22 Nr. 2, § 23 EStG - Veräußerung i.S. des § 17 EStG: unentgeltliche Übertragung von wertlosen Anteilen, Schenkung von Anteilen
Leitsatz (amtlich)
§ 17 EStG hat Vorrang vor § 22 Nr.2, § 23 EStG. Daher ist der Ausgleich eines Verlustes aus der Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung ohne die Einschränkung des § 23 Abs.4 Satz 3 EStG zulässig (Änderung der Rechtsprechung).
Orientierungssatz
Keine Veräußerung i.S. des § 17 Abs. 1 EStG liegt vor, wenn GmbH-Anteile ohne jede Gegenleistung, also unentgeltlich, übertragen werden (Erwerb unter Lebenden durch Schenkung). Die Übertragung von objektiv wertlosen GmbH-Anteilen ohne Gegenleistung ist allerdings noch als Grenzfall der Veräußerung i.S. des § 17 EStG zuzurechnen (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
EStG § 2 Abs. 1 S. 1 Nrn. 2, 7, S. 2, § 22 Nr. 2, § 23 Abs. 3-4, § 17 Abs. 1
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein bei dem Verkauf eines GmbH-Geschäftsanteils eingetretener Veräußerungsverlust den Gesamtbetrag der Einkünfte mindert.
Mit Vertrag vom 27.Dezember 1982 erwarb der Kläger und Revisionskläger (Kläger) 33 v.H. der Geschäftsanteile der D GmbH in B (Stammkapital 75 000 DM) zum Nennwert von 25 000 DM. Am 14.Juni 1983 übertrug er seinen Anteil an den Mitgesellschafter D zum Preis von 25 DM.
Für das Streitjahr 1983 beantragte er die Berücksichtigung eines Veräußerungsverlustes (§ 17 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) von 24 975 DM (25 000 DM ./. 25 DM). Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erkannte diesen Verlust nicht an; § 17 EStG sei nicht einschlägig, da ein Spekulationsgeschäft (§ 23 EStG) vorliege.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Nach dem Wortlaut des Vertrages vom 14.Juni 1983 habe der Kläger seinen Geschäftsanteil verkauft. Es könne aber offenbleiben, ob die Vertragsparteien ein entgeltliches oder ein unentgeltliches Geschäft getätigt hätten. Bei einem unentgeltlichen Geschäft greife § 17 EStG ebensowenig ein (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17.Juli 1980 IV R 15/76, BFHE 131, 329, BStBl II 1981, 11) wie bei einem entgeltlichen. Nach der zutreffenden ständigen Rechtsprechung des BFH gehe § 23 EStG dem § 17 EStG vor.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA den geänderten Einkommensteuerbescheid vom 10.Dezember 1991 erlassen, der nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Verfahrens geworden ist.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den angefochtenen Steuerbescheid in der Weise abzuändern, daß ein Verlust aus der Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung in Höhe von 24 975 DM anerkannt wird.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Der Bundesminister der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten. Er vertrat in seiner Stellungnahme die Auffassung, § 23 EStG gebühre vor § 17 EStG der Vorrang.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Herabsetzung der Einkommensteuer gemäß dem Klageantrag.
Zu Unrecht hat das FG die Ausgleichsfähigkeit des Veräußerungsverlustes auf der Rechtsgrundlage des § 23 Abs.4 Satz 3 EStG verneint. Nach Auffassung des erkennenden Senats gelten die allgemeinen Grundsätze über die Verlustkompensation ohne die in § 23 Abs.4 Satz 3 EStG angeordnete Beschränkung. Der Veräußerungsvorgang fällt unter § 17 EStG und ist daher dem Regelungsbereich des § 23 EStG entzogen (§ 23 Abs.3 EStG).
1. Nach § 17 Abs.1 Sätze 1 und 2 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn --unter weiteren hier nicht streitigen Voraussetzungen-- der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Veräußerungsgewinn ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt (§ 17 Abs.2 Satz 1 EStG).
