Leitsatz (amtlich)
1. Die Verordnung über die einkommensteuerliche Behandlung der freien Erfinder vom 30. Mai 1951 (BGBl I 1951, 387) ist wegen Nichtigkeit der Ermächtigungsgrundlage ungültig.
2. Der RdF-Erlaß vom 11. September 1944 (RStBl 1944, 586) betreffend einkommensteuerliche Behandlung der freien Erfinder war kein Milderungserlaß im Sinne des § 13 AO a. F. Er ist von den Steuergerichten nicht anzuwenden.
2. Die gleichlautenden Erlasse (Entschließungen) der obersten Finanzbehörden der Länder vom 30. April 1968 (BStBl I 1968, 719) betreffend einkommen- und lohnsteuerrechtliche Behandlung der Erfinder bis zum Erlaß einer Neuregelung sind insoweit nicht durch die Vorschrift des § 131 Abs. 2 AO gedeckt, als sie gestatten, daß Steuervergünstigungen schon jetzt in endgültigen Veranlagungen gewährt werden.
Normenkette
EStG 1955 § 18 Abs. 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d; AO n.F. § 100 Abs. 1, § 131 Abs. 2; AO a.F. § 13 Abs. 1 Nr. 1; AO n.F. § 17 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist bei der Einkommensteuerveranlagung 1955, ob die Begünstigung der freien Erfinder nach dem Erlaß des Reichsministers der Finanzen (RdF) vom 11. September 1944 (RStBl 1944, 586) zu gewähren ist (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG).
Der Revisionskläger (Steuerpflichtiger) bezog im Streitjahr auch Einkünfte aus Lizenzverträgen über Patente und Warenzeichen. Er beantragte, bei der Einkommensteuerveranlagung einen Betrag von 50 821 DM nach der Verordnung über die einkommensteuerliche Behandlung der freien Erfinder vom 30. Mai 1951 (BGBl I 1951, 387, BStBl I 1951, 181) begünstigt zu besteuern. Auf Grund des Ergebnisses einer Betriebsprüfung versagte das FA bei der Berichtigungsveranlagung die beantragten Vergünstigungen, weil der Versuchszeitraum und der neunjährige Zeitraum der Auswertung (§ 4 Nrn. 1 und 3 der Verordnung) schon abgelaufen seien. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das FG wies die Klage als unbegründet zurück, da die Verordnung vom 30. Mai 1951 nichtig sei. Sie beruhe auf dem Art. II Nr. 2 Buchst. e des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes vom 29. April 1950 (BGBl I 1950, 95), den das BVerfG durch Beschluß 2 BvL 15/65 vom 30. Januar 1968 (BVerfGE 23, 62, BGBl I 1968, 230, BStBl II 1968, 296) für nichtig erklärt habe. Der Steuerpflichtige könne seinen Anspruch auch nicht auf den Erlaß des RdF vom 11. September 1944 stützen. Dieser Erlaß sei unter Hinweis auf § 17 Abs. 2 AO a. F. als reine Verwaltungsanweisung ergangen. Es handele sich nicht um einen Milderungserlaß im Sinne des § 13 AO a. F., da er nicht im RGBl, im Reichsministerialblatt (RMBl) oder im Reichsanzeiger (RAnz.) veröffentlicht worden sei (Hinweis auf das Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen vom 13. Oktober 1923, RGBl I 1923, 959). Eine Umdeutung in eine Rechtsverordnung komme nicht in Betracht. Der Erlaß sei spätestens nach Inkrafttreten des Grundgesetzes als aufgehoben anzusehen. Zumindest sei der Erlaß ab 21. Dezember 1954 nicht mehr anwendbar. Denn mit dem Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes in der Fassung vom 21. Dezember 1954 (BGBl I 1954, 441) habe der Gesetzgeber die Ermächtigungsnorm zum Erlaß einer Rechtsverordnung für die Besteuerung von Erfindervergütungen in einer der Vorschrift des Art. 80 GG entsprechenden Weise präzisiert und damit die Sache neu geregelt.
In seiner Revision rügt der Steuerpflichtige unrichtige Rechtsanwendung.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Vorentscheidung sei rechtsfehlerhaft, da es sich bei dem RdF-Erlaß vom 11. September 1944 um einen fortgeltenden, die Gerichte bindenden Milderungserlaß im Sinn des § 13 AO a. F. handle.
