Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassungsfreie Revision wegen fehlender Urteilsgründe
Leitsatz (NV)
1. Ein Verfahrensmangel i. S. des § 119 Nr. 6 FGO liegt vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die ergangene Entscheidung zu überprüfen. Dies ist auch dann der Fall, wenn das FG seine Entscheidung jedenfalls zu einem wesentlichen Teil und in einem wesentlichen Streitpunkt nicht begründet, indem es einen vor dem FG geltend gemachten selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht.
2. Ein FG-Urteil ist insbesondere dann "nicht mit Gründen versehen", wenn es die streitige und entscheidungserhebliche Frage der Höhe der Abgabe nicht oder nicht vollständig behandelt (vgl. BFH-Urteil vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492).
Normenkette
FGO § 105 Abs. 2 Nr. 5, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6
Tatbestand
An der im Jahre 1958 gegründeten Fa. T KG waren ursprünglich Herr R. T. als Komplementär und seine Ehefrau M. T. als Kommanditistin beteiligt. Im Jahre 1968 übertrug R. T. seine Beteiligung je zur Hälfte auf die Kläger. Die Erwerber hatten an R. T. eine wertgesicherte Rente in Höhe von monatlich ... DM zu zahlen, die nach dem Tode des Berechtigten an seine Ehefrau M. T. zu entrichten war. Am ... Dezember 1972 übertrug Frau M. T. ihren Gesellschaftsanteil auf die beiden Kläger. Als "Gegenleistung" war eine gleichfalls wertgesicherte lebenslängliche Rente in Höhe von monatlich ... DM vereinbart. Gesellschafter des in der Rechtsform der OHG fortgeführten Unternehmens waren nunmehr die beiden Kläger. Zum ... Dezember 1974 trat die Fa. B GmbH als weitere persönlich haftende Gesellschafterin in die Gesellschaft ein. Gesellschafter und Geschäftsführer der neugegründeten GmbH waren die beiden Kläger, die im Jahre 1975 aus der OHG ausschieden. Die Personengesellschaft war damit aufgelöst.
Die Rentenverpflichtungen gegenüber den Eheleuten T. verblieben bei den Klägern. Hierfür zahlte die GmbH ein zusätzliches Entgelt in Höhe der Barwerte. Während der Beteiligung der Kläger an der OHG waren die wiederkehrenden Zahlungen an die Eheleute T. als Veräußerungsrente behandelt und mit dem jeweiligen Barwert in Sonderbilanzen passiviert worden. Nach Auflösung der Personengesellschaft -- ab 1975 -- machten die Kläger die Rentenzahlungen in voller Höhe als Sonderausgaben geltend.
Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für 1984 kam es zwischen den Beteiligten zum Streit über die steuerrechtliche Behandlung der Renten. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) ließ nur noch den Ertragsanteil der Renten zum Abzug als Sonderausgaben zu. In dieser Sache führte der Kläger zu 1. einen Rechtsstreit beim Finanzgericht (FG). In der mündlichen Verhandlung vom 23. März 1990 legte das FG dar, daß Verbindlichkeiten ihren betrieblichen Charakter auch bei Auflösung des Unternehmens bzw. bei Ausscheiden aus dem Gewerbebetrieb dann nicht verlören, wenn wie vorliegend der Ablösung dieser Verbindlichkeiten Hindernisse entgegenstünden. Auf Vorschlag des FG kamen der Kläger zu 1. und das FA überein, die Rentenzahlungen abzüglich der rechnerischen Barwertminderung für das Streitjahr und die noch offenen Jahre bis zum Tode der Berechtigten als nachträgliche Betriebsausgaben zu berücksichtigen.
Für die nachfolgenden Veranlagungszeiträume besteuerte das FA die Renten bei beiden Klägern entsprechend dieser Übereinkunft. Im Streitjahr 1988 leisteten die Kläger Rentenzahlungen in Höhe von je ... DM. Sie gingen von einer Minderung der Rentenbarwerte jeweils um ... DM aus.
Mit Vertrag vom 21. Dezember 1988 verzichteten die Eheleute T. mit Wirkung vom 24. Dezember 1988 gegenüber den Klägern auf sämtliche Zahlungsansprüche. Das FA vertrat die Auffassung, aufgrund der Verzichtserklärung sei der Rentenbarwert in Höhe von ... DM als nachträgliche Betriebseinnahme zu erfassen. Es erließ gegen die Kläger geänderte Bescheide, mit denen es Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von jeweils ... DM erfaßte.
