Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Betriebsprüfung
Leitsatz (amtlich)
Zur Auslegung von Erklärungen der Finanzbehörden gegenüber Steuerpflichtigen, besonders wenn ein "Freistellungsbescheid" erteilt wird.
Steht eine in den Steuerakten getroffene Verfügung mit der dem Steuerpflichtigen erteilten Ausfertigung in Widerspruch, so ist grundsätzlich die Aktenverfügung maßgebend. Verfügt darum das Finanzamt im Einkommensteuerverfahren innerdienstlich "nv", teilt es aber dem Steuerpflichtigen mit, daß er von der Einkommensteuer freigestellt sei, so kann die Behörde grundsätzlich jederzeit den Fehler richtigstellen.
Nur in Ausnahmefällen kann die Behörde unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben und des Schutzes des Vertrauens redlicher Steuerpflichtiger an seine fehlerhafte Erklärung gebunden sein.
Normenkette
EStG §§ 25, 46, 47 Abs. 1, 3; AO § 210 Abs. 1, § 211 Abs. 1, § 92/3, § 92/2, §§ 93-94
Tatbestand
Die beschwerdeführenden Eheleute (Bf.) hatten im Streitjahr 1960 beide Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, auf die Lohnsteuer einbehalten wurde. Die Ehefrau eröffnete im Dezember 1960 einen Gewerbebetrieb und erklärte für 1960 als Einkünfte aus Gewerbebetrieb einen Gewinn von 250 DM. Das Finanzamt sah von einer Veranlagung zur Einkommensteuer nach § 46 EStG ab und verfügte in den Akten durch den Vermerk "nv", daß die Bf. nicht zu veranlagen seien. Es erteilte anschließend den folgenden "Freistellungsbescheid": "Sie sind von der Einkommensteuer 1960 freigestellt worden." Gleichzeitig setzte es in diesem Bescheid die Einkommensteuer-Vorauszahlungen für 1961 fest.
Auf Grund dieses Bescheides beantragten die Bf. die Erstattung der für 1960 entrichteten Lohnsteuer, soweit sie ihnen nicht bereits durch den vorangegangenen Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1960 erstattet worden war. Das Finanzamt lehnte die beantragte Erstattung mit der Begründung ab, daß sich die "Freistellung" nur auf die veranlagte Einkommensteuer beziehe; die überzahlte Lohnsteuer sei bereits durch den vorangegangenen Lohnsteuer- Jahresausgleich erstattet worden.
Die Sprungberufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht führte aus, der Erstattungsantrag könne nicht auf § 152 Abs. 2 Ziff. 1 AO gestützt werden; denn die Bf. hätten keine Lohnsteuer zu Unrecht entrichtet. Die erstattung sei auch nicht nach § 47 Abs. 3 EStG gerechtfertigt, weil das Finanzamt den Bf. einen "Freistellungsbescheid" erteilt habe. Die in § 47 Abs. 3 EStG vorgesehene Erstattung überzahlter Steuerabzugsbeträge setze einen förmlichen Steuerbescheid im Sinne von § 210 Abs. 1 AO voraus, in dem auf die Einkommensteuerschuld nach § 47 Abs. 1 EStG die für den Veranlagungszeitraum entrichteten Vorauszahlungen und die durch Steuerabzug einbehaltenen Beträge angerechnet würden. Nur die bei einer solchen Abrechnung sich ergebende Einkommensteuer- überzahlung sei nach § 47 Abs. 3 EStG erstattungsfähig. Von Steuerbescheiden im Sinne des § 210 Abs. 1 AO, die nach § 211 Abs. 1 AO die Höhe der Steuer festsetzten, seien die Freistellungsbescheide zu unterscheiden, in denen die Steuer auf 0 DM festgesetzt und vom Finanzamt erklärt werde, daß eine Einkommensteuerschuld nicht bestehe. Die Rechtsprechung habe allerdings Freistellungsbescheide hinsichtlich der Rechtsfolgen weitgehend den Steuerbescheiden gleichgestellt (Urteile des Bundesfinanzhofs IV 173/52 U vom 30. Oktober 