Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Hat das Finanzamt auf das Rechtsmittel des Steuerpflichtigen nach Prüfung des Streitfalls eine für den Steuerpflichtigen günstige Einspruchsentscheidung oder einen Bescheid gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO erlassen, so ist es bei einer späteren Wiederaufrollung des Steuerfalls nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO in der Regel an seine im vorausgegangenen Rechtsmittelverfahren vertretene Rechtsauffassung gebunden.
Normenkette
AO § 94 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4, 3, § 222 Abs. 1 Nr. 1, § 222/1/2, § 259 Abs. 1, § 248/2
Tatbestand
Streitig ist, ob die Körperschaftsteuerveranlagung 1952 hinsichtlich eines von der Bgin. geltend gemachten Veräußerungsverlustes wieder aufgerollt werden darf.
Die Bgin. hatte am 31. Dezember 1951 ein Stammkapital in Höhe von 300.000 DM. An diesem waren der Gesellschafter G. mit 200.000 DM und der Gesellschaft H. mit 100.000 DM beteiligt. Beide Gesellschafter waren zu Geschäftsführern bestellt.
Da zwischen den beiden Gesellschaftern Differenzen auftraten, gab H. seine Geschäftsführertätigkeit auf. Durch Vertrag vom Mai 1952 erwarb die Bgin. dessen Geschäftsanteile von nominal 100.000 DM zu einem Kaufpreis von 800.000 DM zuzüglich 8 v. H. Zinsen für die Zeit vom 1. April 1951 bis 15. Mai 1952. Nach den im Zeitpunkt des Vertrags maßgebenden Richtlinien 1949 für die Bewertung nicht notierter Anteile an Kapitalgesellschaften belief sich der gemeine Wert der von der Bgin. erworbenen Anteile auf 810.000 DM.
Mit Vertrag vom Dezember 1952 verkaufte die Bgin. die von H. erworbenen Anteile in Höhe von nominal 100.000 DM an den Gesellschafter G. Als Kaufpreis wurde der gemeine Wert der Anteile (Steuerlicher Kurswert) auf den Stichtag 31. Dezember 1952 vereinbart.
Nachdem am 18. Februar 1955 die Richtlinien 1953 für die Bewertung nicht notierter Anteile an Kapitalgesellschaften ergangen waren, ermittelte das Finanzamt im Einvernehmen mit der Bgin. den gemeinen Wert der von H. erworbenen und an G. weiterveräußerten Anteile mit 470.000 DM. In Höhe der Differenz zwischen dem Anschaffungspreis von 872.000 DM und dem Verkaufspreis von 470.000 DM (= 402.000 DM) machte die Bgin. im Jahre 1952 einen Anteilsverlust geltend. Das Finanzamt erkannte diesen in Erledigung eines gegen die Körperschaftsteuerveranlagung 1952 eingelegten Einspruchs durch einen gemäß § 94 AO berichtigten Körperschaftsteuerbescheid an.
Im Jahre 1957 fand bei der Bgin. eine Betriebsprüfung statt. Dabei wurden für das Streitjahr neue Tatsachen von einigem Gewicht festgestellt. Daneben vertrat der Prüfer in Tz. 50 des Betriebsprüfungsberichts die Ansicht, daß der Verkehrswert der Geschäftsanteile am 31. Dezember 1952 - der vermögensteuerlichen Anteilsbewertung entsprechend - nicht höher als 470.000 DM gewesen sei, daß aber in Höhe des Anteilsverlustes von 402.000 DM eine verdeckte Gewinnausschüttung an den ausgeschiedenen Gesellschafter H. vorliege. Hinsichtlich dieses Fragenkomplexes wurden bei der Betriebsprüfung neue Tatsachen nicht festgestellt.