Das FG hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Die Befreiung der Kläger von ihren betrieblichen Verbindlichkeiten sei ein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Die Kläger hätten die Rente nicht ablösen können. Daher seien die bis zum Zeitpunkt des Verzichts geleisteten Rentenzahlungen nachträgliche Betriebsausgaben i. S. der §§ 24 Nr. 2, 15 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gewesen. Hinsichtlich des Klägers zu 1. ergebe sich dies auch aus der im Verfahren wegen Einkommensteuer 1984 getroffenen "tatsächlichen Verständigung". Die gewinnwirksame Befreiung von einer betrieblichen Rentenverpflichtung sei dem Jahr des Ausscheidens der Kläger aus der Gesellschaft (1975) zuzuordnen. In Höhe des Wegfalls der Rentenverpflichtung ändere sich der nach §§ 16, 34 EStG begünstigte Veräußerungsgewinn. Die im Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 19. Juli 1993 GrS 2/92 (BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897) entwickelten Rechtsgrundsätze seien auch im hier gegebenen Fall anwendbar, daß der Veräußerer später von einer weiterbestehenden betrieblichen Schuld befreit werde.
Mit der Revision rügt das FA, die Entscheidung des FG sei nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Die Urteilsgründe seien unvollständig. Es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das FG der Klage in vollem Umfang stattgegeben habe. Das FA habe zwar in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, daß sich bei Annahme eines rückwirkenden Ereignisses für das Jahr 1975 keine betragsmäßige Auswirkung ergebe. Es habe jedoch hilfsweise geltend gemacht, daß sich betragsmäßige Auswirkungen für spätere Jahre, so auch für das Streitjahr, ergäben. Es ändere sich auch der am 1. Januar 1988 anzusetzende Rentenbarwert. Hierzu habe es ein Beispiel vorgetragen und dem Gericht ein Arbeitspapier vorgelegt. Das FG habe zwar ausgeführt, daß die Rentenbarwerte auf die jeweiligen Stichtage nach finanzmathematischen Grundsätzen neu zu ermitteln seien und habe sogar auf die sich bei der Berechnung ergebenden Schwierigkeiten hingewiesen. Es habe aber nicht begründet, warum es für das Streitjahr 1988 auf eine Neuberechnung verzichtet habe. Es sei davon auszugehen, daß aufgrund der abgekürzten Laufzeit der Rente die Barwertminderung des Streitjahres 1988 höher als bisher angesetzt ausfalle und sich der zu berücksichtigende laufende Verlust entsprechend mindere. Im übrigen führe der Wegfall der passivierten Rentenverpflichtung nach den BFH-Urteilen vom 9. Februar 1994 IX R 110/90 (BFHE 175, 212, BStBl II 1995, 47) und vom 30. November 1994 XI R 84/92 (BFH/NV 1995, 665) zu einer Gewinnerhöhung im Streitjahr.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, die Sache an das FG zurückzuverweisen und dem FG aufzugeben, die für das Streitjahr 1988 maßgebliche Barwertminderung durch versicherungsmathematisches Gutachten feststellen zu lassen und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung der zu ändernden Besteuerungsgrundlagen festzusetzen, hilfsweise, die Klage abzu weisen.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie weisen u. a. darauf hin, das FA habe nur gemutmaßt, nicht aber bewiesen, daß sich für das Streitjahr 1988 betragsmäßige Änderungen ergeben müßten.
Entscheidungsgründe
Die statthafte und zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Das FA konnte -- ungeachtet der Beschränkungen in Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) in der für den Streitfall geltenden Fassung -- Revision ohne vorherige Zulassung einlegen. Es hat Tatsachen vorgetragen, die -- ihre Richtigkeit unterstellt -- einen wesentlichen Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ergeben. Ein Verfahrensmangel i. S. dieser Vorschrift liegt vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Nach der Darlegung des FA enthält das angefochtene Urteil keine Ausführungen zur Höhe der festgesetzten Steuer insofern, als das FG zum Vortrag, infolge der Verkürzung der Rentenlaufzeit auf 13 Jahre verringere sich der im Streitjahr anzusetzende laufende Verlust, keine Stellung genommen hat.
