Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Rückstellung für Verpflichtung zur Abfallentsorgung
Leitsatz (amtlich)
Die Verpflichtung zur Entsorgung eigenen Abfalls nach dem AbfG begründet nicht rückstellbaren eigenbetrieblichen Aufwand.
Normenkette
KStG § 8 Abs. 1; EStG § 5 Abs. 1 S. 1; HGB § 249 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; AbfG §§ 1, 3-4; EWGRL 660/78 Art. 20 Abs. 1-2; EGVtr Art. 234 Abs. 1, 3
Verfahrensgang
FG Münster (EFG 1996, 424; LEXinform-Nr. 0132767) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) stellt Lacke und Lackfarben für industrielle Verarbeiter her. In ihrer Bilanz zum 31. Dezember 1989 wies sie eine Rückstellung für rückständige Entsorgung von Wachs, Sondermüll, nicht zu verarbeitenden Rohstoffen und Fertigwaren aus. Die Klägerin hatte die Abfallbeseitigung einer Drittfirma D übertragen und von ihr Abfallbehälter gemietet. Einen konkreten Auftrag zum Abtransport hatte sie am maßgebenden Bilanzstichtag noch nicht erteilt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) erkannte die Rückstellung nicht an. Eine Verpflichtung zur Entsorgung sei nicht hinreichend konkretisiert gewesen, es handele sich um eine Aufwandsrückstellung.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Die Gründe der Vorentscheidung sind in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 424 veröffentlicht.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung von § 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 249 Abs. 1 des Handelsgesetzbuches (HGB). Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Körperschaftsteuer für das Streitjahr unter Berücksichtigung der streitigen Rückstellung festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Das dem Verfahren beigetretene Bundesministerium der Finanzen (BMF) hält die Revision ebenfalls für unbegründet.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Zu Recht hat das FG für künftig anfallenden Aufwand der Klägerin zur Abfallentsorgung keine Rückstellung zugelassen. Insoweit besteht keine Verbindlichkeit der Klägerin i.S. von § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB. Bei der von ihr gebildeten Rückstellung handelt es sich um eine in der Steuerbilanz nicht zu berücksichtigende Aufwandsrückstellung i.S. von § 249 Abs. 2 HGB.
1. Gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind u.a. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Dieses Gebot stellt einen nach §§ 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG), 5 Abs. 1 Satz 1 EStG auch steuerrechtlich zu beachtenden handelsrechtlichen Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung dar.
Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) das Bestehen einer dem Betrage nach ungewissen Verbindlichkeit oder die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach ―deren Höhe zudem ungewiss sein kann―, ihre wirtschaftliche Verursachung in der Zeit vor dem Bilanzstichtag und dass der Schuldner ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen muss (vgl. etwa BFH-Urteil vom 19. Oktober 1993 VIII R 14/92, BFHE 172, 456, BStBl II 1993, 891, m.w.N.).
2. Auch für Verpflichtungen, die sich aus öffentlichem Recht ergeben (Geld- oder Sachleistungsverpflichtungen), können Rückstellungen gebildet werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die öffentlich-rechtliche Verpflichtung hinreichend konkretisiert ist (BFH-Urteile vom 12. Dezember 1991 IV R 28/91, BFHE 167, 334, BStBl II 1992, 600; vom 25. März 1992 I R 69/91, BFHE 168, 527, BStBl II 1992, 1010; in BFHE 172, 456, BStBl II 1993, 891, jeweils m.w.N.). Die Verpflichtung muss auf ein bestimmtes Handeln innerhalb eines bestimmten Zeitraums zielen (BFH-Urteile vom 26. Oktober 1977 I R 148/75, BFHE 123, 547, BStBl II 1978, 97, 99; vom 20. März 1980 IV R 89/79, BFHE 130, 165, BStBl II 1980, 297, 298; vom 3. Mai 1983 VIII R 100/81, BFHE 138, 443, BStBl II 1983, 572, 575; vom 19. Mai 1983 IV R 205/79, BFHE 139, 41, BStBl II 1983, 670, 671). Diese Voraussetzungen werden im Regelfall bei Erlass einer behördlichen Verfügung oder bei Abschluss einer entsprechenden verwaltungsrechtlichen Vereinbarung vorliegen. Grundsätzlich kann auch eine Verpflichtung, die sich allein aus gesetzlichen Bestimmungen ergibt, zur Bildung einer Rückstellung führen. Dies setzt allerdings einen entsprechend konkreten Gesetzesbefehl voraus (BFH-Urteil in BFHE 139, 41, BStBl II 1983, 670, 671 - betreffend das Abgrabungsgesetz Nordrhein-Westfalen).