Spekulationsgeschäfte i.S. des § 23 Abs.1 Nr.1 Buchst.b EStG hingegen sind Veräußerungsgeschäfte, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als sechs Monate beträgt. Ein Spekulationsgeschäft liegt nicht vor, "wenn Wirtschaftsgüter veräußert werden, deren Wert bei Einkünften im Sinne des § 2 Abs.1 Nr.1 bis 6 EStG anzusetzen ist" (§ 23 Abs.3 EStG). Verluste aus Spekulationsgeschäften dürfen nur bis zur Höhe des Spekulationsgewinns, den der Steuerpflichtige im gleichen Kalenderjahr bezogen hat, ausgeglichen werden (§ 23 Abs.4 Satz 3, 1.Halbsatz EStG).
2. Der vom Kläger geltend gemachte Verlust ist durch die Veräußerung des Geschäftsanteils entstanden. Keine Veräußerung i.S. des § 17 Abs.1 EStG liegt vor, wenn Anteile ohne jede Gegenleistung, also unentgeltlich, übertragen werden (vgl. BFH- Urteil in BFHE 131, 329, 332, BStBl II 1981, 11). Letzteres ist der Fall bei einem Erwerb unter Lebenden durch Schenkung. Für die Annahme einer schenkweisen Anteilsübertragung sind hier Anhaltspunkte nicht ersichtlich. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Vertragsbeteiligten eine --in Anbetracht einer angenommenen Wertlosigkeit der Geschäftsanteile freilich eher symbolische-- Gegenleistung vereinbart haben. Es liegt somit der Fall vor, daß die Übertragung der sowohl in den Augen der Parteien als auch objektiv wertlosen Anteile noch als Grenzfall der Veräußerung i.S. des § 17 Abs.1 EStG zuzurechnen ist (vgl. BFH-Urteile vom 5.März 1991 VIII R 163/86, BFHE 164, 50, BStBl II 1991, 630; vom 18.August 1992 VIII R 13/90, BFHE 169, 90, BStBl II 1993, 34).
3. Für eine Versagung der geltend gemachten Verlustverrechnung fehlt die gesetzliche Grundlage. Die in § 23 Abs.4 EStG ausnahmsweise für Verlustausgleich und Verlustabzug vorgesehenen Beschränkungen gelten ausdrücklich nur für Verluste aus Spekulationsgeschäften. Spekulationsgeschäfte liegen aber gemäß § 23 Abs.3 EStG nicht vor, wenn Wirtschaftsgüter veräußert werden, deren Wert bei den Einkünften i.S. des § 2 Abs.1 Nr.1 bis 6 EStG anzusetzen ist. Solches ist durch § 17 EStG angeordnet.
4. Nach bisher vom BFH vertretener Auffassung ist § 23 EStG das gegenüber § 17 EStG spezielle Gesetz.
a) Ist die Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die nicht zu einem Betriebsvermögen gehören, ein Spekulationsgeschäft i.S. des § 23 EStG, so soll diese Vorschrift nach bisheriger Rechtsprechung auch dann anzuwenden sein, wenn die veräußerten Anteile eine wesentliche Beteiligung i.S. des § 17 Abs.1 EStG darstellen (BFH-Urteile vom 6.Februar 1970 VI R 186/67, BFHE 98, 346, BStBl II 1970, 400; vom 28.Februar 1974 VIII R 83/69, BFHE 112, 574, BStBl II 1974, 706). Die Rechtsprechung begründet dies --unter Bezugnahme auf die zu §§ 41, 42 EStG 1925, § 23 EStG 1934 ergangene Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs --RFH-- (u.a. RFH-Urteile vom 4.August 1937 VI A 362/37, RFHE 42, 72, RStBl 1938, 82; vom 9.April 1941 VI 112/41, RStBl 1941, 443; zur Entwicklung der Rechtsprechung Scholz, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1965, 705)-- wie folgt:
Es diene der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, wenn alle Fälle gleich behandelt würden, in denen die Voraussetzungen des zu den "primär geregelten" Steuertatbeständen gehörenden § 23 EStG vorlägen; es sei unerheblich, wenn (zufällig) auch die Voraussetzungen des gewerbliche Einkünfte nur fingierenden § 17 EStG gegeben seien. Diesen grundlegenden Erwägungen gebühre der Vorrang vor einer Interpretation "rein nach dem Wortlaut" des EStG; ihr stehe insbesondere auch § 23 Abs.3 EStG nicht entgegen.
