Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
übersieht der Veranlagungsbeamte des FA bei der Veranlagung, die der Auswertung eines Betriebsprüfungsberichts dient und auf diesen Bericht ausdrücklich Bezug nimmt, einen im Bericht klar dargestellten und zu rechtlichen Zweifeln nicht Anlaß gebenden Punkt, so liegt darin eine offenbare Unrichtigkeit im Sinn des § 92 Abs. 3 AO a. F., die die Fehlerberichtigung zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen ermöglicht.
Normenkette
AO § 92 Abs. 3, 2
Tatbestand
Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 1961 führte das Finanzamt (FA) keine Nachversteuerung durch, obwohl die Voraussetzungen dafür nach § 10 a Abs. 2 EStG vorlagen. Der Fehler wurde bei einer Geschäftsprüfung aufgedeckt. Das FA führte daraufhin die Nachversteuerung in einem entsprechend berichtigten Einkommensteuerbescheid wegen offenbarer Unrichtigkeit durch. Es führte aus, in dem ursprünglichen Einkommensteuerbescheid 1961 wie auch in dem Sammelbescheid, durch den nach einer Betriebsprüfung die Einkommensteuerveranlagungen 1957 bis 1960 berichtigt worden seien, sei ausdrücklich auf den Betriebsprüfungsbericht hingewiesen worden, in dem der Prüfer die Nachversteuerung behandelt und den nachzuversteuernden Betrag mit 8.934 DM ermittelt habe.
Das Finanzgericht (FG) wies die Berufung des Steuerpflichtigen (Stpfl.) als unbegründet zurück. Es sah in der unterbliebenen Nachversteuerung ebenfalls eine offenbare Unrichtigkeit im Sinn des § 92 Abs. 3 AO a. F. (= § 92 Abs. 2 AO n. F.), weil in dem Betriebsprüfungsbericht auf S. 25 in Tz. 41 die Nachversteuerung behandelt sei und hier nur ein mechanischer Fehler des Veranlagungsbeamten beim Entwurf bzw. bei der Fertigstellung des Steuerbescheides vorliegen könne. Für ein lediglich mechanisches Versehen spreche auch, daß der Steuerbescheid für 1961 an demselben Tage gefertigt worden sei, an dem auch der Sammelberichtigungsbescheid für die Jahre 1957 bis 1960 unterschrieben worden sei. Es bestehe kein Anhalt, daß die Nachversteuerung infolge eines Rechtsirrtums der Veranlagungsbeamten unterblieben sei oder sein könnte.
Entscheidungsgründe
Die Revision, mit der die Stpfl. unrichtige Anwendung des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) rügt, kann keinen Erfolg haben.
Unstreitig lagen die Voraussetzungen für eine Nachversteuerung vor, sie waren auch im Betriebsprüfungsbericht festgestellt. Ebenso weist der streitige Steuerbescheid 1961 unstreitig auf den Betriebsprüfungsbericht hin. Unter diesen Umständen konnte das FG ohne Rechtsverstoß zu der Feststellung kommen, daß hier eine offenbare Unrichtigkeit vorliege.
Die Stpfl. weist zwar mit Recht darauf hin, daß für die Auslegung des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) nicht mehr darauf abgestellt wird, ob der Fehler einem Beamten mit normalen Kenntnissen nicht unterlaufen wäre. Unter § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) fallen nur "mechanische Versehen", die den in § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) angeführten Beispielen "Schreibfehler, Rechenfehler" ähnlich sind. Eine "offenbare Unrichtigkeit" kann nicht angenommen werden, wenn auch nur die Möglichkeit eines rechtlichen Irrtums gegeben ist.
