Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld als Familienleistung i.S. der EWGV 1408/71; Vereinbarung nach Art. 17 EWGV 1408/71 umfasst Kindergeldanspruch
Leitsatz (NV)
1. Das nach den Vorschriften des EStG als Steuervergütung gezahlte deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern; es ist eine Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung.
2. Wird zwischen den zuständigen griechischen und deutschen Behörden bzw. Stellen gemäß Art. 17 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vereinbart, dass ein griechischer Staatsangehöriger, der in Deutschland als Lehrer im Angestelltenverhältnis tätig ist, von der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit befreit ist und weiterhin den griechischen Rechtsvorschriften unterliegt, so hat diese Vereinbarung zur Folge, dass ein grundsätzlich nach den Vorschriften des EStG bestehender Anspruch auf Kindergeld ausgeschlossen ist.
Normenkette
EStG § 31; EWGV 1408/71 Art. 4 Abs. 1 Buchst. h, Art. 13 Abs. 1, 2 Buchst. a, Art. 17
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist griechischer Staatsangehöriger. Er war beamteter Lehrer in Griechenland. Er wurde dort 1975 ohne Bezüge beurlaubt und 1988 pensioniert. Er lebt seit 1975 mit seiner Ehefrau, die ebenfalls beamtete Lehrerin in Griechenland war und ebenfalls ohne Bezüge beurlaubt ist, und seiner Tochter in Deutschland. Der Kläger und seine Ehefrau unterrichteten seit 1975 als Angestellte des Landes Nordrhein Westfalen (NRW) an einer deutschen Schule. Sie werden vom Landesamt für Besoldung und Versorgung des Landes NRW (LBV) als Angestellte des öffentlichen Dienstes besoldet.
Im Jahre 1986 schlug das Ministerium für Gesundheits-, Vorsorge- und Sozialversicherungswesen der Republik Griechenland (im Folgenden: SozMinGrie) der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland (DVKA) vor, Art. 17 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (Verordnung Nr. 1408/71) des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft ―ABlEG― 1971 Nr. l149/2), in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2000/82 (Verordnung Nr. 2000/82) des Rates vom 2. Juni 1983 (ABlEG 1983 Nr. L 230/1) auf den Kläger anzuwenden und ihn und seine Ehefrau rückwirkend für die gesamte Zeit ihrer Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland von der deutschen Sozialversicherungspflicht zu befreien. Die DVKA stimmte mit Schreiben vom 18. April 1986 einer Befreiung des Klägers und seiner Ehefrau "von der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit" für die Zeit vom 1. Juni 1986 bis 31. Mai 1991 zu. Sie hatte dem Kläger bereits mit Schreiben vom 7. April 1986 mitgeteilt, dass er "für die Zeit vom 1. Juni 1986 an bis auf weiteres, längstens jedoch bis 31. Mai 1991 von der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit (Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung einschließlich Kindergeld) befreit" sei. Die DVKA stimmte dem Antrag des SozMinGrie auf eine Verlängerung dieser Ausnahme bis zum 31. Mai 1996 mit Schreiben vom 23. Oktober 1990 und letztmalig einer weiteren Verlängerung bis zum 31. Dezember 2000 mit Schreiben vom 12. September 1996 zu.
