Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei einer Paraphe als Unterschrift
Leitsatz (amtlich)
Wurde ein bestimmender Schriftsatz (z.B. eine Klageschrift) mit einer "Paraphe" unterzeichnet, so erfordert es der Anspruch auf ein faires Verfahren, dem Rechtsuchenden die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu eröffnen, wenn glaubhaft und unwidersprochen vorgetragen wird, diese Art der Unterzeichnung sei im Geschäftsverkehr, bei Behörden und in Gerichtsverfahren jahrelang unbeanstandet verwendet worden.
Orientierungssatz
1. Dem Erfordernis der Schriftform (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) ist nur genügt, wenn das maßgebliche Schriftstück von demjenigen, der die Verantwortung für seinen Inhalt trägt, eigenhändig, d.h. mit einem die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden, individuellen Schriftzug handschriftlich unterzeichnet ist. Hierfür ist nicht erforderlich, daß der Name voll ausgeschrieben oder lesbar ist. Dem Gesetzeszweck entsprechend genügt es vielmehr, daß der im zuvor umschriebenen Sinne individuell gestaltete Schriftzug die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen läßt, auch wenn er nur flüchtig geschrieben ist (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Nach den Grundsätzen des fairen Verfahrens haben die Prozeßbeteiligten Anspruch darauf, daß der Richter das Verfahren so gestaltet, wie sie es von ihm erwarten dürfen, und daß er sich nicht widersprüchlich verhält; außerdem verpflichtet dieses allgemeine Prozeßgrundrecht den Richter zur "Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation" (vgl. Rechtsprechung: BVerfG, BFH, BAG, BGH).
Normenkette
FGO §§ 56, 64 Abs. 1 S. 1, § 76 Abs. 2, § 120 Abs. 1 S. 1, § 155; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
FG Köln (Dok.-Nr. 0132438; EFG 1996, 715) |
Tatbestand
I. Namens der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhob deren Prozeßbevollmächtigte, die Rechtsanwältin Grün (Name geändert; Prozeßbevollmächtigte), im Streit mit dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) am 7. Februar 1994 Klage beim Finanzgericht (FG).
Die Klageschrift schließt --maschinengeschrieben-- mit:
"Rechtsanwältin
- Grün -"
und --handschriftlich über diese beiden Schlußzeilen gezogen-- mit einer ca. 2,5 cm langen, schräg rechts nach oben weisenden Linie, die in eine Linksschleife mündet, sich in einem etwa gleich langen, schräg links nach unten führenden Abstrich fortsetzt und in einer zunächst fast waagerecht nach rechts sowie anschließend in fast gleicher Länge nahezu senkrecht nach unten hin ausschwingenden Schlußschleife endet. Insgesamt gleicht das Gebilde der oberen Hälfte eines handgeschriebenen großen "G".
Auf dem Briefumschlag, in dem die Klage übersandt wurde, ist der Absender durch einen Firmenstempel der Anwaltssozietät ausgewiesen, der die Prozeßbevollmächtigte angehört.
Nachdem der Berichterstatter Zweifel daran geäußert hatte, daß mit dieser Art der Unterzeichnung den Erfordernissen schriftlicher Klageerhebung genügt sei und der Prozeßbevollmächtigten auf entsprechende Anforderung am 22. März 1994 eine Kopie der letzten Seite der Klageschrift übersandt worden war, machte die Prozeßbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 5. April 1994, der am 6. April 1994 beim FG eingegangen ist, geltend, sie unterzeichne in derselben Form seit Beginn ihrer anwaltlichen Tätigkeit vor zwölf Jahren ihre Klageschriftsätze, ohne daß dies jemals beanstandet worden wäre. Dasselbe gelte, wie sich aus der zur Bestätigung beigefügten Kopie ihres Reisepasses ergebe, auch der Stadt K und allen übrigen Behörden gegenüber. Außerdem müsse berücksichtigt werden, daß der Name nur aus vier Buchstaben bestehe und die Unterschrift dennoch einen individuellen Namenszug erkennen lasse.
Der letztgenannte Schriftsatz ist in ähnlicher Weise wie die Klageschrift unterzeichnet --allerdings mit der Abweichung, daß der Querstrich, in den die Anfangsschleife mündet, leicht geschwungen waagerecht verläuft, sich in einem kurzen Abwärtshaken fortsetzt und in einem leicht schräg nach rechts gestellten, ca. 0,6 cm langen, geraden Aufstrich endet. Dieses Gebilde gleicht im wesentlichen demjenigen, mit dem der Reisepaß unterschrieben ist.
Das FG hat die Klage wegen mangelnder Schriftform als unzulässig abgewiesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 715 veröffentlicht. Hierauf wird ebenso Bezug genommen wie auf den Beschluß des erkennenden Senats vom 29. November 1995 X B 56/95 (BFHE 179, 233, BStBl II 1996, 140), durch den die Revision gegen das FG-Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen wurde.