1952, BStBl 1953 III S. 30, Slg. Bd. 57 S. 75; II 113/53 U vom 10. Juni 1953, BStBl 1953 III S. 214, Slg. Bd. 57 S. 558). Echte Freistellungsbescheide seien jedoch nur solche Verwaltungsakte, die das Ergebnis einer Veranlagung im Sinne des § 25 EStG wiedergäben. In der hier streitigen "nv" -Verfügung sei aber nicht die Freistellung von der Einkommensteuer auf Grund sachlich- rechtlicher Vorschriften ausgesprochen, sondern nur festgestellt worden, daß von einer Veranlagung abgesehen werde, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 46 EStG dafür nicht vorlägen. Dieser "nv" -Bescheid habe die Bf. nicht von der Einkommensteuer (Lohnsteuer) freigestellt, sondern nur klargestellt, daß nach den gesetzlichen Vorschriften technisch eine Veranlagung nicht vorzunehmen sei, ohne daß dabei eine Entscheidung über den Grund und die Höhe der Einkommensteuerschuld getroffen worden sei. Ein solcher Bescheid könne nicht die Erstattung der einbehaltenen Lohnsteuer nach § 47 Abs. 3 EStG auslösen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist unbegründet.
Das Einkommensteuer-Veranlagungsverfahren und das Lohnsteuer- Abzugsverfahren stehen selbständig nebeneinander und werden nach ihren eigenen Regeln abgewickelt (Hartz-Over, Lohnsteuer, Stichwort: "Veranlagung" unter Ziff. 4). Die überzahlte Lohnsteuer ist den Bf. im Verfahren des Lohnsteuer- Jahresausgleichs zurückerstattet worden.
Die Bf. stützten ihren weiteren Erstattungsanspruch auf § 47 Abs. 3 EStG und meinen, es komme weniger auf den materiellen Gehalt eines Verwaltungsaktes an, als auf seine äußere Form; hier sei einwandfrei ein als "Freistellungsbescheid" bezeichneter Verwaltungsakt ergangen. Dieser Auffassung tritt der Senat in übereinstimmung mit dem Finanzgericht nicht bei. § 47 Abs. 3 EStG kann nur angewandt werden, wenn ein Steuerpflichtiger gemäß §§ 25 und 46 EStG zur Einkommensteuer veranlagt ist. Das ist, wie das Finanzgericht zutreffend darlegt, hier nicht geschehen. In dem "Freistellungsbescheid" ist weder die sachliche Steuerpflicht für das Streitjahr bejaht, noch ein bestimmter Steuerbetrag festgesetzt worden. Das Finanzamt hat vielmehr nur festgestellt, daß nach § 46 EStG die Voraussetzungen für die Veranlagung der Bf. nicht vorlägen. Bei der Auslegung von Verwaltungsakten ist nicht in erster Linie die äußere Form maßgebend, sondern das, was die Behörde erkennbar wollte (Entscheidung des Bundesfinanzhofs I 131/58 U vom 27. Oktober 1959, BStBl 1961 III S. 286, Slg. Bd. 73 S. 49). Bei der Feststellung, was die Behörde erkennbar erklären wollte, sind alle Umstände zu würdigen. Die Vorschrift des § 133 BGB, daß bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am Buchstaben zu kleben sei, ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der über das bürgerliche Recht hinaus auch für das öffentliche Recht gilt (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 8. Auflage, S. 149 und 159). Alle Beteiligten müssen sich bei der Auslegung von Verwaltungsakten und der Beurteilung dessen, was erkennbar gewollt ist, redlich verhalten. Wer weiß oder leicht erkennen kann, wie der andere Teil eine äußerlich vielleicht mehrdeutige Erklärung gemeint und was er wirklich gewollt hat, kann sich nicht auf die äußere Form berufen (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen - RGZ - Bd. 93 S. 297) (299); Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Auflage, Zweiter Halbband S. 1261).