Im November 1996 beantragte der Kläger beim LBV Kindergeld für seine Tochter. Das LBV lehnte die Festsetzung von Kindergeld ab und gab den Vorgang an den Beklagten und Revisionskläger (Beklagter) ab. Dieser lehnte den Antrag erneut ab. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Der Beklagte war der Auffassung, der Kläger unterliege aufgrund der Vereinbarung nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit und habe deshalb keinen Anspruch auf Kindergeld.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und verpflichtete den Beklagten, Kindergeld für die Tochter für die Zeit von Mai bis Dezember 1996 festzusetzen. Es entschied ―und darüber bestand auch kein Streit― dass sämtliche Voraussetzungen der §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für die Bewilligung von Kindergeld erfüllt seien. Der Anspruch auf Kindergeld sei entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht durch die nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 getroffene Vereinbarung ausgeschlossen. Zwar sei auch das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71. Aber der Beklagte sei zu Unrecht der Meinung, dass sich die jeweils nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 getroffene Vereinbarung auch auf den Kindergeldanspruch des Klägers bezogen habe. Das SozMinGrie habe lediglich um eine Befreiung von der deutschen Sozialversicherungspflicht gebeten, aber keine Aberkennung des Kindergeldes erklärt. Der Kläger unterliege deshalb den griechischen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit bezüglich Altersversorgung, Krankenversicherung, Unfallversicherung und Arbeitslosenversicherung, aber bezüglich der Kindergeldansprüche den deutschen Rechtsvorschriften. Darin liege kein Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, durch den verhindert werden solle, dass Personen gleichzeitig den Systemen der sozialen Sicherheit mehrerer Mitgliedstaaten unterlägen. Denn dieses Prinzip sei durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) dahin gehend eingeschränkt worden, dass die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 nicht zu einem Verlust von Ansprüchen führen dürfe, die allein nach dem innerstaatlichen Recht eines Mitgliedstaates erworben worden seien. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1339 veröffentlicht.
Der Beklagte macht mit der Revision geltend, Ausnahmeregelungen i.S. des Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 könnten nur dergestalt getroffen werden, dass auf den jeweiligen EU-Bürger entweder das gesamte System der sozialen Sicherheit des einen oder das gesamte System des anderen Staates anzuwenden sei. Eine Vereinbarung im Sinne der sog. "Rosinentheorie" sei nicht möglich.
Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Die Annahme des FG, dem Kläger habe ein Anspruch auf Kindergeld nach den Vorschriften des EStG für seine Tochter zugestanden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung des FG war dieser Anspruch des Klägers aber durch das europäische Gemeinschaftsrecht (Titel II der Verordnung Nr. 1408/71) ausgeschlossen.
1. Der Kläger unterliegt ―wie zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist― dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind. Rechtsvorschriften im Sinne der Verordnung sind gemäß der Definition in Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 1408/71 die in jedem Mitgliedstaat bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 4 Abs. 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit. "Arbeitnehmer" ist nach Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 jede Person, die gegen ein Risiko oder mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
Der Kläger ist Staatsangehöriger des Mitgliedstaates Griechenland. Er war als in Deutschland wohnhafter und abhängig Beschäftigter hier sozialversicherungspflichtig (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1, § 3 Nr. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch ―SGB IV―; § 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch ―SGB VI―) und unterlag damit grundsätzlich den deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit i.S. des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71. Dass der Kläger dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung unterliegt und diese auf ihn anwendbar ist, war auch Voraussetzung dafür, dass die zuständigen griechischen und deutschen Behörden bzw. Stellen die nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 zulässige Ausnahmevereinbarung treffen konnten.
2. Das FG hat auch rechtsfehlerfrei entschieden, dass das deutsche Kindergeld, das Gegenstand des vorliegenden Klagebegehrens ist, in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt und eine Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung ist.
Nach der Definition in Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung sind "Familienleistungen" alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. h genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen. Nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 geben die Mitgliedstaaten in Erklärungen die Rechtsvorschriften und Systeme an, die unter Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung fallen. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Leistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der jeweils geltenden Fassung zu Familienleistungen i.S. des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 erklärt (vgl. die Mitteilung in ABlEG 1980 Nr. C 139/6 und ABlEG 1983 Nr. C 351/1). Dementsprechend ist unstreitig, und der EuGH und das Bundessozialgericht (BSG) gehen als selbstverständlich davon aus, dass das Kindergeld nach dem BKGG eine "Familienleistung" im dargestellten Sinne ist und in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 5. März 1998 in der Rs. C-194/96, EuGHE 1998, I-895; BSG-Urteil vom 15. Dezember 1992 10 RKg 18/91, SozR 3-6050 Art. 13 Nr. 3 EWGV 1408/71).