Bis zum Inkrafttreten des EStG 1934 habe sich diese Rechtslage unmittelbar aus dem Gesetz ergeben (§ 41 Abs.1 Nr.1 EStG 1925). Zwar habe das EStG 1934 die den §§ 41, 42 EStG 1925 ff. entsprechenden Vorschriften (§ 22 Nr.2, § 23 EStG 1934) neugefaßt. Hätte indes der Gesetzgeber das Verhältnis der jetzigen §§ 17 und 23 EStG zueinander ändern wollen, so könne angenommen werden, daß darüber in der ausführlichen Begründung zum EStG 1934 etwas gesagt worden wäre; dies sei aber nicht der Fall. § 23 Abs.3 EStG gehe mit seiner "ungewöhnlich weiten" Wortfassung offenbar weit über das verfolgte Ziel hinaus. Eine Auslegung der Vorschrift nach ihrem Sinn ergebe, daß sie sich nur auf solche Einkünfte --hier: aus Gewerbebetrieb-- beziehe, "die ihrer Art nach und nicht erst durch die Fiktion des § 17 EStG" gewerbliche Einkünfte seien.
b) Der BFH hat im Urteil vom 13.Dezember 1989 I R 25/86 (BFHE 159, 449, 451, BStBl II 1990, 1056) ausdrücklich offengelassen, ob § 23 Abs.1 Nr.1 Buchst.b EStG vorrangig anzuwenden ist, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen sowohl dieser Norm als auch des § 17 Abs.1 EStG erfüllt sind: Diese Frage stelle sich im Urteilsfall schon deshalb nicht, weil die Verwirklichung des Tatbestandes des § 23 Abs.1 Nr.1 Buchst.b EStG im Streitfall nicht zu inländischen Einkünften i.S. des § 49 EStG führe. Der unterstellte lex- specialis-Charakter des § 23 EStG beziehe sich nur auf die Rechtsfolge der Vorschrift. Die Rechtsfolge des § 23 EStG verdränge diejenige des § 17 EStG, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen beider Vorschriften erfüllt seien; greife die Rechtsfolge des § 23 EStG nicht ein, so könne die Vorschrift die des § 17 Abs.1 EStG nicht verdrängen. Diese Ausführungen des I.Senats können schon in Hinblick auf ihren deutlich betonten hypothetischen Charakter nicht als ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung und Verwaltungsauffassung verstanden werden.
c) Die Verwaltung hat sich der Rechtsprechung des BFH angeschlossen (Abschn. 140 Abs.2 und Abschn. 169 Abs.4 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 1990). Die Auffassung im Schrifttum ist geteilt. Einen Vorrang des § 17 EStG dagegen befürworten Felix (DStJG 5, 1982, 111; ders. Finanz-Rundschau --FR-- 1990, 497; ders. Betriebs-Berater --BB-- 1990, 1104); Fitsch (Lademann/ Söffing/Brockhoff, Einkommensteuergesetz, § 23 EStG Anm.13); Frotscher (Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 17 Anm.14); Groß (Der Betrieb --DB-- 1990, 1003); Knobbe- Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 8.Aufl. 1991, § 24 I 6, S.831 f.; Lang (Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1988 S.257), Littmann (DStR 1975, 46), Loritz (Einkommensteuerrecht, 1988, Rdnr.499), Meyer-Scharenberg (DStR 1990, 430), Schick (Anmerkungen zur Steuerrechtsprechung --StRK-Anm.-- Einkommensteuergesetz -bis 1974- § 23 Rechtsspruch 38), Stöcker (Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 1986, 151) und Tipke/Lang (Steuerrecht, 13.Aufl. 1991, 375). Einen Vorrang des § 23 EStG nehmen an Beater, Steuer und Wirtschaft (StuW) 1992, 151; Blümich/Ebling (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Kommentar, § 17 EStG Anm.34); L. Schmidt (Einkommensteuergesetz, Kommentar, 11.Aufl., 1992, § 17 Anm.6c); Stuhrmann (Hartmann/Böttcher/ Nissen/Bordewin, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 17 Rdnr.14).