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Entscheidung.
I. Das FG ging zutreffend davon aus, daß die Verordnung vom 30. Mai 1951 ungültig ist, da sie auf der vom BVerfG durch Beschluß 2 BvL 15/65 für nichtig erklärten Ermächtigungsnorm des Art. II Nr. 2 Buchst. e des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes vom 29. April 1950 beruht (§ 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG -). Die Ungültigkeit bestand von Anfang an (BVerfGE 7, 377 [387]; 8, 51 [71]). Sie konnte nicht durch den späteren Erlaß einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechenden Ermächtigungsnorm - § 51 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) EStG in der Fassung des Abschn. I Art. 1 Nr. 46 des Gesetzes zur Neuordnung von Steuern vom 16. Dezember 1954 (BGBl I 1954, 373) - geheilt werden. Das folgt aus dem Grundsatz, daß für die Beurteilung der Gültigkeit einer Rechtsverordnung spätere Änderungen der Ermächtigung ohne Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 14, 245 [249]). Die Verordnung hätte unter Aufhebung der ungültigen bisherigen Regelung, ausdrücklich auf die spätere Ermächtigung gestützt, neu erlassen werden müssen. Da dies nicht geschehen ist, braucht der Senat nicht zu prüfen, ob die neugefaßte Ermächtigungsnorm den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG entspricht. Sie enthält auch keine unmittelbar anwendbare materiellrechtliche Regelung. Solange der Verordnungsgeber von der Ermächtigung keinen Gebrauch macht, kommt ihr keine unmittelbare rechtliche Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 16, 332 [338]).
II. Der Anspruch auf Gewährung von Steuervergünstigungen für freie Erfinder kann nicht auf den RdF-Erlaß vom 11. September 1944 gestützt werden. Der Erlaß stellt keinen nach Art. 123 Abs. 1 GG fortgeltenden, die Gerichte bindenden Milderungserlaß im Sinne des § 13 AO a. F. dar. Das FG, das den Beschluß des BVerfG 2 BvL 15/65 herbeiführte, hielt in seinem Vorlagebeschluß den RdF-Erlaß für einen Milderungserlaß mit Rechtsnormqualität. Es bezog sich auf das nicht amtlich veröffentlichte Urteil des erkennenden Senats IV 227/56 vom 16. Juli 1959. Das BVerfG schloß sich der von den zuständigen Senaten des BFH in ihren Stellungnahmen zu den Rechtsfragen des Vorlageverfahrens dargelegten Auffassung an, daß die Rechtsansicht des vorlegenden FG nicht offensichtlich unhaltbar sei. Der erkennende Senat hält an seiner im Urteil IV 227/56 vertretenen Meinung über die Rechtsnormqualität des RdF-Erlasses vom 11. September 1944 gleichwohl nicht mehr fest, und zwar aus den folgenden Gründen.
1. Einer Würdigung des RdF-Erlasses als eines Milderungserlasses stünde zwar nicht, wie die Vorinstanz meinte, entgegen, daß der Erlaß in Form einer bloßen Verwaltungsanweisung nach § 17 Abs. 2 AO a. F. erging, also nicht ausdrücklich auf § 13 AO a. F. gestützt war und daß er auch nicht in einem der für Rechtsverordnungen vorgeschriebenen Verkündungsblätter bekanntgegeben wurde (vgl. Gutachten des OFH I D 6/49 vom 27. August 1949, RFH 54, 376, Urteile des BFH I 285/56 U vom 7. Mai 1957, BFH 65, 82, BStBl III 1957, 264; I 98/54 U vom 23. Juli 1957, BFH 65, 232, BStBl III 1957, 323; I 53/61 U vom 15. Oktober 1962, BFH 75, 757, BStBl III 1962, 542). Ein Milderungserlaß im Sinne des § 13 AO a. F. lag aber deshalb nicht vor, weil der RdF-Erlaß nicht auf Billigkeitsgründen beruhte und daher inhaltlich nicht durch § 13 AO a. F. gedeckt war.