Auch das seit dem 1. Januar 1996 nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlte Kindergeld ist eine Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71. Es dient, soweit es nicht die steuerliche Freistellung des Existenzminimums bewirkt, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG).
Die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgeschlossen sind, und solchen, die darunter fallen, hängt nach der Rechtsprechung des EuGH allein von den Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrer Zielsetzung und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird und der Mitgliedstaat insoweit eine Erklärung i.S. des Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 abgegeben hat; eine Leistung fällt unter die Verordnung Nr. 1408/71, wenn sie dem Empfänger unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird und sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. EuGH-Urteile vom 10. Oktober 1996 in den Rs. C-245/94 und C-312/94, EuGHE 1996, I-4895, Randnr. 17 und 18, m.w.N.; vom 12. Mai 1998 Rs. C-85/96, EuGHE 1998, I-2691, Randnr. 28). Diese Voraussetzungen treffen für das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG ebenso zu wie für das Kindergeld nach dem BKGG. Denn auch das nach dem EStG gezahlte Kindergeld, auf das bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen unabhängig von einer individuellen Bedürftigkeit des Kindergeldberechtigten ein Rechtsanspruch besteht, dient weiterhin dem Zweck, Familien wegen der Aufwendungen für ihre Kinder zu entlasten (vgl. auch Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 10. November 1998 VI B 125/98, BFHE 187, 477, BStBl II 1999, 137).
3. Die Frage, ob dem Kläger, der dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt, ein Anspruch auf das Kindergeld nach dem EStG, das in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, zusteht, ist nach den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 zu entscheiden. Die Art. 13 bis 17a des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 legen fest, welche Rechtsvorschriften auf Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, anwendbar sind. Sie bilden nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ein geschlossenes System von Kollisionsnormen und bezwecken, dass die Betroffenen (zu einem bestimmten Zeitpunkt) nur dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (vgl. EuGH-Urteile vom 17. Mai 1984 Rs. 101/83, EuGHE 1984, 2223, Randnr. 14; vom 12. Juni 1986 Rs. 302/84, EuGHE 1986, 1821, Randnr. 19; vom 10. Juli 1986 Rs. 60/85, EuGHE 1986, 2365, Randnr. 12).
Dementsprechend bestimmt Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, dass ―vorbehaltlich des im Streitfall nicht einschlägigen Art. 14c― Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 gilt, soweit die Art. 14 bis 17 nicht etwas anderes bestimmen, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.
Das bedeutet, dass der Kläger ―wäre keine Vereinbarung nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 getroffen worden― in Bezug auf die in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit ausschließlich den einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften unterliegen würde. Ihm hätte ohne eine Vereinbarung nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 das Kindergeld nach den Vorschriften des EStG zugestanden.
Der Kläger hat jedoch von der nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 bestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, wonach zwei oder mehr Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Staaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Stellen im Interesse bestimmter Personengruppen oder bestimmter Personen Ausnahmen von den Art. 13 bis 16 vereinbaren können. Eine Vereinbarung nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 kann nur zum Inhalt haben, dass der betreffende Arbeitnehmer einheitlich in Bezug auf alle von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis h der Verordnung Nr. 1408/71 erfassten Systeme der sozialen Sicherheit den Rechtsvorschriften des vereinbarten Mitgliedstaates unterstellt wird. Der mit den Kollisionsnormen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 verfolgte Zweck, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen sollen, gilt nach der oben zitierten Rechtsprechung des EuGH für alle Vorschriften des Titels II, also auch für Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71. Diesem Zweck würde es widersprechen, wenn die durch diese Vorschrift eingeräumte Möglichkeit, eine von den Art. 13 bis 16 abweichende Vereinbarung zu treffen, bewirken könnte, dass nunmehr wiederum die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten anzuwenden wären. Die nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 zulässige Ausnahmevereinbarung muss sich deshalb innerhalb der Zweckbestimmung der Kollisionsnormen halten und kann folglich nur zum Inhalt haben, dass der Betroffene insgesamt den Rechtsvorschriften eines anderen als des nach Art. 13 bis 16 zuständigen Mitgliedstaates unterstellt wird (vgl. Steinmeyer in: Fuchs ―Hrsg.―, Europäisches Sozialrecht, Art. 17 Rz. 10; Berlebach/Helmke, Familienleistungsausgleich, Fach D, I. Kommentierung Europarecht, VO Nr. 1408/71 Art. 73 Rn. 19; Stahlberg, Europäisches Sozialrecht, 1997, S. 215 Rn. 339).
