Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstmalige Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs; Feststellungsverjährung; im Revisionsverfahren eingetretene Rechtsänderung bei Verpflichtungsklage
Leitsatz (NV)
1. Der erstmals selbstständig festzustellende verbleibende Verlustabzug ist unabhängig von der tatsächlichen Durchführung einer Veranlagung so zu berechnen, wie er sich bei zutreffender Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen und des Verlustrücktrags und ‐vortrags nach § 10d Abs. 1 und Abs. 2 EStG ergeben hätte (sog. Sollverlustabzug). Der geltend gemachte Verlust ist daher ggf. um im selben Veranlagungszeitraum erzielte positive Einkünfte zu mindern.
2. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ablehnung oder Unterlassung eines begehrten (gebundenen) Verwaltungsakts im Rahmen einer Verpflichtungsklage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des FG maßgeblich. Danach eintretende Rechtsänderungen zu Ungunsten des Steuerpflichtigen sind ohne Belang. § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG i.d.F. des JStG 2007 gilt daher nicht, wenn das FG seine Entscheidung zu Gunsten des Steuerpflichtigen vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung am 19. Dezember 2006 getroffen hat.
Normenkette
AO § 181 Abs. 5; EStG § 10d Abs. 1-3, 4 S. 6; JStG 2007
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Streitig ist die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1993.
Die Veranlagung für den Veranlagungszeitraum 1993 lehnte der Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) ab, da die Einkommensteuererklärung erst am 6. Januar 1999, mithin nach Ablauf der zweijährigen Antragsfrist (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung), abgegeben worden war. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Den Antrag, den zum 31. Dezember 1993 verbleibenden Verlustabzug gesondert festzustellen, lehnte das FA zunächst ab. Auf den Einspruch der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Kläger) erließ das FA unter dem 17. Dezember 2001 einen "Bescheid zum 31.12.1993 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer".
Dieser Bescheid hatte folgenden Inhalt:
"Feststellung
Es ist keine gesonderte Feststellung nach § 10d Abs. 3 EStG durchzuführen, weil kein verbleibender Verlustabzug mehr besteht.
Feststellungsgrundlagen
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Ehemann |
Ehefrau |
negativer Gesamtbetrag der Einkünfte 1993 |
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168 274 |
ab Verlustrücktrag nach 1991 |
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51 072 |
ab Verlustrücktrag nach 1992 |
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12 141 |
Verlustvortrag nach 1994 |
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42 698 |
Verlustvortrag nach 1995 |
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49 090 |
Verlustvortrag nach 1996 |
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13 273 |
verbleibender Verlustabzug zum 31.12.1993 |
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0 |
…"
Den Gesamtbetrag der Einkünfte 1993 ermittelte das FA, indem es die Verluste der Klägerin von 191 718 DM um die positiven Einkünfte des Klägers von 23 444 DM verminderte.
Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage machten die Kläger geltend, dass für 1993 keine Veranlagung durchgeführt worden sei und deshalb der entstandene Verlust nicht habe gekürzt werden dürfen; auch könne eine Feststellung auf den 31. Dezember 1993 naturgemäß keine Verlustabzüge für Folgejahre beinhalten. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt; die Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 1679, veröffentlicht.
Der der Klägerin im Jahr 1993 entstandene Verlust sei mit den übrigen Einkünften der Kläger in diesem Jahr zu saldieren. Der zu berücksichtigende Gesamtbetrag der Einkünfte sei mit ./. 168 274 DM anzusetzen. Zu Unrecht habe das FA aber den zum 31. Dezember 1993 festzustellenden Verlustabzug um Verlustvorträge in künftige Jahre gemindert. Der verbleibende Verlustabzug betrage demnach 105 061 DM.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Eine Saldierung mit den positiven Einkünften habe im Hinblick auf die unterbliebene Veranlagung nicht vorgenommen werden dürfen.
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben, das FA zu verpflichten, den verbleibenden Verlustabzug auf 128 505 DM festzustellen und --sinngemäß-- die Revision des FA zurückzuweisen.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, die Klage abzuweisen, und die Revision der Kläger zurückzuweisen.
Zur Begründung der Revision trägt das FA im Wesentlichen Folgendes vor:
Eine Verlustfeststellung komme nicht in Betracht, da der Einkommensteuerbescheid 1993 nicht mehr habe geändert werden können.
Im Übrigen sei im Streitfall die zwischenzeitlich durch das Jahressteuergesetz 2007 (JStG 2007) vom 13. Dezember 2006 geänderte Neufassung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG maßgeblich (Art. 1 Nr. 9 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 JStG 2007, BGBl I 2006, 2878, 2912). Hiernach dürfe wegen eingetretener Feststellungsverjährung keine Verlustfeststellung auf den 31. Dezember 1993 mehr erfolgen.
Unabhängig davon, ob eine Veranlagung stattgefunden habe, entspreche der nach § 10d EStG abziehbare Betrag dem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte.