Bei der Auslegung des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) muß wie bei allen Vorschriften, die die änderung unanfechtbarer Steuerbescheide zulassen, ein Ausgleich zwischen widerstreitenden Grundsätzen gesucht werden, nämlich einerseits dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung, der gebietet, von jedem Steuerpflichtigen die Steuer zu fordern, die das Gesetz vorschreibt, und andererseits dem Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, der verlangt, daß unanfechtbare Steuerbescheide nur unter besonderen Umständen geändert werden. Die engere Auslegung wird dem Wortlaut des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) und dem Gewicht, das dem Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes heute beigelegt wird, besser gerecht als die frühere weite Auslegung. Bei der Auslegung des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) darf aber auch nicht übersehen werden, daß die Auslegung dieser Vorschrift "zweischneidig" wirkt. Wird der Begriff "offenbare Unrichtigkeit" eng ausgelegt, so kann das Steuerpflichtige benachteiligen, zu deren Ungunsten dem FA ein Fehler bei der Steuerfestsetzung unterlaufen ist. Der Begriff "offenbare Unrichtigkeit" kann jedenfalls nicht verschieden danach ausgelegt werden, ob der Fehler sich zuungunsten des Steuerpflichtigen oder des Steuerfiskus auswirkt. Man muß ferner, wenngleich § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) den für die Berichtigung von Urteilen geltenden § 319 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nachgebildet ist, auch in Betracht ziehen, daß die Berichtigungsvorschrift nicht Urteile, sondern Verwaltungsakte betrifft, denen nicht ein mit denselben Garantien ausgestattetes Verfahren wie das gerichtliche Verfahren zugrunde liegt. Wenn die Rechtsprechung von "mechanischen" Versehen spricht, so soll damit eine Grenze zum Rechtsirrtum und zur rechtlichen Fehlentscheidung gezogen werden. Die Unterscheidung von Fehlern, die bei der Willensbildung unterlaufen, und Fehlern in der Erklärung des (fehlerfrei gebildeten) Willens bietet zwar manchmal einen Anhalt, kann aber nicht allgemein angewandt werden; denn sie versagt schon bei dem gesetzlichen Beispiel des Rechenfehlers, der unzweifelhaft ein Fehler in der Willensbildung ist.
Das FG konnte hier seine Entscheidung darauf stützen, daß der ursprüngliche Bescheid in der beigegebenen Erläuterung eindeutig sagt, er wolle den Betriebsprüfungsbericht auswerten, und daß der Betriebsprüfungsbericht die Nachversteuerung klar dargestellt hatte. Der Stpfl. konnte aus diesen Zusammenhängen ohne Schwierigkeiten erkennen, daß dem FA "offenbar" ein Fehler unterlaufen war, wenn es entgegen den klaren Feststellungen im Betriebsprüfungsbericht keine Nachversteuerung vornahm. Der Beamte wollte - auch dem Stpfl. erkennbar - offenbar nicht bewußt von der Nachversteuerung absehen. Er hat entweder den Bericht nicht sorgfältig gelesen oder er hat den Punkt, um den es hier geht, zwar erkannt, ihn dann jedoch auszuwerten vergessen. Der Streitfall liegt rechtlich ähnlich dem Fall des Urteils des BFH IV 307/60 vom 3. August 1961 (HFR 1962, 202), in dem ein in der Handelsbilanz ausgewiesenes Wirtschaftsgut nicht in die Betriebsprüferbilanz aufgenommen war, obwohl es in der beigefügten Aufstellung über die Entwicklung des abnutzbaren Anlagevermögens enthalten war.
Der Stpfl. mag zugegeben werden, daß den Veranlagungsbeamten möglicherweise ein Verschulden trifft und daß er selbst keine Veranlassung zu dem Fehler gegeben hat. Auf ein Verschulden kommt es indessen bei der Anwendung des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) nicht an. Ist die Berichtigungsmöglichkeit des § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) gegeben, so spielt auch der Grundsatz von Treu und Glauben grundsätzlich keine Rolle; denn das FA ist, wenn die Voraussetzungen von § 92 Abs. 3 AO a. F. (§ 92 Abs. 2 AO n. F.) erfüllt sind, verpflichtet, die Berichtigung durchzuführen und die richtige Steuer festzusetzen, und zwar, wie gesagt, nicht nur zugunsten des Steuergläubigers, sondern auch zugunsten der Steuerpflichtigen.
Fundstellen
Haufe-Index 412465 |
BStBl III 1967, 348 |
BFHE 1967, 155 |
BFHE 88, 155 |