Nach § 13 AO a. F. konnte der RdF für bestimmte Arten von Fällen aus Billigkeitsgründen anordnen, daß abweichend von den Vorschriften des Reichsrechts von Reichssteuern Befreiung zu gewähren oder die Steuern niedriger festzusetzen waren. Ein die Gerichte bindender Milderungserlaß liegt nur vor, soweit sich der RdF im Rahmen dieser gesetzlichen Ermächtigung hielt, also aus Billigkeitsgründen einen Härteausgleich für einen bestimmt abgegrenzten Kreis von Fällen schuf. Ob sich ein Erlaß im Rahmen der Ermächtigung hielt, haben die Steuergerichte zu prüfen (vgl. BFH-Urteile VI 233/56 S vom 28. März 1958, BFH 66, 701, BStBl III 1958, 268; VI 48/57 vom 21. November 1958, BFH 68, 176, BStBl III 1959, 69; I 53/61 U). Zwar bestätigte der erkennende Senat, ohne allerdings zu der Frage ausdrücklich Stellung zu nehmen, in dem Urteil IV 227/56 die in dem damals angefochtenen, in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1956 S. 313 (EFG 1956, 313) veröffentlichten Urteil des FG vertretene Rechtsauffassung, daß der durch § 13 AO a. F. dem RdF gezogene Ermächtigungsrahmen praktisch unbegrenzt gewesen sei, so daß eine gerichtliche Nachprüfung nicht in Frage komme. Der Senat kommt aber auf Grund erneuter Prüfung des Rechtsproblems zu dem Ergebnis, daß an dieser Auffassung nicht festzuhalten ist.
§ 13 AO a. F. muß in Zusammenhang mit § 12 AO a. F. gesehen werden. Diese Vorschrift ermächtigte den RdF, Rechtsverordnungen zur Durchführung und Ergänzung der Steuergesetze und zur näheren Bestimmung des Umfangs von Befreiungen, Steuerermäßigungen und Steuervergütungen zu erlassen. Es ist anerkannt, daß darin keine Ermächtigung zum Erlaß gesetzesändernder oder -durchbrechender Rechtsverordnungen lag (vgl. F. Klein, Steuer und Wirtschaft 1941 Sp. 195, 223 f. - StuW 1941 Sp. 195, 223 f. -; BFH-Urteile VI 233/56 S; IV 11/64 S vom 5. November 1964, BFH 80, 356, BStBl III 1964, 602, Abschnitte II 2b, IV 2, mit weiteren Nachweisen). § 13 AO a. F. stellte eine schon vor 1933 geschaffene Ausnahmeregelung dar, die bei Vorliegen von Billigkeitsgründen gesetzesändernde oder -suspendierende Vorschriften des RdF zuließ. Wenn jeder beliebige Zweck, den der RdF mit einer im Verwaltungswege angeordneten Steuervergünstigung verfolgte, als Billigkeitsgrund im Sinn des § 13 AO a. F. angesehen werden müßte, so wäre die in der grundlegenden Ermächtigungsnorm des § 12 AO a. F. liegende Beschränkung weitgehend überflüssig gewesen.
2. Der RdF-Erlaß vom 11. September 1944 bezweckte nicht die Beseitigung oder Milderung einer steuerlichen Härte, sondern die Begünstigung bestimmter Tätigkeiten aus volks- und wehrwirtschaftlichen Gründen. Dies geht aus dem Erlaß selbst hervor, da die Steuervergünstigung nur gewährt wurde, wenn ministerielle Bescheinigungen darüber vorlagen, daß es sich um eine volks- oder wehrwirtschaftlich wertvolle Erfindungstätigkeit handelte. Ob ein steuerlicher Härtefall vorliegt, kann nur nach Gesichtspunkten beurteilt werden, die sich unmittelbar aus dem Sinn und Zweck der Steuergesetze selbst ergeben. Es muß sich um Sachverhalte handeln, die auch einen Einzelerlaß von Steuern nach § 131 AO a. F. gerechtfertigt hätten (vgl. OFH-Gutachten I D 6/49). Volkswirtschaftliche Förderungswürdigkeit ist aber nicht gleichbedeutend mit steuerlicher Unbilligkeit normaler Besteuerung. Billigkeitserwägungen und politische Zweckmäßigkeitsgründe liegen auf verschiedenen Ebenen. Eine Steuerbegünstigung der freien Erfinder konnte daher in einer die Gerichte bindenden Weise nur durch Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Ermächtigung durch Rechtsverordnung eingeführt werden. Bei dem RdF-Erlaß vom 11. September 1944 handelte es sich deshalb nicht nur der Form, sondern auch der Sache nach um eine bloße Verwaltungsanweisung im Sinne des § 17 Abs. 2 AO a. F. Da sie durch § 13 AO a. F. nicht gedeckt war, also keine Rechtsnormqualität besitzen konnte, ist auch für die Annahme einer Fortgeltung nach Art. 123 Abs. 1 GG kein Raum.
