Leitsatz (amtlich)
1. Die Vorschrift des § 279 Abs. 1 ZPO (Zurückweisung nachträglich vorgebrachter Angriffs- oder Verteidigungsmittel als verspätet) ist im finanzgerichtlichen Verfahren nicht sinngemäß anwendbar.
2. Die Versäumung einer unter Hinweis auf § 65 Abs. 2 FGO gesetzten Frist ist jedenfalls dann keine Versäumung einer Ausschlußfrist, wenn die Frist nicht vom Vorsitzenden, sondern vom Berichterstatter gesetzt wurde.
Normenkette
FGO §§ 65, 76 Abs. 1, § 155; ZPO § 279 Abs. 1
Tatbestand
Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage beantragten die Steuerpflichtigen Aufhebung der Steuerbescheide zunächst lediglich mit der Begründung, die Gewinne seien weitaus zu hoch geschätzt worden. Der Aufforderung des Berichterstatters des zuständigen Senats beim FG, zahlenmäßig anzugeben, inwieweit sie sich durch die angefochtenen Bescheide in ihren Rechten verletzt fühlten, und die zur Begründung dienenden Tatsachen zu benennen, kamen die Steuerpflichtigen innerhalb der unter Hinweis auf § 65 Abs. 2, § 77 Abs. 1 und 2 FGO gesetzten Frist nicht nach. Erst mit einem beim FG am Tage der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz vom 23. September 1968 machten die Steuerpflichtigen nähere Angaben darüber, weshalb ihrer Auffassung nach den streitigen Bescheiden um insgesamt rd. 9 700 DM zu hohe Gewinne zugrunde gelegt worden seien.
Die Klage wurde als unbegründet abgewiesen. Das FG führte aus, die Steuerpflichtigen hätten in der Klageschrift weder den Streitgegenstand konkret bezeichnet noch die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben. Die Klage habe daher nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 65 Abs. 1 FGO entsprochen. Der Mangel sei auch nicht innerhalb der gesetzten Frist beseitigt worden. Ihrer Verpflichtung, die mündliche Verhandlung rechtzeitig durch Schriftsätze vorzubereiten, seien die Steuerpflichtigen ebenfalls nicht nachgekommen. Die erstmals im Schriftsatz vom 23. September 1968 vorgebrachten Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte seien nach § 155 FGO in Verbindung mit § 279 ZPO als verspätet zurückzuweisen. Die sinngemäße Anwendung des § 279 ZPO auch im finanzgerichtlichen Verfahren sei nicht durch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Zivilprozeß und Steuerprozeß ausgeschlossen (Hinweis auf Martens, Steuer und Wirtschaft 1967 Sp. 369 ff.). Nach § 279 ZPO könnten nachträglich vorgebrachte Angriffs- und Verteidigungsmittel, deren Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, u. a. dann zurückgewiesen werden, wenn sie aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden seien. Dieser Fall sei hier gegeben. Abgesehen von dem nicht zu beachtenden verspäteten Vorbringen seien keine Umstände ersichtlich, die die Klage als begründet erscheinen ließen.
Mit der Revision wird Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG beantragt. Es werden Verfahrensmängel, darunter auch fehlerhafte Anwendung des § 279 ZPO gerügt.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Die Verfahrensrüge der Steuerpflichtigen, das FG habe zu Unrecht unter Berufung auf § 155 FGO, § 279 ZPO das im Schriftsatz vom 23. September 1968 enthaltene Klagevorbringen als verspätet zurückgewiesen, ist begründet.
