Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Überraschungsentscheidung, wenn FG Besteuerungsgrundlagen ohne Ankündigung selbst schätzt; zur Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung
Leitsatz (NV)
- Der Umstand, daß das FG Besteuerungsgrundlagen ohne vorherige Ankündigung selbst schätzt, soweit es sie nicht ermitteln kann, kann das Recht des FA auf Gehör nicht verletzen; die Verpflichtung des FG zur Schätzung ergibt sich aus dem Gesetz.
- An eine zulässige und wirksame tatsächliche Verständigung sind die Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, auch wenn die Verständigung nicht sämtliche schwer aufklärbare Umstände des Besteuerungssachverhalts umfaßt. Die gegenseitige Bindung ist jeder tatsächlichen Verständigung immanent, ohne daß es einer ausdrücklichen Erklärung der Beteiligten bedarf.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1-2; AO 1977 §§ 85, 88, 90, 162; BGB §§ 133, 154-155, 242
Tatbestand
I. Der in G wohnhafte Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb in den Streitjahren (1985 bis 1988) eine Gaststätte in B. Außerdem war er u.a. Mitgesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die ebenfalls eine Speisegaststätte betrieb. Die Gewinnanteile des Klägers an der GbR sind nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.
Der Beklagte und Revisionkläger (das Finanzamt ―FA―) nahm nach einer Fahndungsprüfung, die außer den Streitjahren noch andere Besteuerungszeiträume umfaßte, Zuschätzungen zu den erklärten Umsätzen und Gewinnen bzw. für 1987 und 1988 Vollschätzungen der Umsätze und Gewinne vor und erließ entsprechend geänderte Gewinnfeststellungs- und Umsatzsteuerbescheide für 1985 und 1986 bzw. Erstbescheide für 1987 und 1988. Für die Vollschätzung der Jahre 1987 und 1988 übernahm das FA den vom Prüfer in Anlehnung an die Vorjahre ermittelten Reingewinnsatz von 35 v.H.
Während des Einspruchsverfahrens fand am 16. Oktober 1990 eine Besprechung statt, an der neben dem Kläger und seinen Bevollmächtigten u.a. der Leiter und der Sachbearbeiter der Rechtsbehelfsstelle sowie der Prüfer teilnahmen. Der bei den Akten befindliche Vermerk über das Ergebnis der Besprechung trägt auszugsweise folgenden Wortlaut:
"Über die Erledigung der Rechtsbehelfe gegen die aufgrund der durchgeführten Fahndungsprüfung ergangenen Steuerfestsetzungen wurde nach eingehender Erörterung des Sachverhalts Einigkeit erzielt. Die bisherigen Prüfungsfeststellungen sind in folgenden Punkten zu ändern:
Erhöhung des erklärten Wareneinsatzes
Jahr |
bisher |
lt. Rb-V. |
… |
… |
… |
1985 |
100 % |
30 % |
1986 |
100 % |
50 % |
1987 |
100 % |
60 % |
1988 |
100 % |
75 % |
… |
… |
… |
Auf die so erhöhten Wareneinsätze werden folgende Aufschlagsätze angewandt:
Der jeweils erklärte Gewinn aus Gewerbebetrieb wird um den Mehrgewinn lt. obiger Feststellungen erhöht. Von dem sich danach jeweils ergebenden Betrag wird die Gewerbesteuerrückstellung abgezogen".
Das FA errechnete entsprechend dieser Einigung für die Streitjahre 1987 und 1988 niedrigere Erlöse des Klägers von 560 784 DM für 1987 und 551 296 DM für 1988. Unter Berücksichtigung des nach dem Prüfungsbericht angesetzten Reingewinnsatzes von 35 v.H. und unter Abzug der Zuführungen zur Gewerbesteuerrückstellung stellte es mit geänderten Bescheiden vom 26. Oktober 1990 einen Gewinn des Klägers von 170 401 DM für 1987 und von 167 067 DM für 1988 fest. Geänderte Umsatzsteuerbescheide erließ das FA nicht.