Mit der Revision, die von der Prozeßbevollmächtigten in gleicher Weise unterzeichnet wurde wie der Schriftsatz vom 5. April 1994, wenden sich die Kläger unter Berufung auf den Zulassungsbeschluß gegen die Beurteilung der Schriftform im angefochtenen Urteil. Sie beantragen sinngemäß, das Urteil des FG vom 22. November 1994 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Wegen der Unterschrift der Prozeßbevollmächtigten im Revisionsverfahren wird auf S. 2 der Revisionsschrift, auf S. 3 der Revisionsbegründung und außerdem auf die in diesem Zusammenhang vorgelegte Kopie des Handzeichens der Prozeßbevollmächtigten verwiesen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Revision ist zulässig. Sie ist vor allem ordnungsgemäß eingelegt worden. Die Schriftform, die § 120 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hierfür verlangt, ist gewahrt. Diesem Erfordernis ist nach herrschender Meinung (grundlegend zum Tatbestandsmerkmal "schriftlich": Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 5. November 1973 GrS 2/72, BFHE 111, 278, BStBl II 1974, 242, und des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes GmS-OGB 1/78, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1980, 172) nur genügt, wenn das maßgebliche Schriftstück von demjenigen, der die Verantwortung für seinen Inhalt trägt, eigenhändig, d.h. mit einem die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden, individuellen Schriftzug handschriftlich unterzeichnet ist (vgl. z.B. die BFH-Entscheidungen vom 8. März 1984 I R 50/81, BFHE 140, 424, BStBl II 1984, 445; vom 19. April 1994 VIII R 22/93, BFH/NV 1995, 222; vom 13. Juli 1994 I R 128/93, I R 130/93, BFHE 175, 256, BStBl II 1994, 894, und vom 17. Oktober 1996 V R 33/96, BFH/NV 1997, 764; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 64 Rz. 20, jeweils m.w.N.). Hierfür ist nicht erforderlich, daß der Name voll ausgeschrieben oder lesbar ist (BFH-Urteile vom 13. Dezember 1984 IV R 274/83, BFHE 143, 198, BStBl II 1985, 367, und in BFH/NV 1995, 222, 223). Dem Gesetzeszweck entsprechend genügt es vielmehr, daß der im zuvor umschriebenen Sinne individuell gestaltete Schriftzug die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen läßt, auch wenn er nur flüchtig geschrieben ist (BFH in BFH/NV 1995, 222, 223, m.w.N.).
Diesen Anforderungen wurde mit der Unterzeichnung der Revisionsschrift entsprochen.
2. Das Rechtsmittel ist auch begründet. Es führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Zwar war die gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 FGO für die Klageerhebung vorgeschriebene Schriftform zunächst, mit der Unterzeichnung durch ein unvollständiges "G", nicht gewahrt, doch ist der darin liegende Mangel später --rechtzeitig-- geheilt worden, so daß jedenfalls die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu eröffnen war.
a) Der für bestimmende Schriftsätze vorgeschriebenen Schriftform ist nach herrschender Meinung im Hinblick auf den Sicherungszweck der eigenhändigen Unterschrift grundsätzlich nicht genügt, wenn das Schriftstück mit einer Abkürzung, einer sog. Paraphe, unterzeichnet ist, bei der offenbleibt, ob eine endgültige Erklärung gewollt ist (s. dazu z.B. BFH-Entscheidungen in BFHE 140, 424, BStBl II 1984, 445; vom 28. September 1988 X R 32-34/88, BFH/NV 1989, 505; vom 12. September 1991 X R 38/91, BFH/NV 1992, 50; in BFH/NV 1995, 222, 223; in BFH/NV 1997, 764; ebenso die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 28. September 1998 II ZB 19/98, NJW 1999, 60, 61, und des Bundesarbeitsgerichts --BAG-- vom 27. März 1996 5 AZR 576/94, Der Betrieb --DB-- 1996, 1988; w.N. bei Gräber, a.a.O., § 64 Rz. 23). An dieser Abgrenzung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung trotz der verschiedenen Ausnahmen, die inzwischen für moderne technische Kommunikationsmittel anerkannt sind (s. dazu die Nachweise im Vorlagebeschluß des BGH vom 29. September 1998 XI ZR 367/97, Wertpapier-Mitteilungen/Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 1998, 2301 - Az. beim Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes: GmS-OGB 1/98), und der darin liegenden Ungleichbehandlung herkömmlicher Übermittlungsarten (s. den Zulassungsbeschluß des Senats in dieser Sache in BFHE 179, 233, BStBl II 1996, 140; zur Kritik im übrigen - grundlegend: Vollkommer, Formstrenge und prozessuale Billigkeit, 1993, S. 126 ff. und 260 ff., sowie in Festschrift für Hager, 1999, S. 49 ff., im übrigen: Gräber, a.a.O., § 64, Rz. 7; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 64 FGO Rz. 9; Zöller, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., 1999, § 130 Rz. 11; W. Späth, Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 1996, 323; E. Schneider, NJW 1998, 1844, jeweils m.w.N.) im Prinzip festgehalten (s. vor allem BFH in BFH/NV 1995, 222, und in BFH/NV 1997, 764; BAG in DB 1996, 1988; BGH in NJW 1999, 60, 61, jeweils m.w.N.).
b) Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob der Kritik an der ständigen Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes zu folgen ist, der Senat verweist in diesem Zusammenhang auf seinen Beschluß in BFHE 179, 233, BStBl II 1996, 140. Er hat erwogen, daß es jedenfalls einerseits, vor allem für Rechtskundige, zumutbar erscheint, bis zur endgültigen Klärung des Problems (womöglich durch den Gesetzgeber) der Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze und den hieran zu stellenden formellen Anforderungen erhöhte Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu widmen, andererseits die Möglichkeit eröffnet ist, der bestehenden Rechtsunsicherheit in dieser Frage in ausreichendem Maße durch Beachtung der Grundsätze des fairen Verfahrens Rechnung zu tragen. Danach haben die Prozeßbeteiligten Anspruch darauf, daß der Richter das Verfahren so gestaltet, wie sie es von ihm erwarten dürfen, und daß er sich nicht widersprüchlich verhält; außerdem verpflichtet dieses allgemeine Prozeßgrundrecht den Richter zur "Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation" (s. dazu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 26. April 1988 1 BvR 669, 686, 687/87, BVerfGE 78, 123, 126 f., NJW 1988, 2787; vom 28. Februar 1989 1 BvR 649/88, BVerfGE 79, 372, 376 f., NJW 1989, 1147; vom 7. Oktober 1996 1 BvR 1183/95, nicht veröffentlicht; vom 24. November 1997 1 BvR 1023/96, NJW 1998, 1853, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1999, 301; vom 6. April 1998 1 BvR 2194/97, NJW 1998, 2044; s. auch BFH-Beschluß vom 30. Januar 1996 V B 89/95, BFH/NV 1996, 683; BAG-Urteil vom 18. Juni 1997 4 AZR 710/95, DB 1997, 2336; BGH-Beschlüsse vom 21. Juni 1990 I ZB 6/90, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 1991, 511, und in NJW 1999, 60). Dieser Grundsatz ist nicht nur verletzt, wenn ein und derselbe Spruchkörper die von ihm selbst längere Zeit gebilligte Form der Unterschrift plötzlich nicht mehr hinnehmen will (BVerfG in BVerfGE 78, 123, NJW 1988, 2787, und vom 7. Oktober 1996, a.a.O.), sondern auch, wenn der Verfasser sich ganz allgemein unwidersprochen und glaubhaft darauf beruft, eine bestimmte --verkürzte-- Art der Unterschrift sei zwar nicht speziell vor diesem Spruchkörper, aber allgemein im Geschäftsverkehr, vor Behörden und Gerichten, jahrelang unbeanstandet geblieben (BVerfG in BVerfGE 78, 123, 126, NJW 1988, 2787; in BVerfGE 79, 372, 376 f., NJW 1989, 1147, und in NJW 1998, 1853, HFR 1999, 301; BAG in DB 1997, 2336; BGH in NJW-RR 1991, 511, und vor allem in NJW 1999, 60, 61).
c) Ein Vertrauenstatbestand der letztgenannten, allgemeinen Art war hier nach dem auch vom FG nicht in Zweifel gezogenen Vorbringen der Kläger gegeben - mit der Folge, daß der Prozeßbevollmächtigten, deren Verschulden sich die Kläger zurechnen lassen müßten (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung), Gelegenheit zu geben war (§ 76 Abs. 2 FGO), die vom FG als unzureichend angesehene Unterschrift zu korrigieren. Der Mangel war entgegen der Meinung des FG heilbar, weil er nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens als entschuldbar zu werten ist (s. auch BGH in NJW 1999, 60, 61). Die Nachholung einer ordnungsgemäßen Unterzeichnung, die endgültig die gebotene Klarheit über Identität und Absicht der Verfasserin gab (s. dazu auch oben zu 1.), geschah auch innerhalb der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO, so daß kein Grund mehr bestand, die Klage durch Prozeßurteil abzuweisen.
3. Das FG wird nun im zweiten Rechtsgang die Begründetheit der Klage prüfen müssen.
Fundstellen
Haufe-Index 55581 |
BFH/NV 1999, 1429 |
BStBl II 1999, 565 |
BFHE 188, 528 |
BFHE 1999, 528 |
BB 1999, 1593 |
DB 1999, 1788 |
DStRE 1999, 769 |
DStRE 1999, 769-770 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1999, 810 |
StE 1999, 482 |