5. Der erkennende Senat folgt nicht der Auffassung des VIII.Senats in BFHE 112, 574, BStBl II 1974, 706. § 17 EStG hat Vorrang vor § 23 EStG.
Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Dagegen ist nicht entscheidend die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg nicht allein ausgeräumt werden können (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 21.Mai 1952 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299, 312; vom 19.Juni 1973 1 BvL 39/69 und 14/72, BVerfGE 35, 263, 278). Hiervon geht auch der BFH in ständiger Rechtsprechung aus.
a) Die Subsidiarität des § 23 EStG im Verhältnis zu § 17 EStG folgt aus dem Wortlaut des § 23 Abs.3 EStG. Dieser gibt, wie nahezu einhellig anerkannt wird, auf die hier erörterte Rechtsfrage eine eindeutige Antwort (Schick, StRK-Anm. EStG --bis 1974--, § 23 Rechtsspruch 38; vgl. ferner Herrmann/Heuer/ Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 17 EStG Anm.26; Hörger in Littmann/ Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, 13.Aufl., § 17 EStG Rdnr.6; Wacker in Littmann/ Bitz/Meincke, a.a.O., § 23 EStG Rdnr.9a; Groß, DB 1990, 1003, 1004). Zu welcher Einkunftsart die Einkünfte im einzelnen Falle gehören, bestimmt sich nach den §§ 13 bis 24 EStG (§ 2 Abs.1 Satz 2 EStG). Nach der ausdrücklichen Anordnung des § 17 Abs.1 Satz 1 EStG "gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb" auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften bei wesentlicher Beteiligung. Dies ergibt sich ferner aus der den §§ 15 bis 17 EStG vorangestellten Überschrift "Gewerbebetrieb (§ 2 Abs.1 Nr.2)".
Für eine Subsidiarität des § 17 EStG läßt sich auch nicht anführen, daß der "Wert" von veräußerten Wirtschaftsgütern bei Einkünften nicht angesetzt werden könne. Das Gegenteil trifft zu: Dieses Tatbestandsmerkmal des § 23 Abs.3 EStG ist bei der Anwendung des § 17 Abs.2 Satz 1 EStG erfüllt. Für die in dieser Vorschrift vorgeschriebene Ermittlung des Veräußerungsgewinns werden als "Werte" der wesentlichen Beteiligung die Anschaffungskosten und der sich im Veräußerungspreis ausdrückende Wert "angesetzt".
b) Spekulationsgewinne gehören nach § 22 Nr.2 EStG zu den sonstigen Einkünften i.S. des § 2 Abs.1 Nr.7 EStG, die nach § 22 Abs.1 Nr.1 EStG nur solche Erträge erfassen, die nicht bereits durch den Katalog des § 2 Abs.1 Satz 1 Nr.1 bis 6 EStG geregelt werden. § 22 EStG hat subsidiären Charakter und ist nur anwendbar, wenn nicht die Steuerbarkeit nach § 2 Abs.1 Satz 1 Nr.1 bis 6 EStG gegeben ist. Dies hat bereits der RFH aus der Bezeichnung als "sonstige" Einkünfte gefolgert (RFH-Urteil vom 7.Mai 1941 VI 91/40, RStBl 1941, 553; zu wiederkehrenden Bezügen nach § 22 Nr.1 EStG BFH-Urteil vom 25.März 1976 IV R 174/73, BFHE 118, 572, BStBl II 1976, 487; s. ferner Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, § 22 Anm.2; Lang, a.a.O., S.512 ff.).
c) Der aus dem Wortlaut des § 23 Abs.3 EStG ersichtliche Norminhalt kann nicht einschränkend ausgelegt werden. Eine Einschränkung aufgrund teleologischer oder systematischer Erwägungen würde voraussetzen, daß Sinn und Zweck und/oder die Stellung der Vorschrift im System eine solche einschränkende Interpretation gebieten.