Der Kläger legte gegen die geänderten Gewinnfeststellungsbescheide 1987 und 1988 Einspruch ein mit der Begründung, das FA hätte bei der Ermittlung des Gewinns aus dem Einzelunternehmen nicht einen Reingewinnsatz von 35 v.H. anwenden dürfen, sondern den sich aus der Gesamteinigung für die Vorjahre ergebenden durchschnittlichen Reingewinnsatz, der rd. 11 v.H. betrage.
Das FA hielt daraufhin das Einigungsergebnis nicht mehr für verbindlich. Nach entsprechendem Verböserungshinweis setzte es mit Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 1991 die Gewinne wieder in der Höhe der aufgrund der Fahndungsprüfung ergangenen Gewinnfeststellungsbescheide fest (1987: 265 067 DM, 1988: 299 081 DM). Außerdem wies es die Einsprüche gegen die aufgrund der Fahndungsprüfung ergangenen Umsatzsteueränderungs- bzw. Erstbescheide mit Einspruchsentscheidung vom 16. Januar 1991 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage im wesentlichen statt. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 1374 veröffentlicht. Das FG führte aus, die Beteiligten seien an den Inhalt der Vereinbarung vom 16. Oktober 1990 gebunden, soweit sie sich darin über Sachverhaltsunklarheiten und -ungewißheiten verständigt hätten. Dabei könne offenbleiben, ob die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung aus Treu und Glauben abzuleiten sei, oder ob die tatsächliche Verständigung ein öffentlich-rechtlicher Vertrag sei. Da die tatsächliche Verständigung auf der Abgabe von Willenserklärungen beruhe, seien die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über die Abgabe und Anfechtung von Willenserklärungen anzuwenden, soweit nicht Besonderheiten des Steuerrechts entgegenstünden. Ebenso seien, soweit mit den Besonderheiten des Steuerrechts vereinbar, die Regelungen über den öffentlich-rechtlichen Vertrag entsprechend anzuwenden. Beide Methoden müßten zu deckungsgleichen Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der tatsächlichen Verständigung führen. Im Streitfall lägen die Voraussetzungen einer bindenden tatsächlichen Verständigung hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen "Wareneinsatz" und "Rohgewinnaufschlagsatz" vor. Hinsichtlich des in den Streitjahren 1987 und 1988 anzuwendenden Reingewinnsatzes hätten sich die Beteiligten nicht verständigt; diese Größe sei daher zu schätzen. Das FG schätzte den Reingewinnsatz mit dem oberen Satz von 24 v.H. der für die Jahre 1987 und 1988 geltenden Richtsätze für Gast- und Speisewirtschaften mit einem Küchenwarenanteil über 25 v.H. des Wareneinsatzes und setzte den Gewinn des Klägers aus Gewerbebetrieb 1987 und 1988 sowie die Umsatzsteuer 1985 bis 1988 entsprechend dem Ergebnis der Vereinbarung vom 16. Oktober 1990 herab.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung formellen und materiellen Rechts. Es legt dar, das angefochtene Urteil verletze den Grundsatz von Treu und Glauben, indem es die Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung in unzutreffender Weise bejahe. Außerdem habe das FG den Amtsermittlungsgrundsatz und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht beachtet.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet.
Das FG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Beteiligten an den Inhalt der Vereinbarung vom 16. Oktober 1990 gebunden sind. Ferner hat es in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise den Reingewinn des Klägers 1987 und 1988 ausgehend von den im Wege der tatsächlichen Verständigung ermittelten Erlösen geschätzt.