Gegen den auf Grund des Betriebsprüfungsberichts geänderten Körperschaftsteuerbescheid 1952 vom Dezember 1957 legte die Bgin. Einspruch ein, mit dem sie neben anderen, hier nicht mehr streitigen Punkten die Zurechnung des Betrages von 402.000 DM als verdeckte Gewinnausschüttung beanstandete. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Dagegen gab das Finanzgericht der Berufung der Bgin. hinsichtlich des hier streitigen Punktes statt. Das Finanzgericht war der Ansicht, daß der Grundsatz von Treu und Glauben einer Wiederaufrollung entgegenstehe. Der streitige Sachverhalt sei dem Finanzamt vor der Veranlagung wiederholt unterbreitet und mit dem Vertreter der Bgin. besprochen worden. Als Ergebnis dieser Besprechung sei laut Aktenvermerk vom 15. Juli 1955 der Wert der Anteile mit 470.000 DM festgestellt worden. Es heiße in dem Aktenvermerk ausdrücklich, die Gründe für die seitherige Vorläufigkeit der Körperschaftsteuerveranlagung 1952 seien nach Klärung der bisher ungewissen Punkte weggefallen. Entsprechend sei dann in dem gemäß § 94 AO ergangenen Berichtigungsbescheid vermerkt worden, der Verlust aus der Anteilsveräußerung werde mit 402.000 DM angesetzt. Der hier streitige Fragenkomplex sei somit bereits einmal in einem Rechtsmittelverfahren behandelt worden. Im Vertrauen darauf habe die Bgin. wirtschaftliche Dispositionen getroffen. Der auf Grund dieses Bescheids erstattete Betrag habe den weiteren Ausbau der Betriebsgebäude wesentlich beeinflußt.
Mit seiner Rb. rügt der Vorsteher des Finanzamts Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und unrichtige Rechtsanwendung. Das Finanzgericht habe einen Verstoß gegen Treu und Glauben zu Unrecht angenommen. Es treffe nicht zu, daß der Sachverhalt mit der Bgin. laufend erörtert worden sei. Die Körperschaftsteuerveranlagung sei zunächst vorläufig durchgeführt worden, weil im Zeitpunkt der Veranlagung der als Kaufpreis vereinbarte gemeine Wert der Anteile (Steuerkurswert) auf 31. Dezember 1952 noch nicht festgestanden habe. Mit ihren Einspruch gegen die vorläufige Veranlagung habe die Bgin. sich nur gegen die Behandlung der dem ausgeschiedenen Gesellschafter gutgeschriebenen Zinsen gewehrt. In der Besprechung vom 14. Juli 1955 habe man nur über die Höhe des gemeinen Werts der Anteile verhandelt und sich auf einen Betrag von 470.000 DM geeinigt. Es sei nie darüber gesprochen worden, ob der sog. Anteilsverlust den laufenden Gewinn 1952 beeinträchtigen dürfe. Es treffe auch nicht zu, daß die Bgin. im Vertrauen auf das Verhalten des Finanzamts wirtschaftliche Dispositionen getroffen habe. Der auf Grund der Anerkennung des Verlustes erstattete Körperschaftsteuerbetrag von 107.000 DM sei gegenüber den Gesamtbaukosten 1951 bis 1955 von rd. 3,1 Mill. von untergeordneter Bedeutung. Die Planung des Bauprojekts sei nicht durch die Erstattung im Jahre 1955 beeinflußt worden.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist nicht begründet.
Werden bei einer Betriebsprüfung neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO festgestellt, die von einigem Gewicht sind - was hier der Fall ist -, so führt dies grundsätzlich zur Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles (Urteil des Bundesfinanzhofs I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BStBl 1963 III S. 100, Slg. Bd. 76 S. 282). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Abgesehen von den Fällen, in denen das Finanzamt nach Treu und Glauben, etwa durch eine Zusage, gebunden ist, ist eine Wiederaufrollung auch insoweit ausgeschlossen, als ein Bescheid bereits gerichtlich überprüft worden ist. Das Finanzamt würde den Grundsatz der Gewaltenteilung verletzen, wenn es sich zu der in derselben Sache bereits vorliegenden gerichtlichen Entscheidung in Widerspruch setzen würde (vgl. hierzu Urteile des Bundesfinanzhofs III 157/54 U vom 30. Juni 1956, BStBl 1956 III S. 216, Slg. Bd. 63 S. 53; II 195/56 U vom 18. September 1957, BStBl 1957 III S. 423, Slg. Bd. 65 S. 