Leitsatz (amtlich)
1. Macht der Kläger vor Einstellung des Verfahrens geltend, die von ihm mit Einwilligung des Beklagten erklärte Rücknahme der Klage sei unwirksam, ist über die Wirksamkeit der Klagerücknahme durch Urteil (Vorbescheid) zu entscheiden.
2. Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Anfechtung von Willenserklärungen gelten nicht für die Anfechtung von Prozeßhandlungen.
Normenkette
FGO §§ 72, 90
Tatbestand
Die Klägerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, war in eine offene Handelsgesellschaft eingetreten. Diese war gleichzeitig in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt worden, deren persönlich haftender Gesellschafter die Klägerin, deren Kommanditisten die früheren persönlich haftenden Gesellschafter der offenen Handelsgesellschaft wurden. Das FA hatte die Klägerin zunächst zur Gesellschaftsteuer aus dem Nennwert der Kommanditanteile herangezogen; dieser Bescheid ist unanfechtbar geworden. Später hat das FA (Beklagter) weitere Gesellschaftsteuer nachgefordert, weil es die Gegenleistungen der Kommanditisten für den Erwerb der Gesellschaftsanteile als Sacheinlagen ansah. Der Einspruch der Klägerin war erfolglos. Das FG hat Steuernachforderungsbescheid und Einspruchsentscheidung aufgehoben, weil es § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG für nichtig erachtete. Der Beklagte hat Revision eingelegt und begründet.
Im weiteren Verlauf des Verfahrens erging an den Revisionskläger (Beklagten) und die Prozeßbevollmächtigten der Revisionsbeklagten (Klägerin) folgendes Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 14. Januar 1969:
Die zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, ob § 6 Abs. 1 Nr. 4 des Kapitalverkehrsteuergesetzes in der Fassung vom 24. Juli 1959 (Bundesgesetzblatt I S. 530) verfassungsgerecht ist, ist durch Beschluß vom 2. Oktober 1968 - 1 BvF 3/65 - (BStBl 1968 II S. 762) getroffen und darin die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden. Bevor der Senat über die Revision entscheidet, wird Ihnen Gelegenheit gegeben, binnen einer Frist von einem Monat zu der nunmehr gegebenen Rechtslage Stellung zu nehmen.
Durch Schriftsatz vom 21. Januar 1969 nahm die Klägerin die Klage zurück; dieser ist am 23. Januar 1969 beim BFH eingegangen. Durch Schriftsatz vom 6. Februar 1969, beim BFH eingegangen am 12. Februar 1969, hat der Beklagte der Rücknahme der Klage zugestimmt.
Durch Schriftsatz vom 5. Mai 1969 hat die Klägerin die Rücknahme der Klage angefochten, weil in dem vorbezeichneten Schreiben des Senatsvorsitzenden nicht auf das BFH-Urteil II 53/63 vom 15. Oktober 1968 (BFH 94, 79, BStBl II 1969, 86) hingewiesen worden war, wonach unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung Gesellschaftsteuerbescheide nicht nach § 223 AO, sondern nur auf Grund des § 222 AO zum Nachteil des Steuerpflichtigen geändert werden können, und weil sie dadurch über die Erfolgsaussichten ihrer Revision getäuscht und zur Rücknahme der Klage veranlaßt worden sei. Sie beantragt, dem Rechtsstreit Fortgang zu geben.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Über diesen Antrag ist im Urteilsverfahren - im gegebenen Falle gemäß §§ 121, 90 Abs. 3 Satz 1 FGO durch Vorbescheid - zu befinden. Denn mit der Anfechtung macht die Klägerin geltend, daß die Rücknahme der Klage unwirksam sei. Ihrer Rechtsbehauptung nach befindet sie sich also in einem Verfahrensstadium, in dem durch Urteil zu entscheiden ist (§ 95 FGO). Somit muß auch über die Frage, ob die Klage zurückgenommen ist oder nicht, durch Urteil (§ 105 FGO) oder Vorbescheid (§ 90 Abs. 3 FGO) in der dafür vorgesehenen Besetzung (§ 10 Abs. 3 FGO) erkannt werden; es genügt nicht, in Beschlußbesetzung (§ 10 Abs. 3 FGO) das Verfahren ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 1 Satz 2 FGO) durch Beschluß einzustellen (§ 72 Abs. 2 Satz 2 FGO). Denn wenn sich der Standpunkt der Klägerin als richtig erweisen würde, müßte - da die Revision zulässig eingelegt war (§§ 120, 124, 126 Abs. 1 FGO) - in der Sache selbst durch Urteil entschieden werden.