1. Die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.
a) Das FA hat die Verletzung des Rechts auf Gehör (§ 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) nicht schlüssig dargelegt. Es hat nicht, wie erforderlich, substantiiert vorgetragen, auf welche tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, zu denen es sich nicht hat äußern können, das FG seine Entscheidung gestützt hat (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 20. März 1997 XI B 181/95, BFH/NV 1997, 775, m.w.N.). Eine unvorhersehbare Urteilsbegründung, die zur Verletzung rechtlichen Gehörs führt, liegt nur dann vor, wenn der Gesichtspunkt, auf den das FG sein Urteil gestützt hat, im bisherigen Verlauf des Verwaltungsverfahrens und des gerichtlichen Verfahrens überhaupt nicht angesprochen worden ist, so daß die Beteiligten sich dazu nicht geäußert haben und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten, sich zu äußern (BFH-Urteil vom 17. Juni 1994 III R 108/93, BFH/NV 1995, 133). Nach dem eigenen Vortrag des FA hat das FG die Höhe des möglicherweise anzusetzenden Reingewinnsatzes in der mündlichen Verhandlung jedoch erörtert. Der Umstand, daß das FG die Besteuerungsgrundlage selbst geschätzt hat, soweit es sie nicht ermitteln konnte, kann für das FA keine Überraschung darstellen; die Verpflichtung des FG zur Schätzung ergibt sich aus dem Gesetz (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 der Abgabenordnung ―AO 1977―).
b) Soweit das FA weitere Verfahrensmängel gerügt hat, ergeht die Entscheidung gemäß Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Begründung.
2. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung eine sog. tatsächliche Verständigung über die tatsächlichen Merkmale, die der Besteuerung zugrunde zu legen sind, grundsätzlich zulässig. Sie dient der Verfahrensbeschleunigung und dem Rechtsfrieden. Die tatsächliche Verständigung ist kein öffentlich-rechtlicher Vertrag; sie hat ihre Grundlage vielmehr in dem bestehenden, konkreten Steuerrechtsverhältnis zwischen dem FA und dem Steuerpflichtigen. Soll durch die tatsächliche Verständigung keine Bindung eintreten, muß dies durch einen entsprechenden Vorbehalt zum Ausdruck kommen (zu den Voraussetzungen im einzelnen vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 31. Juli 1996 XI R 78/95, BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625, m.w.N.).
In Schätzungsfällen kann eine tatsächliche Verständigung über die Besteuerungsgrundlage selbst oder das einzuschlagende Schätzungsverfahren getroffen werden (vgl. BFH-Urteil vom 11. Dezember 1984 VIII R 131/76, BFHE 142, 549, 557, BStBl II 1985, 354, 358). Hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen, die von der tatsächlichen Verständigung nicht umfaßt sind, bestehen die gesetzlich festgelegten Pflichten des FA zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§§ 85, 88 AO 1977), des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung (§ 90 AO 1977) sowie des FA und des FG zur Schätzung nicht ermittelbarer Besteuerungsgrundlagen (§ 162 AO 1977, § 96 Abs. 1 FGO) fort.
3. An eine zulässige und wirksame tatsächliche Verständigung sind die Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, auch wenn die Verständigung nicht sämtliche schwer aufklärbaren Umstände des Besteuerungssachverhalts umfaßt. Die gegenseitige Bindung ist jeder tatsächlichen Verständigung immanent, ohne daß es einer ausdrücklichen Erklärung der Beteiligten bedarf.
a) Zweck des Instituts der tatsächlichen Verständigung ist es, zu jedem Zeitpunkt des Besteuerungsverfahrens hinsichtlich bestimmter Sachverhalte, deren Klärung schwierig, aber zur Festsetzung der Steuer notwendig ist, den möglichst zutreffenden Besteuerungssachverhalt i.S. des § 88 AO 1977 einvernehmlich festzulegen (BFH-Urteil in BFHE 181, 103, BStBl II 1996, 625). Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn die Beteiligten zu einem späteren Zeitpunkt von den abgegebenen Erklärungen wieder abrücken könnten, weil sie vermeintliche Nachteile der Einigung festzustellen glauben.