Zwar hat der EuGH entschieden, und das FG hat seine Entscheidung, der Klage stattzugeben, u.a. auch darauf gestützt, dass die Verordnung Nr. 1408/71 nicht zum Verlust von Ansprüchen führen dürfe, die allein nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erworben worden sind (Urteil vom 21. Oktober 1975 Rs. 24/75, EuGHE 1975, 1149, sog. Petroni-Prinzip). Der EuGH hat jedoch in der Folgezeit klargestellt, dass dieser Grundsatz nicht die in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegten Regeln über die anwendbaren Rechtsvorschriften betrifft und deshalb nicht bewirken kann, dass der Betroffene entgegen Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 für einen bestimmten Zeitraum den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten unterliegt; er hat auch im Hinblick auf Familienleistungen betont, die Mitgliedstaaten könnten nicht auch bestimmen, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften anwendbar seien; sie seien vielmehr verpflichtet, die geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, also auch des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, zu beachten (Urteil in EuGHE 1986, 2365, Randnr. 14, 15 und 16; vgl. auch BSG-Urteil in SozR 3-6050 Art. 13 Nr. 3 EWGV 1408/71).
Danach unterlag der Kläger in Bezug auf die in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit nicht den deutschen, sondern ausschließlich den griechischen Rechtsvorschriften. Die jeweils für den Kläger und seine Ehefrau getroffenen und ausdrücklich auf Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 gestützten Ausnahmevereinbarungen sind entgegen der Auffassung des FG nicht dahin auszulegen, dass das Kindergeld ―in rechtswidriger Weise― von ihnen ausgenommen werden sollte. Die Erklärung des SozMinGrie, der Kläger unterliege weiterhin dem griechischen Versicherungssystem, ist unter Berücksichtigung des Umstandes zu würdigen, dass in den meisten Mitgliedsstaaten die in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführten Leistungen der sozialen Sicherheit allesamt jeweils eine Versicherung voraussetzen und nicht ―wie das deutsche Kindergeld― der gesamten Bevölkerung unabhängig von einer Versicherungspflicht zustehen. Auch waren sich beide Seiten darüber im klaren, dass sich die Ausnahmevereinbarung auf die gesamten Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats beziehen müsse. Denn das SozMinGrie hat in seinem vom FG zitierten Schreiben an die DVKA vom 27. März 1996 erklärt, ihm sei bekannt, dass "die Eingliederung in das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft und die Ausnahme davon nach dem Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 alle Versicherungszweige betrifft, die das Recht des Staates vorsieht". Vor dem aufgezeigten Hintergrund besteht zwischen dieser Aussage und der jeweiligen Erklärung der DVKA, dass einer Befreiung von der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zugestimmt werde, kein Widerspruch. Vielmehr ist eine wirksame Einigung i.S. des Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71 darüber erzielt worden, dass der Kläger in Bezug auf alle von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 erfassten Zweige der sozialen Sicherheit ausschließlich den griechischen und nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliegen sollte. Damit war die Anwendung der Vorschriften des X. Abschnitts des EStG über das Kindergeld auf den Kläger ausgeschlossen.
Fundstellen
Haufe-Index 848350 |
BFH/NV 2002, 1584 |
BFH/NV 2002, 1660 |
BStBl II 2002, 869 |
BFHE 2003, 205 |
BB 2002, 2371 |
DB 2002, 2466 |
DStRE 2002, 1512 |
HFR 2003, 41 |
HFR 2003, 44 |