495). Obwohl Einspruchsentscheidungen und Bescheide im Sinne von § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO Verwaltungsakte sind, ist der Senat gleichwohl der Auffassung, daß das Finanzamt bei einer späteren Wiederaufrollung des Steuerfalles nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO in der Regel an seine Rechtsauffassung gebunden ist, die es einer den Einspruch des Steuerpflichtigen erledigenden Entscheidung zugrunde gelegt hat. Dies folgt aus dem Wesen und der Bedeutung des Einspruchsverfahrens. Dieses hat nach § 259 Abs. 1 AO den Sinn, die angefochtene Entscheidung erneut zu überprüfen. Durch diese nochmalige überprüfung erhält die den Einspruch erledigende Entscheidung des Finanzamts eine erhöhte Bestandsgarantie. Der Steuerpflichtige, der mit der Einlegung eines Rechtsmittels das Kostenrisiko auf sich nimmt, muß sich darauf verlassen können, daß es für den im Streit befangenen Steuerabschnitt bei der von ihm unter Einsatz seines Kostenrisikos erstrittenen Rechtsmittelentscheidung verbleibt, zumal ihm durch eine günstige Entscheidung die Möglichkeit genommen wird, die Steuergerichte anzurufen. Dies gilt um so mehr, als das Finanzamt nach § 94 Abs. 4 AO die Möglichkeit hat, durch änderung seiner Einspruchsentscheidung der Berufung des Steuerpflichtigen den Boden zu entziehen, ohne daß der Steuerpflichtige dem entgegentreten und auf einer Gerichtsentscheidung bestehen könnte.
Wie der II. Senat im Urteil II 260/58 U vom 19. Juli 1961, BStBl 1961 III S. 438, Slg. Bd. 73 S. 471, zu Recht ausgeführt hat, kann es keinen Unterschied machen, ob das Finanzamt das Rechtsmittelverfahren durch eine förmliche Einspruchsentscheidung oder durch einen Abhilfebescheid gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO beendet hat. In beiden Fällen ist der Entscheidung des Finanzamts eine Prüfung des Rechtsmittelbegehrens in dem eigens dafür vorgesehenen Verfahren vorausgegangen. Auf die unterschiedliche Form der Einspruchserledigung kann es auch schon deshalb nicht ankommen, weil es im Ermessen des Finanzamts steht, ob es dann, wenn es dem Antrag des Steuerpflichtigen folgt oder der Steuerpflichtige zustimmt, eine Einspruchsentscheidung oder einen Abhilfebescheid nach § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO erlassen will (vgl. Berger, Der Steuerprozeß, 1954, S. 373; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 1961, § 94 Anm. 18; Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung 7. Aufl., § 94 Anm. 1). Wenn das Finanzamt von der Möglichkeit, die Einspruchsentscheidung in einfacherer Form zu treffen, Gebrauch macht, so kann es dadurch hinsichtlich einer späteren Wiederaufrollung nicht weitergehende Befugnisse erlangen.
Nach dem Inhalt der Akten war im Streitfall die Frage des Veräußerungsverlustes ausdrücklich Gegenstand der Besprechungen mit der Bgin. im Einspruchsverfahren. Der Vortrag des Vorstehers des Finanzamts, es sei zwar über die Höhe des gemeinen Werts des an G. veräußerten Anteils, nicht aber über die Anerkennung des Veräußerungsverlustes gesprochen worden, ist mithin nicht schlüssig. Der Verlust war die unmittelbare Folge davon, daß Finanzamt und Bgin. - abweichend von dem ursprünglich von der Bgin. zugrunde gelegten Betrag von 428.000 DM - den an G. veräußerten Anteil in Anlehnung an das bei der vermögensteuerlichen Anteilsbewertung zugrunde zu legende "Stuttgarter Verfahren" übereinstimmend mit 470.000 DM angesetzt haben. Entsprechend sagt der Aktenvermerk vom 15. Juli 1955: "Der abzugsfähige Verlust aus der Anteilsveräußerung vermindert sich demnach von 444.000 auf 402.000 DM In diesem Sinne ist der Einspruch der Bgin. gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO erledigt worden. Hieran ist das Finanzamt nach den oben dargestellten Grundsätzen gebunden.
Da die Vorentscheidung im wesentlichen diesen Grundsätzen entspricht, war die Rb. unbegründet.
Fundstellen
Haufe-Index 411579 |
BStBl III 1965, 388 |
BFHE 1965, 387 |
BFHE 82, 387 |