Die Klage ist zurückgenommen.
Gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1 FGO kann der Kläger seine Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Nach Schluß der mündlichen Verhandlung, bei Verzicht auf die mündliche Verhandlung und nach Ergehen eines Vorbescheids ist die Rücknahme nur mit Einwilligung des Beklagten möglich (§ 72 Abs. 1 Satz 2 FGO). Bei sinngemäßer Anwendung dieser Vorschrift auf das Revisionsverfahren (§ 121 FGO) wird die Einwilligung stets geboten sein, weil zwangsläufig zumindest eine der drei Voraussetzungen während des Verfahrens des ersten Rechtszugs erfüllt sein muß. Das abweichende Urteil des BVerwG II C 60/55 vom 7. Juni 1956 (BVerwGE 3, 326, NJW 1956, 1371) ist noch zu §§ 61, 45 Abs. 1 BVerwGG ergangen. Die Frage kann dahingestellt bleiben, weil die Einwilligung des Beklagten vorliegt und weil es auf den genauen Tag, an dem die Rücknahme der Klage wirksam wurde, hier nicht ankommt.
Die Rücknahme der Klage ist spätestens am 12. Februar 1969 wirksam geworden. An diesem Tag hat der Beklagte der Rücknahmeerklärung der Klägerin zugestimmt; das angefochtene Urteil des FG war zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig. Mit der Rücknahme der Klage ist es wirkungslos geworden (§ 155 FGO, 271 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO).
Die Rücknahme der Klage ist nicht infolge der erklärten Anfechtung unwirksam geworden.
Die Rücknahme der Klage ist eine Prozeßerklärung (Prozeßhandlung). Auf prozessuale Willenserklärungen sind mangels eines Anhalts der Prozeßordnung - und zwar sowohl in der FGO als auch in der hilfsweise heranzuziehenden ZPO (§ 155 FGO) - die Vorschriften des BGB über die Anfechtung bürgerlicher Rechtsgeschäfte wegen Willensmangels nicht anzuwenden (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 69 S. 262 - RGZ 69, 262 -; 81, 178; 105, 310; 105, 351; 120, 243; 150, 395; 152, 324; 156, 73; 161, 359; Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 12 S. 284 - BGHZ 12, 284 -). Die Anfechtung mit der Begründung, durch eine strafbare Handlung des Gegners zur Rücknahme veranlaßt worden zu sein, beruht allein auf dem prozessualen Grunde des § 580 Nr. 4 ZPO (RGZ 150, 392; BGHZ 12, 284; Bundesgerichtshof in Monatsschrift für Deutsches Recht 1958 S. 670; Lindenmaier-Möhring, § 515 Nr. 10). Die zur AO ergangenen Entscheidungen des BFH (vgl. Urteile III 53/58 U vom 19. Dezember 1958, BFH 68, 296, BStBl III 1959, 116; VI 257/58 U vom 10. April 1959, BFH 68, 667, BStBl III 1959, 253; IV 159/58 U vom 13. Mai 1959, BFH 69, 88, BStBl III 1959, 294; IV 176/59 S vom 17. August 1961, BFH 74, 284, BStBl III 1962, 107; aber auch IV 73/59 U vom 9. November 1961, BFH 74, 240, BStBl III 1962, 91) können nicht als Präjudiz dienen, da die Gestaltung des finanzgerichtlichen Verfahrens jetzt nicht mehr im Anschluß an das Verwaltungsverfahren geregelt, sondern den übrigen Prozeßordnungen angeglichen ist.
