Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
ß 234 AO ist auch dann anzuwenden, wenn der Steuerpflichtige sein Rechtsmittel gegen einen Gewerbesteuer-Meßbescheid, durch den ein früherer rechtskräftiger Bescheid gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO zum Nachteil des Steuerpflichtigen geändert wurde, auf eine nach der Unanfechtbarkeit des früheren Bescheids eingetretene Gesetzesänderung stützt, nach der er nicht mehr gewerbesteuerpflichtig ist.
AO §§ 94 Abs. 1 Ziff. 2; 234.
Normenkette
AO § 94 Abs. 1 Nr. 2, §§ 234, 232/1
Tatbestand
Streitig ist, ob der Bf. in diesem Rechtsmittelverfahren die Freistellung von der Gewerbesteuer erreichen kann.
Das Finanzamt zog, ausgehend von der sogenannten Vervielfältigungstheorie, den Bf. durch Gewerbesteuer-Meßbescheid für 1957 zunächst seiner Erklärung entsprechend mit seinem Gewinn aus der Steuerberaterpraxis und landwirtschaftlichen Buchstelle zur Gewerbesteuer heran. Der Bescheid wurde unanfechtbar. Mit Zustimmung des Bf. erließ das Finanzamt im Jahre 1960 einen gemäß ß 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO berichtigten Bescheid, in dem es dem Gewerbegewinn einen bisher nicht berücksichtigten Betrag hinzurechnete. Dagegen legte der Bf. Einspruch ein und beantragte unter Hinweis auf Art. 1 Nr. 8 und Art. 2 Abs. 7 des Steueränderungsgesetzes (StÄndG) vom 30. Juli 1960 (BGBl 1960 I S. 616 - BStBl 1960 I S. 514) Freistellung von der Gewerbesteuer.
Der Steuerausschuß hob daraufhin den gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO ergangenen Berichtigungsbescheid auf und setzte den ursprünglichen Gewerbesteuer-Meßbescheid wieder in Kraft. Eine völlige Freistellung von der Gewerbesteuer wurde unter Berufung auf ß 234 AO abgelehnt.
Dagegen wandte der Bf. ein, auf Grund der rückwirkenden Gesetzesänderung, die sämtliche nicht rechtskräftigen Bescheide ergreife, könne § 234 AO nicht angewandt werden. Diese Vorschrift wolle lediglich einer Säumnis des Steuerpflichtigen entgegenwirken und ihn mit solchem Vorbringen, das bereits gegen den ursprünglichen Bescheid möglich gewesen wäre, ausschließen. Im vorliegenden Fall sei es ihm jedoch wegen der damaligen Rechtslage nicht möglich gewesen, gegen seine Heranziehung zur Gewerbesteuer Einwendungen zu erheben. § 234 AO könne nur bei gleichbleibender Rechtslage Bedeutung haben.
Die Berufung des Bf. hatte keinen Erfolg.
Entscheidungsgründe
Auch seine Rb. ist nicht begründet.
Nach der Neufassung des § 18 EStG durch das StÄndG 1960 (Art. 1 Nr. 8) ist ein Angehöriger eines freien Berufs im Sinne des Gesetzes auch dann freiberuflich tätig, wenn er sich der Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte bedient. Voraussetzung ist, daß er auf Grund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird. Mit dieser Neufassung des Gesetzes ist der Gesetzgeber von der sogenannten Vervielfältigungstheorie abgerückt. Die Neufassung ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 1955 anzuwenden, soweit nicht rechtskräftige Veranlagungen vorliegen (StÄndG Art. 2 Abs. 7). Diese Vorschriften finden auf den Streitfall Anwendung.
Hiervon unabhängig ist jedoch die Frage, in welchem Umfang der berichtigte Gewerbesteuer-Meßbescheid auf die Anfechtung des Steuerpflichtigen geändert werden kann. Diese Frage entscheidet sich nach den maßgeblichen Vorschriften des Steuerverfahrensrechts, die mangels einer abweichenden Äußerung des Gesetzgebers auch für die im StÄndG 1960 getroffene Regelung nicht außer Kraft gesetzt worden sind. Da sich im Streitfall das Rechtsmittel gegen einen Bescheid richtet, durch den ein unanfechtbarer Bescheid geändert wurde, bestimmt sich der Umfang der Anfechtbarkeit - wovon die Vorinstanz zu Recht ausgegangen ist - nach § 234 AO. Danach ist der nach § 94 Abs. 1 Satz 2 AO ergangene Bescheid selbständig nur anfechtbar, soweit die Änderung des ursprünglichen Bescheids reicht.