Zudem ist nach der Rechtsprechung für die Rückstellung auf Grund einer sich aus öffentlichem Recht ergebenden Verpflichtung erforderlich, dass an die Verletzung der Verpflichtung Sanktionen geknüpft sind, so dass sich "der Steuerpflichtige der Erfüllung der Verpflichtung im Ergebnis nicht entziehen kann" (BFH-Urteile in BFHE 130, 165, BStBl II 1980, 297; in BFHE 138, 443, BStBl II 1983, 572).
Diese Rechtsprechung setzt für das Bestehen einer Verbindlichkeit den Anspruch eines Dritten voraus (BFH-Urteil in BFHE 172, 456, BStBl II 1993, 891). Ein Anspruch wird gemäß § 194 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) durch das subjektive Recht eines Gläubigers verkörpert, von einem Anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Diese Definition bedingt eine hinreichende Konkretisierbarkeit des zu fordernden Verhaltens. Das zu fordernde Tun oder Unterlassen muss nicht nur allgemein umschreibbar, sondern hinreichend bestimmbar sein. Es muss durchsetzbar und (von den Fällen mangelnder Einklagbarkeit abgesehen) auch im Klage- oder im Wege des Verwaltungsverfahrens verfolgt und vollstreckt werden können. Fehlt es daran, liegt bereits dem Grunde nach keine Verbindlichkeit im genannten Sinne vor. Dieses Erfordernis der hinreichenden Konkretisierung besteht nicht nur für Verbindlichkeiten, die sich aus öffentlichem Recht ergeben; es gilt grundsätzlich auch für Verpflichtungen zivilrechtlicher Natur.
3. Im Streitfall fehlt es an einer derartigen Verpflichtung. Zum Bilanzstichtag 31. Dezember 1989 lag weder eine Verfügung der zuständigen Behörde noch eine Vereinbarung zwischen der Klägerin und der Behörde vor, die die Klägerin verpflichtete, den erzeugten Abfall innerhalb einer vorgegebenen Zeit zu entsorgen.
Auch die Bestimmungen des (vorliegend einschlägigen) Gesetzes über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen vom 27. August 1986 (Abfallgesetz ―AbfG―, BGBl I 1986, 1410) enthalten keinen konkreten Gesetzesbefehl zur Entsorgung der Abfälle; die Klägerin führt selbst aus, dass diese Regelungen lediglich eine abstrakte Verpflichtung beinhalten.
Gemäß § 1 Abs. 1 AbfG sind Abfälle bewegliche Sachen, deren sich der Besitzer entledigen will oder deren geordnete Entsorgung zur Wahrung des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere des Schutzes der Umwelt, geboten ist. Diese Definition des Abfalls erweist, dass grundsätzlich von einer Entschließung des Besitzers selbst abhängt, ob Abfall vorliegt, der zu entsorgen ist. Vorliegend ist eine derartige Entschließung der Klägerin nicht erkennbar. Denn unbeschadet der Anmietung von Abfallbehältern ist keine entsprechende Umsetzung ―mit dem Ziel einer geordneten Entsorgung― erfolgt.
Aber selbst wenn von einer derartigen Entschließung und somit von Abfall auszugehen ist, ergibt sich für die Klägerin keine rückstellbare Verpflichtung. Nach § 3 Abs. Abs. 1 AbfG hat der Besitzer Abfälle dem Entsorgungsverpflichteten zu überlassen. Dieser grundsätzlichen Überlassungspflicht kommt zwar rechtliche Verbindlichkeit zu (vgl. Kunig/Schwermer/Versteyl, Abfallgesetz, 2. Aufl. 1992, § 3 Anm. 16). Sie betrifft aber lediglich die Art der Entsorgung, indem sie die eigenständige Beseitigung von Abfall hindert.
Gemäß § 3 Abs. 3 AbfG können allerdings unter den dort genannten Voraussetzungen die nach Landesrecht zuständigen Körperschaften des öffentlichen Rechts Abfälle von der Entsorgung ausschließen. Dies führt gemäß § 3 Abs. 4 AbfG zur Verpflichtung des Besitzers von Abfällen, sie selbst zu entsorgen. Diese Entsorgungsverpflichtung ist indessen ebenfalls weder inhaltlich noch zeitlich konkretisiert. Zudem besteht unverändert der Vorrang der eigenen Abfallverwertung (Kunig/Schwermer/Versteyl, a.a.O., § 3 Anm. 49). Im Übrigen ist im Streitfall für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 und 4 AbfG nichts vorgetragen. Eine entsprechende Beauftragung der D ist nicht erfolgt.