Daran fehlt es hier: Eindeutige, im Gesetz selbst zum Ausdruck kommende (vgl. BFH-Urteil vom 20.Oktober 1983 IV R 175/79, BFHE 139, 561, BStBl II 1984, 221) Anhaltspunkte, die -- den Wortlaut des § 23 Abs.3 EStG einschränkend-- dem Sinnverständnis des Gesetzes eine bestimmte Richtung weisen würden, sind nicht ersichtlich.
d) Insbesondere hält der Senat das der Auslegung nach Systemgesichtspunkten zuzuordnende Argument, § 17 EStG enthalte lediglich eine Fiktion gewerblicher Einkünfte, für nicht tragfähig. Es gibt keine "eigentlichen" Einkünfte aus Gewerbebetrieb, die in §§ 15 und 16 EStG geregelt und in systematischer wie teleologischer Hinsicht von den in § 17 EStG geregelten gewerblichen Einkünften zu unterscheiden wären.
Der in § 17 EStG angeordneten Steuerbarkeit liegt die Vorstellung zugrunde, daß das Halten und die Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung wirtschaftlich dem Einzelunternehmen und der Beteiligung an einer OHG "sehr nahesteht" (Amtliche Begründung zum EStG 1925, RTDrucks III.Wahlperiode 1924/25, Drucks Nr. 795, S.55, 56; vgl. ferner Begründung zum Steueränderungsgesetz --StÄndG-- 1965 vom 14.Mai 1965, BGBl I 1965, 377, BTDrucks IV/2400, 69): Der wesentlich Beteiligte soll einem Mitunternehmer gleichgestellt werden (vgl. ferner Tipke, StuW 1971, 2, 9 ff.; Groß, DB 1990, 1003, 1004 m.w.N.). Das BVerfG hat in seinem Beschluß vom 7.Oktober 1969 2 BvL 3/66, 2 BvR 701/64 (BVerfGE 27, 111, 128 ff., BStBl II 1970, 160) zur Verfassungsmäßigkeit des § 17 EStG ausgeführt, die "Nähe einer Beteiligung zur Geschäftsführung der Gesellschaft, ihr möglicher Einfluß auf die Ausschüttungs- und Rücklagenpolitik ... und damit die Möglichkeit, die Voraussetzungen für die Entstehung von Veräußerungsgewinnen planmäßig herbeizuführen oder doch hierbei entscheidend mitzuwirken", könne bereits als ausreichender Grund dafür angesehen werden, "Veräußerungsgewinne bei Beteiligungen von bestimmter Höhe als 'wesentlicher' und 'steuerwürdiger' zu erklären"; die steuerrechtliche "Wesentlichkeit" der eine Sperrminorität vermittelnden Beteiligung werde im Steuerrecht auch sonst (§ 11 Abs.3 des Bewertungsgesetzes --BewG-- 1965; § 9 des Körperschaftsteuergesetzes --KStG--) anerkannt.
e) Auf dieser gedanklichen Grundlage läßt sich der durch § 17 EStG umschriebene Lebenssachverhalt als gewerbliche Betätigung erfassen. Diese unterliegt nach § 2 Abs.1 EStG der Einkommensteuer, wobei die Zuordnung zu der Einkunftsart "Gewinne aus Gewerbebetrieb" sich nach § 17 EStG bestimmt (§ 2 Abs.1 Satz 2 EStG). Der Anwendung des § 17 EStG sind die Grundaussagen des § 2 Abs.1 EStG über die Steuerbarkeit des Einkommens vorgegeben (vgl. hierzu Kirchhof in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 2 Rdnr.A 16 ff., 642 ff.). Tatbestandsvoraussetzung des § 2 Abs.1 EStG ist --grundsätzlich-- das "Erzielen von Einkünften", nämlich eine auf Erwerb gerichtete Tätigkeit (vgl. Kirchhof, a.a.O., § 2 Rdnr.A 38, 79 ff.). Für den Regelfall ist davon auszugehen, daß der wesentlich Beteiligte eine entsprechende Absicht der Gewinnerzielung hat, auch wenn die Gewinnerzielung bei kurzer Dauer der Beteiligung im Einzelfall in den Hintergrund treten kann.