Die Ansicht des Bf., durch § 234 AO würden nur solche Einwendungen ausgeschlossen, die bereits gegen den ursprünglichen Bescheid hätten geltend gemacht werden können, ist nicht begründet. Sie steht im Widerspruch zu der Auslegung, die § 234 AO in ständiger Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und Bundesfinanzhofs erfahren hat. Danach soll § 234 AO dem Umstand Rechnung tragen, daß der berichtigte Bescheid unanfechtbar gewesen ist, die in ihm enthaltene Steuerfestsetzung oder Feststellung daher nicht mehr angegriffen werden konnte (Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 477/34 vom 4. Juli 1934, RStBl 1934 S. 989). Der Steuerpflichtige soll dadurch, daß später eine Berichtigung zu seinen Ungunsten erfolgt, durch eine Anfechtung nicht mehr erreichen dürfen, als die Beseitigung der durch den Berichtigungsbescheid für ihn eingetretenen Verschlechterung (Urteil des ReichsfinanzhofsVI A 366/33 vom 9. Oktober 1935, RStBl 1935 S. 1410). Er soll eine für ihn günstige Rechtsposition, deren er durch den Eintritt der Unanfechtbarkeit des früheren Bescheids verlustig gegangen ist, nicht dadurch wiedererlangen dürfen, daß er den zu seinem Nachteil ergangenen Berichtigungsbescheid anficht. In diesem Rahmen sichert § 234 AO die mit der Unanfechtbarkeit des früheren Bescheids eingetretene Bindungswirkung (sogenannte Rechts- oder Bestandskraft). Da aber nur die festgestellten oder festgesetzten Beträge, nicht dagegen die Gründe des Bescheids in Rechtskraft (Bestandskraft) erwachsen, ist unter der Änderung im Sinne des § 234, die das Ausmaß der Anfechtbarkeit bestimmt, nur der Mehrbetrag zu verstehen, um den der dem Berichtigungsbescheid zugrunde gelegte den früher rechtskräftig festgesetzten oder festgestellten Betrag überschreitet (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs V z 67/38 vom 23. Juni 1939, RStBl 1939 S. 787). Ob der Steuerpflichtige die Gründe, die er gegen den Berichtigungsbescheid geltend macht, bereits gegen den früheren Bescheid hätte vorbringen können oder nicht, ist nicht von Bedeutung (Urteil des ReichsfinanzhofsVI A 304, 305/33 vom 12. September 1934, RStBl 1934 S. 1134; Urteile des Bundesfinanzhofs VI 97/56 U vom 21. Februar 1958, BStBl 1958 III S. 167, Slg. Bd. 66 S. 427; IV 286/58 U vom 15. Dezember 1961, BStBl 1962 III S. 142, Slg. Bd. 74 S. 375). Weder kann er im Rechtsmittelverfahren gegen den Berichtigungsbescheid mit Gründen ausgeschlossen werden, die er bereits früher hätte vorbringen können, noch kann er mit neuen, erst nach der Unanfechtbarkeit des früheren Bescheids entstandenen Gründen mehr erreichen als die Beseitigung des im Berichtigungsbescheid festgesetzten oder festgestellten Mehrbetrags.
Diese Grundsätze müssen auch dann gelten, wenn sich der Steuerpflichtige zur Begründung seines Rechtsmittels auf eine Gesetzesänderung zu seinen Gunsten beruft, die nach der Unanfechtbarkeit des früheren Bescheids eingetreten ist. Ist der Bescheid rechtskräftig, so ist damit für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit weggefallen, ein für ihn günstigeres steuerliches Ergebnis zu erlangen. Es wäre aber nicht einzusehen, weshalb er diese Möglichkeit allein deshalb wieder in vollem Umfang zurückgewinnen sollte, weil der Bescheid später zu seinen Ungunsten geändert wurde. Der Sinn des § 234 AO erfordert es daher, diese Vorschrift auch auf den Streitfall anzuwenden. Im übrigen kommt nach der vom V. Senat in mehreren Urteilen vertretenen Auffassung ß 234 AO sogar dann zur Anwendung, wenn der frühere, rechtskräftig gewordene Bescheid auf einer Norm beruht, deren Verfassungswidrigkeit später vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden ist (Urteile des Bundesfinanzhofs V 166/59 U vom 6. September 1962, BStBl 1962 III S. 494, Slg. Bd. 75 S. 623; V 244ß61 S vom 22. November 1962, BStBl 1963 III S. 31, Slg. Bd. 76 S. 87; V 79/60 U vom 22. November 1962, BStBl 1963 III S. 51, Slg. Bd. 76 S. 141; V 86/60 U vom 30. Mai 1963, BStBl 1963 III S. 342, Slg. Bd. 77 S. 68).
Die Rb. war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 411196 |
BStBl III 1964, 373 |
BFHE 1964, 392 |
BFHE 79, 392 |