Auch aus § 4 Abs. 1, 3 und 4 AbfG lässt sich keine Verpflichtung der Klägerin herleiten. Dort sind, wie sich bereits aus der Überschrift "Ordnung der Entsorgung" ergibt, lediglich Bestimmungen über Art und Einrichtungen betreffend die Behandlung und das Lagern von Abfall enthalten. Daran ändert nichts, dass gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AbfG Verstöße gegen diese Bestimmungen als Ordnungswidrigkeiten behandelt werden.
Der Kern der gesetzlichen Abfallentsorgungsverpflichtung liegt somit nicht in einer Verpflichtung des Abfallbesitzers, die in seinem Betrieb anfallenden Abfälle zu beseitigen. Vielmehr beugen diese Bestimmungen der Lagerung und Entledigung von Abfällen in umweltbeeinträchtigender Weise vor (vgl. zur Rechtslage vor dem AbfG Kunig/Schwermer/Versteyl, a.a.O., Einleitung Anm. 4) und regeln die Art der Abfallentsorgung in einer die Allgemeinheit nicht beeinträchtigenden Weise. Sie setzen daher nur den ordnungsrechtlichen Rahmen für die Entsorgung der Abfälle. Das Erfordernis der Entsorgung selbst ergibt sich hingegen aus betrieblichen Notwendigkeiten; die Entsorgung hat lediglich unter Berücksichtigung der Vorschriften des AbfG zu erfolgen. Der dazu erforderliche Aufwand stellt somit eigenbetrieblichen Aufwand dar.
4. Dafür sprechen auch folgende Überlegungen:
Obliegenheiten im Bereich des öffentlichen Rechts können einerseits aus dem Anspruch eines Gemeinwesens auf Erhalt oder der (Wieder-)Herstellung eines der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entsprechenden Zustandes resultieren. In diesen Fällen ist das Gemeinwesen Gläubiger eines öffentlich-rechtlichen Leistungsanspruchs, ihm gegenüber bestehen korrespondierende Verbindlichkeiten öffentlich-rechtlicher Natur.
Anders gelagert sind hingegen die Fälle, in denen das öffentliche Interesse an der Erfüllung einer Obliegenheit von eigenbetrieblichen Erfordernissen des Unternehmens gleichgerichtet und kongruent überlagert wird. Als Beispielsfall kann die vom BFH im Urteil vom 19. Mai 1987 VIII R 327/83 (BFHE 150, 140, BStBl II 1987, 848) zu beurteilende Verpflichtung eines Unternehmens dienen, technische Anlagen in regelmäßigen Abständen einer amtlichen Überprüfung ihrer Funktionssicherheit zuzuführen. Gleiches gilt für vom BFH im Urteil in BFHE 167, 334, BStBl II 1992, 600 zu beurteilende Verpflichtung, Schlammablagerungen oder Verunreinigungen im betrieblichen Bereich zu beseitigen.
Der Aufwand zur Erfüllung derartiger Obliegenheiten stellt seiner Art nach Erhaltungsaufwand des Unternehmens dar. Dem steht nicht entgegen, dass seine Erbringung auch von öffentlich-rechtlichen Bestimmungen gefordert wird. Aufwand, der erforderlich ist, um eine vorgegebene unternehmerische Tätigkeit innerhalb der geltenden Rechtsnormen und Bestimmungen zu vollziehen, stellt unverändert eigenbetrieblichen Aufwand dar. Dies betrifft die Aufwendungen, die erforderlich sind, um das Unternehmen im Sinne des Unternehmenszieles zu betreiben, somit auch Aufwand zur Begründung der Betriebsbereitschaft und ihrer Erhaltung im Sinne der individuellen betrieblichen Zielsetzung (vgl. dazu im Ergebnis auch die BFH-Urteile in BFHE 150, 140, BStBl II 1987, 848; in BFHE 167, 334, BStBl II 1992, 600). Eine "Verpflichtung gegen sich selbst" kann nicht dadurch zur rückstellungsfähigen Außenverpflichtung werden, dass bei ihrer "Erfüllung" öffentlich-rechtliche Vorschriften zu beachten sind.