f) Der BMF weist darauf hin, daß Einkünfte aus im Privatvermögen gehaltenen Beteiligungen als Einkünfte aus Kapitalvermögen zu versteuern seien; hieran zeige sich, daß § 17 EStG eine Gleichstellung des wesentlich Beteiligten mit einem Mitunternehmer gerade nicht vollziehe und Veräußerungsgewinne in systematischer Hinsicht zu den sonstigen Einkünften gehörten. Dieser Einwand verkennt, daß der Steuergesetzgeber bei der Ausformung von Steuertatbeständen im Rahmen der durch die Verfassung gezogenen Grenzen frei ist. Er konnte in § 17 EStG einen vergleichsweise schmalen Sachverhaltsausschnitt als Besteuerungsobjekt bestimmen, bei dessen positiv-rechtlicher Beschreibung und Zuordnung zum Katalog der Einkünfte das Erzielen von laufenden Einkünften und deren ertragsteuerrechtliche Behandlung außer Betracht bleiben. Die Auffassung des BMF, die Stellung des § 17 EStG unter der Überschrift "Gewerbebetrieb" sei in systematischer Hinsicht verfehlt, enthält eine rechtspolitische Kritik, welcher der Senat bei der Rechtsanwendung nicht Rechnung tragen kann.
g) Die Gegenmeinung kann sich auch nicht mit Erfolg auf die Entstehungsgeschichte des § 17 EStG berufen, weil ein etwaiger vom objektivierten Gesetzessinn abweichender Wille des Gesetzgebers im Gesetz selbst nicht einmal andeutungsweise zum Ausdruck gekommen ist. Wenn die Entstehungsgeschichte überhaupt etwas für die Problemlösung hergibt, dann allenfalls als Bestätigung für die vom Senat vertretene Auffassung: § 17 Abs.5 EStG in der bis zum Jahre 1964 geltenden Fassung sah --insoweit seit § 30 Abs.3 EStG 1925 und § 17 EStG 1934 unverändert-- vor, daß Verluste, die bei der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft entstanden waren, bei der Ermittlung des Einkommens nicht ausgeglichen werden durften. § 17 EStG wurde neugefaßt durch das StÄndG 1965. Dabei entfiel auf Vorschlag des Finanzausschusses des Bundestages (BTDrucks z u IV/3189, 8) die Beschränkung des Verlustausgleichs mit der Begründung, daß "auch bei der Veräußerung des Anteils an einer Personengesellschaft Veräußerungsverluste unbeschränkt ausgleichsfähig sind". Diese vom Gesetzgeber gewollte Gleichstellung würde nicht erreicht, wenn bei der Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung gewerbliche Einkünfte erst nach Überschreiten einer Spekulationsfrist von sechs Monaten angenommen würden.
6. In der praktischen Auswirkung geht es vor allem darum, ob die innerhalb der Spekulationsfrist des § 23 Abs.1 Nr.1 Buchst.b EStG bewirkte Anschaffung und Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung der Steuer nur unter Berücksichtigung der Freibetragsregelung des § 17 Abs.3 EStG und des ermäßigten Steuersatzes des § 34 Abs.2 Nr.1 EStG unterliegt; die hierin liegende Bevorzugung gegenüber der Besteuerung des Spekulationsgeschäftes soll nach dem Urteil in BFHE 112, 574, BStBl II 1974, 706 dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung widerstreiten. Des weiteren sei es nicht vertretbar, daß Spekulationsverluste vom Verlustausgleichs- und Verlustrücktragsverbot des § 23 Abs.4 Satz 3 EStG ausgenommen sind. Weiterhin geht es um die Frage der Freigrenze nach § 23 Abs.4 Satz 2 EStG einerseits und des quotalen Freibetrags nach § 17 Abs.3 EStG andererseits sowie um die Anwendung der Bagatellgrenze von 1 v.H. der Beteiligung gemäß § 17 Abs.1 Satz 1 EStG. Den aus diesen rechtlichen Folgewirkungen hergeleiteten Bedenken kann indes nicht durch eine die Grenzen des Gesetzeswortlauts überschreitende Interpretation des § 23 Abs.3 EStG Rechnung getragen werden.