b) Die Voraussetzungen einer tatsächlichen Verständigung sind vom FG als Tatsacheninstanz festzustellen. Das FG hat dabei zu ermitteln, ob die Beteiligten sich über Fragen des Sachverhalts einigen wollten und tatsächlich geeinigt haben. Ist zwischen den Beteiligten streitig, ob eine tatsächliche Verständigung zustandegekommen ist, hat das FG zu prüfen, wie die an der tatsächlichen Verständigung Beteiligten die Erklärung des jeweils anderen nach Treu und Glauben und nach der Verkehrsauffassung verstehen mußten (vgl. §§ 133, 242 BGB). Dies gilt auch in Fällen des offenen oder versteckten Einigungsmangels; die zivilrechtlichen Auslegungsvorschriften der §§ 154 und 155 BGB sind wegen der Eigenständigkeit des Rechtsinstituts der tatsächlichen Verständigung nicht entsprechend anwendbar (a.A. Buciek, Deutsche Steuer-Zeitung 1999, 389, 398). Die Bindung an die einvernehmlich getroffenen Regelungen setzt voraus, daß diese nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führen (BFH-Urteil in BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354 unter 3. c). Gerade in Fällen, in denen ein Einigungsmangel erkennbar ist, sind die getroffenen Vereinbarungen unter diesem Gesichtspunkt besonders zu prüfen.
4. Das FG ist nach den vorstehenden Grundsätzen im Ergebnis zutreffend zu der Auffassung gelangt, daß sich der Kläger und das FA über die Höhe der Wareneinsätze und der Rohgewinnaufschlagsätze einigen wollten und auch geeinigt haben. Es hat festgestellt, daß bei der Vereinbarung vom 16. Oktober 1990 der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigen und das FA durch den Leiter der Rechtsbehelfsstelle wirksam vertreten waren, ferner, daß die Einigung keine Rechtsfragen umfaßt. Weiter hat das FG zutreffend erkannt, daß der Umstand der fehlenden Verständigung über den Reingewinnsatz nicht die Wirksamkeit und Bindung an die im übrigen vorliegende Verständigung beeinträchtigt.
Die Schätzung des Reingewinnsatzes durch das FG ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Es war nach § 96 Abs. 1 FGO i.V.m. § 162 AO 1977 zur Schätzung befugt. Das FG hat die von dem Prüfer erstellten Berechnungen gewürdigt und dargelegt, daß mangels anderer Anhaltspunkte der oberste Wert der Richtsatzsammlung (24 v.H.) als plausible Schätzungsgrundlage in Betracht komme. In diesem Zusammenhang hat es erläutert, daß der für die Schätzung anzuwendende Reingewinnsatz der Streitjahre wegen der erheblichen Umsatzsteigerungen ohne gleichzeitigen Anstieg der übrigen Betriebsausgaben höher liegen müsse als der Reingewinnsatz der Vorjahre (durchschnittlich 11 v.H.). Andererseits hat es betont, daß der sich bei Anwendung des obersten Werts der Richtsatzsammlung ergebende Gewinn des Klägers ausreiche, um den vom FA behaupteten ungeklärten Vermögenszuwachs abzudecken.
Der Einwand des FA, eine Schätzung nach Richtsätzen verbiete sich im Streitfall, weil diese nicht davon ausgingen, daß ein Teil der Betriebsausgaben nach § 160 Abs. 1 AO 1977 nicht abzugsfähig sei, ist nicht erheblich. Denn eine Schätzung nach § 162 AO 1977 ist grundsätzlich unabhängig von der Prüfung eines Abzugsverbots nach § 160 AO 1977 durchzuführen. § 160 AO 1977 ist keine Schätzungsnorm (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juni 1997 VIII R 9/96, BFHE 183, 358, BStBl II 1998, 51).
Abschließend hat das FG festgestellt, die tatsächliche Verständigung führe unter Berücksichtigung des geschätzten Reingewinnsatzes nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis. Es hat darauf hingewiesen, daß der durch die Schätzung ermittelte Gewinn zusammen mit den Gewinnanteilen des Klägers an der GbR den vom FA behaupteten ungeklärten Vermögenszuwachs mehr als abdeckten. Unter diesen Umständen hat das FG zu Recht auf die vom FA beantragte Beweiserhebung über die Höhe des ungeklärten Vermögenszuwachses verzichtet.
Fundstellen
Haufe-Index 424785 |
BFH/NV 2000, 537 |
DStRE 2000, 379 |
HFR 2000, 397 |