§ 72 Abs. 2 Satz 3 FGO sieht - abweichend von § 92 Abs. 2 VwGO - den Fall vor, daß nachträglich die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend gemacht wird. Diese Vorschrift läßt aber nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen eine Rücknahme der Klage für unwirksam zu erachten ist. Daß damit die frühere Rechtsprechung des BFH übernommen werden sollte, ist nicht zu belegen; die sich an den die Einstellung des Verfahrens betreffenden § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO anschließende Vorschrift kann auch nur den Fall betreffen, daß die Rücknahmeerklärung an sich schon - etwa wegen Verlustes der Prozeßfähigkeit (§ 58 FGO) - unwirksam, das Verfahren also zu Unrecht eingestellt worden ist. Damit würde § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO etwa § 46 Abs. 2 Satz 1 FGO entsprechen; doch erscheint auch diese Auslegung problematisch.
Die Frage braucht hier nicht entschieden zu werden. Denn äußerstenfalls wäre an Anfechtungsmöglichkeiten des in dem BGB für privatrechtliche Willenserklärungen vorgesehenen Umfangs zu denken, wobei wiederum dahingestellt bleiben kann, ob überhaupt bis zu dieser Grenze gegangen werden dürfte, da eine dem § 122 BGB entsprechende Ausgleichsvorschrift fehlt. Jedenfalls war der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin bei Abgabe der Rücknahmeerklärung über deren Inhalt nicht im Irrtum (§ 119 Abs. 1 BGB), wollte vielmehr genau diese Erklärung abgeben; den Irrtum im Motiv schützt aber § 119 BGB nur nach Maßgabe seines hier unter keinem Gesichtspunkt nützlichen Absatzes 2. Eine arglistige Täuschung der Klägerin oder ihres Prozeßbevollmächtigten (§§ 123, 166 BGB) liegt nicht vor. Selbst wenn man - was nicht zulässig ist - auf die Anfechtung von Prozeßerklärungen die Vorschriften des BGB für entsprechend anwendbar halten wollte, müßte also die erklärte Anfechtung unwirksam bleiben.
Die Klägerin ist durch das eingangs erwähnte Schreiben des Senatsvorsitzenden darauf hingewiesen worden, daß das BVerfG § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG für mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vereinbar erklärt hat. Dieser Hinweis war angebracht (§ 76 Abs. 2 FGO), weil die Entscheidung des BVerfG Gesetzeskraft hat (§ 31 Abs. 2 Satz 1, § 13 Nr. 6 BVerfGG) und der Klägerin deshalb die bisher vorgebrachten Einwände gegen die Gültigkeit des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG abgeschnitten hat. Dementsprechend ist den Parteien ausdrücklich Gelegenheit gegeben worden, zu der nunmehr gegebenen Rechtslage Stellung zu nehmen, bevor der Senat über die Revision entscheidet. Der Klägerin blieb also unbenommen, nunmehr auf ihren bereits mit dem Einspruch verfochtenen Standpunkt zurückzukommen, daß auch bei der Gesellschaftsteuer eine Nachforderung nur nach Maßgabe des § 222 AO zulässig sei und dessen Voraussetzungen nicht vorlägen. Das Schreiben des Senatsvorsitzenden bietet keinen Anhalt für die Auslegung der Klägerin, daß der BFH sich veranlaßt sehen würde, der Revision des Beklagten stattzugeben und die Klägerin deshalb geradezu zur Rücknahme der Klage auffordere. Es ist weder von dem Beklagten noch von dem Gericht zu vertreten, daß die Klägerin entgegen früherer besserer Erkenntnis der Ansicht war, durch den Beschluß des BVerfG sei "der Klage die einzige Rechtsgrundlage entzogen worden" (so die Klägerin bei Rücknahme der Klage zur Begründung ihres Antrags, die Gerichtskosten zu erlassen).