a) Steht die Anteilsveräußerung i.S. des § 17 EStG der Veräußerung des Anteils an einer Personengesellschaft nahe, ist es folgerichtig, in gleicher Weise wie bei Anwendung des § 16 EStG einen Veräußerungsverlust zum Ausgleich mit anderen Einkünften zuzulassen. Dadurch werden zwar die Einkünfte aus § 17 EStG gegenüber denen aus § 23 EStG "begünstigt"; dies folgt aber aus der systematischen Zuweisung zu den gewerblichen Einkünften; hier ist zu berücksichtigen, daß diese Einkünfte "auf lange Sicht" insgesamt einem strengeren Zugriff der Besteuerung unterliegen als Spekulationseinkünfte.
Das BVerfG hat in BVerfGE 27, 111, 130 entschieden, daß § 17 Abs.1 Sätze 1 und 3 EStG 1965 auch nicht deswegen gegen Art.3 Abs.1 des Grundgesetzes (GG) verstieß, weil § 17 Abs.5 EStG 1958 einen Verlustausgleich ausgeschlossen hatte; die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung verschiedener Veräußerungsfälle war, so das BVerfG, jedenfalls nicht willkürlich. Solches gilt nach Auffassung des Senats erst recht hinsichtlich der unterschiedlichen Behandlung von gewerblichen Verlusten einerseits und Spekulationsverlusten andererseits.
b) Die vom Senat vertretene Auffassung widerspricht nicht dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Innerhalb der vom Willkürverbot gezogenen Grenzen bestimmt der Steuergesetzgeber selbst, welche Sachverhalte in welchem Umfang zu besteuern sind und was hierbei als gleich und ungleich anzusehen ist. Die Subsidiarität des § 23 EStG kann weder generell noch im Verhältnis zu § 17 EStG als willkürlich angesehen werden.
c) Sollte eine Unabgestimmtheit darin liegen, daß der Gewinn aus der kurzfristigen Spekulation mit wesentlichen Beteiligungen i.S. des § 17 EStG dem ermäßigten Steuersatz (§ 34 Abs.2 Nr.1 EStG) unterliegt, nicht aber ebensolche Gewinne aus der Spekulation mit anderen Wirtschaftsgütern, so kann diese verfassungsrechtlich noch nicht relevante Unabgestimmtheit nicht dadurch behoben werden, daß mittels eines richterlichen Eingriffs in die Abgrenzung der Gesetzestatbestände (§§ 17, 23 EStG) die Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit korrigiert wird.
7. Gerade im Streitfall ist nichts dafür ersichtlich, daß der Kläger die wesentliche Beteiligung an der D GmbH nicht in Gewinnerzielungsabsicht erworben hätte. Vielmehr gehörte die Beteiligung an der GmbH zu seiner Erwerbsgrundlage. Das damit verfolgte wirtschaftliche Engagement, das der Gesetzgeber als gewerblich einstuft, hat zu einem Verlust geführt.
8. Der VIII.Senat des BFH hat der Abweichung von seinem Urteil in BFHE 112, 574, BStBl II 1974, 706 zugestimmt. Der VI.Senat des BFH hat seine Zuständigkeit für die Auslegung der §§ 17, 23 EStG verloren und kann im Rahmen seiner jetzigen Zuständigkeit mit dieser Rechtsmaterie nicht mehr befaßt werden.
9. Die Sache ist spruchreif. Die Einkommensteuer lt. angefochtenem Steuerbescheid ist antragsgemäß wie folgt herabzusetzen: ...
Fundstellen
Haufe-Index 64152 |
BFH/NV 1993, 10 |
BStBl II 1993, 292 |
BFHE 169, 357 |
BFHE 1993, 347 |
BB 1993, 489 |
BB 1993, 489-491 (LT) |
DB 1993, 132-134 (LT) |
DStR 1993, 125 (KT) |
DStZ 1993, 120 (KT) |
StE 1993, 26 (K) |