Im finanzgerichtlichen Prozeß entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 FGO), wobei es die bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel zu berücksichtigen hat (§ 155 FGO in Verbindung mit § 278 Abs. 1 ZPO). Im Gegensatz zu dem im Zivilprozeß geltenden Beibringungsgrundsatz gilt im Prozeß vor dem FG wie überhaupt im Verwaltungsprozeß der Amtsermittlungsgrundsatz, d. h., das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 FGO, § 86 Abs. 1 VwGO). Zwar steht im Verwaltungsprozeß der Ermittlungspflicht des Gerichts eine Mitwirkungspflicht der am Verfahren Beteiligten gegenüber, während andererseits in dem vom Beibringungsgrundsatz beherrschten Zivilprozeß gleichwohl die Beteiligten der Wahrheitspflicht unterliegen und im übrigen in gewissem Umfange auch eine Aufklärungspflicht des Gerichts besteht (§ 139 ZPO). Insofern ist Martens (a. a. O.) zuzustimmen, daß in der praktischen Auswirkung die Gegensätzlichkeit der im Verwaltungsprozeß einerseits und im Zivilprozeß andererseits geltenden Prozeßmaximen abgeschwächt wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß diese Gegensätzlichkeit nicht auf Teilgebieten des Verfahrens so groß sein kann, daß - wovon der Gesetzgeber auch ausgeht (§ 155 FGO, § 173 VwGO) - sich eine Übernahme zivilprozessualer Vorschriften zur Ausfüllung vermeintlicher Gesetzeslükken verbietet.
Die Ermittlungspflicht zwingt das FG zwar nicht dazu, allen erdenklichen, von den Beteiligten nicht erwähnten Möglichkeiten nachzuspüren. Insoweit besteht kein Streit darüber, daß der Umfang der Ermittlungspflicht in dem Maße abnimmt, als die Beteiligten eine ihnen billigerweise zuzumutende Mitwirkung im Prozeß unterlassen. Das FG hat aber alles das, was ihm bis zur Urteilsfällung zur Kenntnis gelangt ist, bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Es ist dabei im Rahmen des Klagebegehrens weder an die Anträge und das Vorbringen noch an sonstige Dispositionen der Beteiligten gebunden (§ 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 FGO). Deshalb gibt es im Steuerprozeß keine formellen Beweisregeln, kein Geständnis, keinen Prozeßvergleich, kein Versäumnisurteil. Deshalb ist auch in einem vom Ermittlungsgrundsatz beherrschten Prozeß die Anwendung der Vorschrift des § 279 Abs. 1 ZPO über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens ausgeschlossen (h. M.; vgl. Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., FGO § 76 Anm. 3 Abs. 2; Tipke-Kruse, Reichabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 2. bis 4. Aufl., FGO § 77, § 155 Anm. 4; Leusmann, Deutsches Steuerrecht 1968 S. 179; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 4. Aufl., § 86 Rdnr. 31; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., § 86 Anm. V; Schunk-de Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 2. Aufl., § 86 Anm. 4 b; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Aufl., § 279 Anm. 4). Es würde dem Amtsermittlungsgrundsatz widersprechen, wenn das FG befugt wäre, ihm - in welchem Stadium des Verfahrens auch immer - zur Kenntnis gelangte Umstände, die für die Entscheidung des Streitfalls bedeutsam sein könnten, nicht zu beachten. Die Prozeßlage unterscheidet sich hier erheblich von der des Zivilprozesses, wo es nach dem Beibringungsgrundsatz Sache der Parteien ist, dem Gericht den Prozeßstoff zu unterbreiten, und wo es daher auch gerechtfertigt ist, Tatsachen oder Tatsachenbehauptungen unberücksichtigt zu lassen, wenn sie nicht oder nicht rechtzeitig im Prozeß vorgebracht werden. Auch der Steuerprozeß soll zwar durch geeignete Maßnahmen (vgl. §§ 76 und 77 FGO) so konzentriert werden, daß er möglichst in einer mündlichen Verhandlung entschieden werden kann (§ 79 Satz 1 FGO). Zu diesem Zweck können auch Fristen gesetzt werden. Äußert sich ein Beteiligter innerhalb der gesetzten Frist nicht, so kann das Gericht, dessen Ermittlungspflicht infolge der Nichtmitwirkung eines Beteiligten einer natürlichen Beschränkung unterliegt, trotzdem eine Entscheidung fällen. Das bedeutet nicht, daß der Beteiligte nach Ablauf der Frist mit neuem oder auch erstmaligem Vorbringen ausgeschlossen wäre. Daß dadurch die wünschenswerte Straffung des Prozesses unter Umständen leiden kann, muß als Ausfluß des Amtsermittlungsprinzips in Kauf genommen werden. Der Prozeßverzögerung wirken die Bestimmungen über die Kostenpflicht trotz Obsiegens bei nachlässiger Prozeßführung (§ 137 FGO) und über die besondere Gebühr bei Verzögerung des Rechtsstreits (§ 47 GKG) entgegen.