Mit der Ansicht, daß das Gericht, wenn es sie auf eine nachteilige Änderung der Rechtsprechung aufmerksam mache, auch verpflichtet sei, eine ihr vorteilhafte Änderung der Rechtsprechung bekanntzugeben, übersieht die Klägerin, daß die Entscheidung, ob und wie sie den Prozeß führen will, allein bei ihr steht und ihr vom Gericht nicht abgenommen werden kann. Das Schreiben vom 14. Januar 1969 bezweckte, wie bereits bemerkt, nicht, die Klägerin auf eine "Änderung der Rechtsprechung" als solche hinzuweisen (zumal eine "Änderung" im formalen Sinne - einerseits ein Urteil des BFH, andererseits ein Beschluß des BVerfG - gar nicht vorliegt), sondern die Parteien auf eine infolge ihrer Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) für den BFH verbindliche Entscheidungsgrundlage aufmerksam zu machen, die ihnen, da sie an dem Verfahren vor dem BVerfG nicht beteiligt waren (§ 77 BVerfGG), nicht bekannt zu sein brauchte. Deshalb war den Parteien, ohne daß dazu eine nähere Prüfung des Einzelfalls erforderlich gewesen wäre (die erst das Problem der §§ 222, 223 AO, § 6 der Kapitalverkehrsteuer-Durchführungsverordnung hätte erkennen lassen), Gelegenheit zu geben, "zu der nunmehr" - d. h. infolge der Bindung des BFH - "gegebenen Rechtslage Stellung zu nehmen". Da der BFH an seine eigene frühere Rechtsprechung nicht gebunden ist, war die Klägerin nicht veranlaßt, die Klage zurückzunehmen, wenn sie der Ansicht war, von ihr hätte, da die Voraussetzungen des § 222 AO nicht erfüllt seien, keine Gesellschaftsteuer nachgefordert werden dürfen.
Demnach wäre die Anfechtung der Klagerücknahme selbst dann, wenn man sie in sehr weiten Grenzen für zulässig hielte, unwirksam. Folglich muß es bei der Wirksamkeit der Klagerücknahme bleiben. Das war durch Vorbescheid (§§ 121, 90 Abs. 3 Satz 1 FGO) auszusprechen.
Den ausdrücklichen Ausspruch, daß das Urteil des ersten Rechtszugs wirkungslos geworden ist (§ 271 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO) und die Rücknahme den Verlust der Klage zur Folge hat (§ 72 Abs. 2 Satz 1 FGO), sieht § 72 Abs. 2 FGO im Unterschied zu § 92 Abs. 2 VwGO nicht vor; einen etwa gemäß § 155 FGO, § 271 Abs. 3 Satz 3 ZPO zulässigen Antrag hat der Beklagte nicht gestellt. Da das Verfahren nach Rücknahme der Klage zur Entscheidung über deren Wirksamkeit fortzusetzen war, gilt für die Kostenentscheidung nicht § 144 FGO, sondern § 143 Abs. 1 FGO; gemäß § 136 Abs. 2, § 135 Abs. 1 FGO waren der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Über die Einstellung des Verfahrens (§ 72 Abs. 2 Satz 2 FGO) und den Antrag der Klägerin, die Gerichtskosten nicht zu erheben (§ 140 Abs. 1 FGO, § 7 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes), ist nach Abschluß des Verfahrens (§ 90 Abs. 3 Satz 3 FGO) zu befinden.
Fundstellen
Haufe-Index 68695 |
BStBl II 1969, 733 |
BFHE 1969, 552 |