III. Ein Anspruch auf Steuervergünstigungen auf Grund einer Erfindertätigkeit kann nur vorläufig, nicht endgültig auf die gleichlautenden Erlasse (Entschließungen) der obersten Finanzbehörden der Länder vom 30. April 1968 (BStBl I 1968, 719) gestützt werden.
In den Ländererlassen ist ausgeführt, daß der Beschluß des BVerfG vom 30. Januar 1968 auch für die zurückliegende Zeit eine Neuregelung der steuerlichen Vergünstigungen für Erfinder erfordere, die vorbereitet werde. Es sei vorgesehen, eine Neuregelung auf der Grundlage der (ungültigen) Vorschriften zu treffen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspreche. Es bestünden keine Bedenken, wenn bis zum Inkrafttreten der beabsichtigten Neuregelung die in der Verordnung vom 30. Mai 1951 vorgesehenen Vergünstigungen weiterhin zugebilligt würden.
Bei diesen Erlassen handelt es sich nur zum Teil um eine die Steuergerichte bindende Anpassungs- und Übergangsregelung im Sinne des § 131 Abs. 2 AO. Verwaltungsanweisungen, die in dieser Vorschrift eine ausreichende Rechtsgrundlage haben, sind im Interesse der Gleichmäßigkeit der Besteuerung auch von den Steuergerichten zu beachten (vgl. BFH-Urteile VI 20/63 U vom 28. Februar 1964, BFH 79, 34, BStBl III 1964, 245; IV 11/64 S unter Abschn. VII 2, mit weiteren Nachweisen; IV 307/62 U vom 1. April 1965, BFH 82, 514, BStBl III 1965, 432; VI R 267/67 vom 23. Februar 1968, BFH 91, 538, BStBl II 1968, 409). Die genannten Ländererlasse erfüllen diese Voraussetzung, soweit sie bewirken sollen, daß bis zum Inkrafttreten der beabsichtigten rückwirkenden Regelung nicht auf einige Fälle - so den Streitfall - das Gesetz (der allgemeine Tarif) angewendet wird, während die übrigen, bis dahin noch nicht rechtskräftig veranlagten Steuerpflichtigen in den Genuß der gesetzlich bereits vorgesehenen (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d EStG 1955 und später), rückwirkend einzuführenden Vergünstigungen kämen. Soweit die Erlasse jedoch gestatten, daß die in den ungültigen Vorschriften geregelten Steuervergünstigungen mit der Wirkung angewendet werden sollen, daß die auf dieser Grundlage durchzuführenden Veranlagungen endgültig werden, liegt keine durch die Sachlage gebotene Härteregelung mehr vor. Insoweit handelt es sich bereits um einen Vorgriff auf eine künftige Ausnahmeregelung des Gesetz- oder Verordnunggebers. Die Erlasse können deshalb nur mit der Maßgabe als eine die Steuergerichte bindende Übergangsregelung angesehen werden, daß die in den ungültigen Vorschriften vorgesehenen Vergünstigungen in vorläufigen Veranlagungen gewährt werden. Jedenfalls dürfen endgültige Veranlagungen (§ 225 AO) erst stattfinden, wenn die erwartete rückwirkende Regelung in Kraft getreten sein wird.
Die Ländererlasse vom 30. April 1968 waren noch nicht veröffentlicht, als die Vorentscheidung erging. Sie sind jedoch mit den erörterten Einschränkungen vom Senat zu beachten. Dem Steuerpflichtigen kann jedenfalls nach der gegenwärtigen Rechtslage ein Anspruch auf Erfindervergünstigungen nicht deshalb endgültig aberkannt werden, weil die Verordnung vom 30. Mai 1951 ungültig ist. Die Vorentscheidung, die von anderen Rechtsgrundlagen ausging, ist aufzuheben. Die Sache muß zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 68386 |
BStBl II 1969, 136 |
BFHE 1969, 246 |