Eine andere Frage ist, ob nachträgliches Vorbringen deshalb unberücksichtigt bleiben darf, weil eine Ausschlußfrist versäumt wurde. Daß die Frist des § 77 Abs. 1 Satz 2 FGO für die Einreichung vorbereitender Schriftsätze keine Ausschlußfrist ist, kann nicht bezweifelt werden. Unterschiedliche Auffassungen bestehen über die Bedeutung der Frist des dem § 82 Abs. 2 VwGO entsprechenden § 65 Abs. 2 FGO, jedenfalls was die Ergänzung der Klage hinsichtlich der Mußvoraussetzungen anlangt (für Ausschlußfrist: Tipke-Kruse, FGO § 65 Anm. 7 und die dort zitierte Rechtsprechung der FG, wohl auch Becker-Riewald-Koch, FGO § 65 Anm. 2 Abs. 4; vgl. auch Martens, Finanz-Rundschau 1969 S. 495; gegen Ausschlußfrist: Eyermann-Fröhler, § 82 Rdnr. 13; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, FGO § 65 Anm. 43; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, § 82 Anm. 2; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl., § 82 Anm. 8). Zu den Mußerfordernissen der Klage gehört nach § 65 Abs. 1 FGO auch die Bezeichnung des Streitgegenstandes, wobei im Schrifttum die Auffassungen geteilt sind, ob die FGO nicht den Begriff "Streitgegenstand" in mehrfachem Sinne, etwa im Rahmen des § 65 Abs. 1 FGO abweichend von der Definition des Großen Senats des BFH (Gr. S. 1/66 vom 17. Juli 1967, BFH 91, 393, BStBl II 1968, 344) im Sinne von "Sachverhalt" verwendet. Zu diesem Rechtsproblem, das im Streitfall die Frage aufwerfen würde, ob die dürftigen Angaben, die die Kläger vor der Einreichung des Schriftsatzes vom 23. September 1968 machten, als eine Bezeichnung des Streitgegenstandes angesehen werden könnten, braucht der Senat jedoch nicht Stellung zu nehmen. Der Streitgegenstand war jedenfalls nach dem Vorbringen im Schriftsatz vom 23. September 1968 genügend bezeichnet worden. Dieses Vorbringen konnte auch dann, wenn man in ihm erst die Bezeichnung des Streitgegenstandes sieht, nicht wegen Versäumung einer Ausschlußfrist unbeachtet bleiben; denn selbst wenn in § 65 Abs. 2 FGO eine Ausschlußfrist gemeint wäre, so käme im Streitfall die Versäumung einer solchen Frist nicht in Betracht, weil die Frist lediglich vom Berichterstatter ("bestimmter Richter", § 79 FGO) gesetzt worden war. Wollte man wirklich der Frist des § 65 Abs. 2 FGO eine so weitreichende Bedeutung beimessen, so müßte sie jedenfalls entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes vom Vorsitzenden bestimmt werden (vgl. Becker-Riewald-Koch, a. a. O.).
Fundstellen
Haufe-Index 69010 |
BStBl II 1970, 496 |
BFHE 1970, 528 |