Dem steht nicht die Aussage im BFH-Urteil vom 25. Februar 1986 VIII R 134/80 (BFHE 147, 8, BStBl II 1986, 788) entgegen, wonach ein Eigeninteresse des Unternehmens die Rückstellbarkeit einer im Übrigen gegebenen Verpflichtung nicht hindert, wenn diese nicht von nur untergeordneter Bedeutung ist. Im vom BFH entschiedenen Fall (Verpflichtung zur Rechnungserteilung) waren die Zielsetzungen des Ausstellers und des Adressaten der Rechnung unterschiedlich und voneinander unabhängig. Anders ist dies in Fällen der Berücksichtigung öffentlich-rechtlicher Normen zur Verwirklichung des Unternehmensziels.
Auch die ordnungsgemäße Lagerung und Entsorgung von Abfall dient der Betriebsbereitschaft. Jeder Produktionsbetrieb bleibt nur funktionsfähig, wenn er sich seiner Abfälle in angemessener Zeit und im erforderlichen Umfang entledigt. Die dabei dem Gemeinwesen gegenüber bestehende Verpflichtung zur geordneten Entsorgung zur Wahrung des Wohls der Allgemeinheit und zum Schutze der Umwelt ist Inhalt des vorgegebenen allgemein zu beachtenden Ordnungsrahmens.
Gegen diese Beurteilung spricht nicht die Anerkennung einer Rückstellung für die öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Wiederauffüllung einer Kiesgrube (Senatsurteil vom 19. Februar 1975 I R 28/73, BFHE 115, 218, BStBl II 1975, 480). Dort handelt es sich um eine Verpflichtung zur Wiederherstellung eines dem Gemeinwesen zugänglichen und gewidmeten Teils der Erdoberfläche. Ihre Erfüllung dient daher (zumindest überwiegend) dem öffentlichen Interesse an der Landschafts- und Forstpflege und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
5. Somit lag zum Stichtag 31. Dezember 1989 keine Verpflichtung der Klägerin vor, die Gegenstand einer Rückstellung sein könnte (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB).
a) Mangels Verpflichtung handelt es sich um eine Aufwandsrückstellung gemäß § 249 Abs. 2 HGB. Ihre Bildung unterliegt in der Handelsbilanz einem Passivierungswahlrecht. Dies führt zu einem Passivierungsverbot in der Steuerbilanz (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 3. Februar 1969 GrS 2/68, BFHE 95, 31, BStBl II 1969, 291, 293).
In der Obliegenheit der Klägerin zur Abfallentsorgung könnte allenfalls eine "selbständig bewertbare Last betrieblicher Art" erblickt werden, für die die überkommene Rechtsprechung Rückstellungen für künftigen Aufwand ohne Schuldcharakter zugelassen hat (BFH-Urteile vom 26. Juni 1951 I 54/51 S, BFHE 55, 517, BStBl III 1951, 211 - betr. Abraumrückstand; vom 15. Februar 1955 I 54/54 U, BFHE 60, 448, BStBl III 1955, 172 - betr. unterlassene Instandhaltung). Diese Rechtsprechung wurde im Urteil vom 23. November 1983 I R 216/78 (BFHE 139, 398, BStBl II 1984, 277) aufgegeben, da es sich insoweit um Aufwandsrückstellungen handele.
b) Eine gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB rückstellungsfähige Verpflichtung kann sich im Streitfall auch nicht aus einer Beauftragung des D ergeben. Eine solche ist nicht erfolgt. Im Übrigen würde es sich bei einem entsprechenden Auftragsverhältnis, da es beiderseits noch nicht erfüllt wäre, um ein schwebendes Geschäft handeln, das den einseitigen Ausweis einer Verbindlichkeit nicht zuließe.
6. Aufgrund der vorstehenden rechtlichen Beurteilung des Streitfalles ergibt sich für den Senat keine Verpflichtung, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) mit dem Ziel einer Vorabentscheidung über die Auslegung der 4. Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen 78/660/EWG ―Bilanzrichtlinie― (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― Nr. L 222/11) anzurufen.
a) Der EuGH entscheidet im Wege einer Vorabentscheidung u.a. über die Gültigkeit und die Auslegung von Handlungen der Organe der Gemeinschaft (Art. 234 Abs. 1 Buchst. b ―vor dem Art. 177 Abs. 1 Buchst. b― des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ―EGV―). Dies beinhaltet die Auslegung und Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (EuGH-Urteil vom 17. Juli 1997 Rs. C-28/95 Leur-Bloem, EuGHE 1997, I-4161, Der Betrieb ―DB― 1997, 1851). Dazu gehören die vom Rat erlassenen Richtlinien, somit auch die Bilanzrichtlinie. Gemäß Art. 234 Abs. 3 ―vormals Art. 177 Abs. 3― EGV besteht eine Pflicht der obersten Bundesgerichte zur Vorlage, wenn eine von ihnen im Einzelfall zu treffende Entscheidung von der Gültigkeit und/ oder der Auslegung der Richtlinie abhängt.