2. Der gerügte Mangel liegt vor. Die angefochtene Entscheidung ist insoweit nicht mit Gründen versehen (§ 119 Nr. 6 FGO). Deswegen ist ohne weiteres anzunehmen, daß das angefochtene Urteil auf einer Verletzung von Bundesrecht beruht. Es ist daher aufzuheben.
a) Gemäß § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO müssen Urteile begründet werden. Der Sinn des Begründungszwangs liegt darin, den Prozeßbeteiligten die Kenntnis darüber zu vermitteln, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht. § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 FGO sollen sicherstellen, daß die Beteiligten ihre prozessualen Rechte wahrnehmen können. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgebend waren. Ein Verfahrensmangel i. S. dieser Bestimmung liegt deshalb vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die ergangene Entscheidung zu überprüfen (BFH-Entscheidungen vom 28. April 1993 II R 123/91, BFH/NV 1994, 46; vom 14. Dezember 1995 VIII R 27/95, BFH/NV 1996, 556). Das ist nach ständiger Rechtsprechung dann der Fall, wenn das FG seine Entscheidung überhaupt nicht oder jedenfalls zu einem wesentlichen Teil nicht begründet, indem es einen vor dem FG geltend gemachten selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat. Es muß sich hierbei um einen wesentlichen Streitpunkt handeln (BFH-Urteil vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638, unter 2. der Gründe; Senatsbeschluß vom 17. September 1991 X R 19/91, BFH/NV 1992, 750).
b) Unter "selbständigen Ansprüchen" und "selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln" sind die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH-Beschluß vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351). Hierunter hat die Rechtsprechung z. B. einen Hilfsantrag (Urteil vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492) oder den Antrag auf Ermäßigung des Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 3 EStG a. F. verstanden (BFH- Beschluß vom 24. November 1989 VI R 16/89, BFH/NV 1990, 652; s. auch BFH- Beschluß vom 20. November 1990 IV R 80/90, BFH/NV 1991, 609).
c) Ein FG-Urteil ist insbesondere dann "nicht mit Gründen versehen", wenn es die streitige und entscheidungserhebliche Frage der Höhe der Abgabe nicht vollständig behandelt (BFH-Urteile in BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492; vom 19. Oktober 1995 VII R 48/95, BFH/NV 1996, 337).
3. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der Revision stattzugeben.
Das FA hat schlüssig dargetan, daß es in der mündlichen Verhandlung zur Minderung des Barwertes für den Fall einer zeitlichen Herabsetzung der Rentenlaufzeit Stellung genommen hat. In den Gerichtsakten befindet sich das vom FA in seiner Revisionsbegründung angesprochene "Arbeitspapier", das den vom Berichterstatter paraphierten Vermerk "vom FA in der Sitzung überreicht" trägt und damit eine Anlage zum Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 24. November 1994 bildet. Aus diesem Papier ist ersichtlich, daß sich nach Auffassung des FA die für das Streitjahr 1988 anzunehmende Barwertminderung verändert.
Dieses Vorbringen berührt die Höhe des streitigen Steueranspruchs im Streitjahr 1988. Das FG ist hierauf nicht eingegangen, so daß für das FA nicht ersichtlich war, aus welchem Grunde die Klage in vollem Umfang Erfolg hatte. Das FA war in diesem Punkte gehindert, seine prozessualen Rechte wahrzunehmen, insbesondere die Nichtzulassung mit der Beschwerde anzufechten. Da das übergangene Angriffsmittel auch nicht als ungeeignet anzusehen ist, kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben.
4. Der Senat hatte nur über den ausschließlich gerügten Verfahrensmangel zu entscheiden (§ 118 Abs. 3 Satz 1 FGO). Da das FG unter Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift entschieden hat, stellt sein Urteil keine zureichende Grundlage für eine abschließende Entscheidung in der Sache selbst dar. Weder hat das FG zu der vom FA gestellten Frage nach den steuerrechtlichen Folgen einer Barwertminderung tatsächliche Feststellungen getroffen noch war die entsprechende Frage materiell-rechtlich Gegenstand einer Erörterung im Revisionsverfahren.
Zur weiteren Förderung des Verfahrens weist der Senat hin auf das BFH-Urteil vom 26. Juni 1996 XI R 41/95 (BFHE 180, 572, BStBl II 1996, 601). Das FG wird prüfen, ob der Wegfall einer betrieblichen Schuld infolge des Todes eines Rentenberechtigten als laufender Gewinn zu erfassen ist.
Das weitergehende Vorbringen des FA in seinem Schriftsatz vom 4. Oktober 1995 und der dort gestellte Hilfsantrag können schon deswegen nicht berücksichtigt werden, weil sie auf eine materiell-rechtliche Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Urteils abheben, die auf eine zulassungsfreie Revision nur unter den Voraussetzungen des § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO geprüft werden kann.
Fundstellen
Haufe-Index 421918 |
BFH/NV 1997, 494 |