Das Finanzgericht konnte ohne Rechtsverstoß annehmen, daß die streitige Verfügung des Finanzamts kein echter "Freistellungsbescheid" im üblichen Sinne war, sondern nur die Mitteilung an die Bf., daß sie zur Einkommensteuer nicht veranlagt würden und daß bei ihnen durch den Lohnsteuerabzug die Einkommensteuer abgegolten sei. Daß sich der Bescheid nur auf die technische Durchführung einer Einkommensteuer-Veranlagung bezog, war den Bf. um so klarer erkennbar, als sie vorher schon durch den beantragten und durchgeführten Lohnsteuer-Jahresausgleich über die einbehaltene Lohnsteuer endgültig mit dem Finanzamt abgerechnet hatten.
Selbst wenn man aber den Bf. darin folgen könnte, daß der Wortlaut des Bescheids maßgebend sein müßte, ist ihre Rb. nicht begründet. In diesem Fall stünden nämlich der Akteninhalt, d. h. die in den Steuerakten getroffene Entscheidung der zuständigen Beamten des Finanzamts, und die den Bf. erteilte Ausfertigung, d. h. der streitige "Freistellungsbescheid", in Widerspruch zueinander. In solchen Fällen muß aber grundsätzlich der Akteninhalt maßgebend sein, in dem das, was die Behörde gewollt und entschieden hat, niedergelegt ist. Die unrichtige Mitteilung der Entscheidung an den Betroffenen durch eine fehlerhafte Ausfertigung kann nicht etwa allgemein zur Folge haben, daß die Behörde an die unrichtige Mitteilung gebunden wäre. Zwar mag in Ausnahmefällen nach Treu und Glauben eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein oder die Behörde dem Betroffenen gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 des Grundgesetzes (GG) den ihm nachweislich entstandenen Vermögensschaden ersetzen müssen. Grundsätzlich muß aber bei Verwaltungsmaßnahmen der innere Wille der Behörde maßgebend sein, wie er im Akteninhalt zum Ausdruck gekommen ist. In diesem Sinne hat der Reichsfinanzhof in den Urteilen VI A 690/29 vom 25. September 1929 (Steuer und Wirtschaft - StuW - 1929 Nr. 966 unter I) und VI A 1970/29 vom 4. Dezember 1929 (StuW 1930 Nr. 227) mit Recht angenommen, daß Verfügungen der Finanzverwaltung, die nicht mit dem Akteninhalt in Einklang stehen, rechtsunwirksam sind. Auch Fehler in der Ausfertigung können die Behörden nach §§ 92 Abs. 3 und 93 AO jederzeit berichtigen (Becker, Die Reichsabgabenordnung 7. Auflage, § 75 Anm. 1 a und § 74 Bem. 5).
Zu der Frage, ob es unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben und des Schutzes des Vertrauens redlicher Bürger in die ihnen gegenüber abgegebenen Erklärungen einer Behörde in Ausnahmefällen angebracht sein mag, die Behörde an ihrer Erklärung festzuhalten, braucht der Senat hier nicht abschließend Stellung zu nehmen. Denn hier ist jedenfalls ein Vertrauensschutz nicht angebracht, weil die Bf. sich klar darüber waren, was das Finanzamt wirklich wollte. Sie haben auch aus der unrichtigen Mitteilung keinen Nachteil gehabt, sondern erstreben nur, aus der ungenauen Bezeichnung des Bescheids einen ungerechtfertigten Vorteil für sich herauszuschlagen.
Fundstellen
Haufe-Index 411071 |
BStBl III 1964, 167 |
BFHE 1964, 434 |
BFHE 78, 434 |