Nicht hingegen ist der EuGH zuständig für die Anwendung von Gemeinschaftsrecht auf den jeweiligen Sachverhalt (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 28. März 1979 Rs. 222/78 ―ICAP―, EuGHE 1979, 1163, Rn. 10-12; vom 18. Oktober 1990 Rs. C-297/88, C-197/89 ―Dzodi―, EuGHE 1990, I-3763 Rn. 38; Geiger, EG-Vertrag, 1995, Art. 177 Anm. 5; Wegener in Callies/Ruffert ―Hrsg.―, EUV/EGV, 1999, Art. 234 Anm. 3; Borchardt in Lenz ―Hrsg.―, EGV, Art. 234 Anm. 11). Umso mehr ist die Anwendung nationalen Rechts ausschließlich Sache der nationalen Gerichte (vgl. Geiger, a.a.O.). Beruht anzuwendendes nationales Recht ―wie vorliegend § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB― auf der Umsetzung von oder der Verweisung auf Gemeinschaftsrecht, ist eine Vorlage an den EuGH daher nur erforderlich, wenn an der zutreffenden Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung in das nationale Recht oder ihrer Auslegung darüber hinaus Zweifel bestehen. Die Erforderlichkeit einer Vorlage sowie die Erheblichkeit der vorzulegenden Fragen haben die nationalen Gerichte, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung tragen, im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalles zu beurteilen (vgl. EuGH-Urteile in EuGHE 1990, I-3763 Rn. 34; in EuGHE 1997, I-4161, DB 1997, 1851 Rn. 24; vgl. dazu auch Borchardt in Lenz ―Hrsg.―, a.a.O.).
b) Für den Senat bestehen keine Zweifel, dass die Vorschriften der Bilanzrichtlinie jedenfalls insoweit zutreffend in nationales Recht umgesetzt worden sind, als sie die im Streitfall zu entscheidenden Fragen betreffen.
Gemäß Art. 20 Abs. 1 der Bilanzrichtlinie sind u.a. ihrer Eigenart nach genau umschriebene Verbindlichkeiten auszuweisen, die am Bilanzstichtag wahrscheinlich oder sicher, aber hinsichtlich ihrer Höhe oder dem Zeitpunkt ihres Eintritts unbestimmt sind. Wie sich aus dieser Bestimmung und der Abgrenzung zu den in Art. 20 Abs. 2 der Bilanzrichtlinie geregelten Aufwandsrückstellungen ergibt, wird damit u.a. eine hinreichend konkretisierte Verbindlichkeit gefordert, die über die Erbringung eigenbetrieblichen Aufwands hinausgeht.
Art. 20 der Bilanzrichtlinie ist in Art. 1 des Gesetzes zur Durchführung der Vierten, Siebten und Achten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts (Bilanzrichtlinien-Gesetz ―BiRiLiG― vom 19. Dezember 1985, BGBl I, 2355) in nationales Recht (§ 249 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 HGB) umgesetzt worden (vgl. auch BTDrucks 10/4268). Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind u.a. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Gemäß § 249 Abs. 2 HGB dürfen außerdem für dem Geschäftsjahr oder einem früheren Geschäftsjahr zuzuordnende Aufwendungen Rückstellungen gebildet werden. Diese Bestimmungen lassen offensichtlich eine zutreffende Umsetzung der Richtlinie jedenfalls hinsichtlich der Frage der Abgrenzung der Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten von Aufwandsrückstellungen erkennen. Eine Verbindlichkeit "gegen sich selbst" ist Verbindlichkeit weder i.S. des Art. 20 Abs. 1 der Bilanzrichtlinie noch i.S. des § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB.
7. Für diese Entscheidung bedarf es keiner Vorlage an den Großen Senat des BFH entsprechend dem Beschluss des Senats vom 9. September 1998 I R 6/96 i.d.F. des Änderungsbeschlusses vom 17. November 1999. Der Senat hat diese Vorlage daher durch Beschluss vom 8. November 2000 zurückgenommen. Die Beteiligten hatten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme.
Fundstellen
Haufe-Index 515076 |
BFH/NV 2001, 519 |
BStBl II 2001, 570 |
BFHE 193, 398 |
BFHE 2001, 399 |
BB 2001, 510 |
BB 2001, 566 |
DB 2001, 410 |
DStR 2001, 290 |
DStZ 2001, 247 |
HFR 2001, 424 |