Das Verfahren ist wegen Insolvenz unterbrochen gewesen. Nachdem der Treuhänder erklärt hat, den Rechtsstreit nicht aufzunehmen, haben die Kläger selbst das Verfahren gemäß § 85 Abs. 2 der Insolvenzordnung wieder aufgenommen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Revision der Kläger ist gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als unbegründet zurückzuweisen.
Gemäß § 10d Abs. 3 Satz 2 EStG in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung ist verbleibender Verlustabzug der bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichene Verlust, vermindert um die nach den Absätzen 1 und 2 abgezogenen Beträge und vermehrt um den auf den Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten verbleibenden Verlustabzug.
Dabei ist es nicht erforderlich, dass dieser "Gesamtbetrag der Einkünfte" Gegenstand einer Veranlagung war. Das Verfahren der Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs ist insoweit selbstständig. Der auf den 31. Dezember festzustellende nach § 10d Abs. 3 EStG verbleibende Verlustabzug ist --unabhängig davon, ob eine Veranlagung durchgeführt worden ist-- so zu berechnen, wie er sich bei zutreffender Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen und des Verlustrücktrags und -vortrags nach § 10d Abs. 1 und 2 EStG ergeben hätte (sog. Soll-Verlustabzug); wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil des Senats vom 2. August 2006 XI R 65/05 (BFHE 214, 492) Bezug genommen.
2. Die Revision des FA ist ebenfalls unbegründet.
Nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 1. März 2006 XI R 33/04 (BFHE 212, 497) kann ein erstmaliger Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs nach § 10d EStG bis zum Ablauf der Feststellungsfrist auch dann noch ergehen, wenn eine Veranlagung zur Einkommensteuer vom FA wegen Ablaufs der zweijährigen Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG bestandskräftig abgelehnt worden ist.
In den Urteilen vom 9. Dezember 1998 XI R 62/97 (BFHE 187, 523, BStBl II 2000, 3) und vom 9. Mai 2001 XI R 25/99 (BFHE 195, 545, BStBl II 2002, 817) hatte der Senat die erstmalige Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs (nur) für den Fall untersagt, dass die bestandskräftige und nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Veranlagung einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte auswies (vgl. dazu auch BFH-Urteil in BFHE 212, 497).
Im Streitfall war bezüglich der Feststellung noch keine Verjährung eingetreten. Dem Erlass eines Verlustfeststellungsbescheides nach § 10d EStG steht gemäß § 181 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) solange keine Feststellungsverjährung entgegen, als diese Feststellung für künftige Einkommensteuerfestsetzungen oder Verlustfeststellungen nach § 10d EStG von Bedeutung ist (vgl. Senatsurteil vom 12. Juni 2002 XI R 26/01, BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681).
Die Revision des FA hat auch keinen Erfolg im Hinblick auf die durch das JStG 2007 geänderte Fassung des 10d Abs. 4 Satz 6 EStG. Hiernach endet die Feststellungsfrist nicht, bevor die Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum abgelaufen ist, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag gesondert festzustellen ist; § 181 Abs. 5 AO ist nur anzuwenden, wenn die zuständige Finanzbehörde die Feststellung des Verlustvortrags pflichtwidrig unterlassen hat. Diese gesetzliche Neufassung ist am 19. Dezember 2006 in Kraft getreten und gilt nach § 52 Abs. 25 EStG für alle bei Inkrafttreten dieses Gesetzes noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen.
Entgegen der Auffassung des FA ist die Neufassung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG im Streitfall nicht anwendbar. Denn nach der Rechtsprechung des BFH ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ablehnung oder Unterlassung eines begehrten (gebundenen) Verwaltungsakts im Rahmen der --im Streitfall erhobenen-- Verpflichtungsklage der Zeitpunkt der Entscheidung des FG maßgeblich. Danach eintretende Rechtsänderungen sind ohne Belang (BFH-Urteile vom 17. Mai 1977 VII R 101/76, BFHE 122, 376, BStBl II 1977, 706; vom 21. Juli 1992 VII R 28/91, BFH/NV 1993, 440; vom 1. Februar 1994 VII R 27/93, BFHE 173, 471, BStBl II 1994, 822, und vom 28. November 1995 VII R 5/94, BFHE 179, 529, BStBl II 1996, 171). Dies gilt jedenfalls bei Gesetzesänderungen.
Es kann nicht rechtens sein, dass ein rechtmäßiges FG-Urteil zugunsten des Steuerpflichtigen deshalb aufzuheben sein soll, weil das Revisionsgericht erst nach Eintritt einer belastenden Gesetzesänderung über die Revision entscheidet. Da das FG im Streitfall seine Entscheidung am Tag der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2005 und somit mehr als ein Jahr vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung am 19. Dezember 2006 getroffen hat, galt die Neufassung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG noch nicht.
Hiernach kann offenbleiben, ob die Auffassung des FA auch deshalb unzutreffend ist, weil eine den Eintritt der Feststellungsverjährung hindernde Rechtshängigkeit des Klageverfahrens nach § 171 Abs. 3 AO gegeben ist.
Fundstellen
Haufe-Index 1814353 |
BFH/NV 2007, 2261 |
HFR 2008, 64 |