Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs durch Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Das FG verletzt das Recht auf Gehör, wenn es dem Kläger vor Ergehen seines (klageabweisenden) Urteils keine Gelegenheit gibt, sich zu dem vom FG als erheblich angesehenen Umstand zu äußern.
2. Die Versagung des rechtlichen Gehörs führt regelmäßig zur Aufhebung des an gefochtenen Urteils und zur Zurückver weisung der Sache an das FG. Dies gilt ausnahmsweise nicht, wenn es auf das Vorbringen des Revisionsklägers unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen kann.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern in Deutschland. In seinem Antrag auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs für das Streitjahr machte er Unterhaltszahlungen an seinen in der Türkei lebenden Vater und zwei Schwägerinnen in Höhe von insgesamt 12 000 DM als außergewöhnliche Belastung geltend. Zum Nachweis legte er Unterhaltsbescheinungen für den Vater sowie für die beiden Schwägerinnen vor, die von einem Landrat (Kaymakam) unterschrieben worden sind, aber den Stempel eines Bürgermeisters (Muhtarligi) tragen. Ferner reichte er Erklärungen seines Vaters und von Boten über den Erhalt von Unterstützungsleistungen ein. Danach wurden dem Vater am ... von dem Boten F 6 000 DM und am ... von dem Boten D ebenfalls 6 000 DM übergeben. Außerdem legte der Kläger Kopien der Personalausweise der Boten mit Nachweisen darüber vor, daß diese sich zu den Zahlungszeitpunkten in der Türkei aufgehalten haben, sowie einen Kreditvertrag über 34 000 DM.
Mit Schreiben vom 7. September 1990 forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) den Kläger auf, ordnungsgemäße Unterhaltsbestätigungen einzureichen, da die vorgelegten Bescheinigungen von einer unzuständigen Behörde (Bürgermeisteramt/Muhtarligi) ausgestellt worden seien. Unterhaltsbescheinigungen könnten nur anerkannt werden, wenn sie entweder vom Provinzgouverneur (Vali) oder dem Landrat (Kaymakam) bzw. von einem Beurkundungsbeauftragten dieser Behörde mit den Zusätzen "Yerine" oder "Adina" unterzeichnet seien. Der Kläger sollte außerdem Belege über das Vorhandensein und die Abhebung der mitgenommenen Geldbeträge einreichen und den Umtausch der Beträge durch Vorlage der Umtauschquittungen nachweisen. Da der Kläger dem nicht nachkam, berücksichtigte das FA die geltend gemachten Zahlungen nicht. Der hiergegen erhobene Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es vernahm zu der Frage, ob der Kläger Geldbeträge an bedürftige Verwandte durch Boten hat überbringen lassen, zwei Zeugen und führte aus: Nach der Beweisaufnahme stehe zwar fest, daß der Kläger seinem Vater 6 000 DM habe zukommen lassen. Es habe jedoch nicht festgestellt werden können, daß der Betrag für den Unterhalt der bedürftigen Angehörigen bestimmt gewesen sei. Die Zweifel an der Behauptung des Klägers, die geltend gemachten Zahlungen seien für den Unterhalt seiner Angehörigen bestimmt gewesen, würden durch die vorgelegten Unterhaltsbescheinigungen nicht beseitigt. Wer immer sie ausgestellt habe, habe nicht nachprüfen können, wofür das durch Boten überbrachte Geld verwandt worden sei. Die Quittung des Vaters besage lediglich, daß er die Beträge erhalten habe. Davon sei auszugehen. Hinsichtlich des Unterhaltscharakters verblieben indes Zweifel, da es sich um größere Summen handele, die nicht nach dem laufenden Bedarf der Angehörigen und auch nicht nach dem Arbeitslohn des Klägers bemessen gewesen seien. Somit könne das Geld auch für Investitionen des Klägers oder anderer Personen verwendet worden sein.
Die Unterhaltsbescheinigungen gäben auch deshalb zu Zweifeln Anlaß, weil bei den Angaben, ob die unterstützte Person beruflich nicht, gelegentlich oder regelmäßig tätig ist, ein kleiner Kreis eingetragen sei. Damit bleibe unklar, was tatsächlich habe bescheinigt werden sollen.
Außerdem bestünden Zweifel an der Echtheit der Dienstsiegel. In allen drei vorliegenden Unterhaltsbescheinigungen sei das Dienstsiegel derart verschwommen, daß dies kein Zufall sein könne. Eine Überprüfung durch Reiben sowohl mit trockenem als auch mit angefeuchtetem Finger habe zudem ergeben, daß es sich nicht um Abdrücke von Stempelfarbe handele. Denn der Stempelfarbeauftrag habe mit trockenem Finger nicht ertastet und mit feuchtem Finger nicht verschmiert werden können. Die Unterhaltsbescheinigungen erschienen als mit einkopiertem Stempelabdruck oder mit Übertragung eines Stempelabdrucks hergestellt. Ob eine derartige Manipulation tatsächlich vorliege, sei aber unerheblich, weil die Unterhaltsbescheinigungen wegen der unklaren Angaben zur Berufstätigkeit der unterstützten Personen inhaltlich nicht verwertbar seien. Die bestehenden Zweifel gingen zu Lasten des Klägers.
Im Tatbestand seiner Entscheidung gibt das FG ferner den Inhalt verschiedener Schriftsätze des Klägers bzw. seines früheren Prozeßbevollmächtigten wieder, in denen der Finanzverwaltung Unsachlichkeit vorgeworfen wird.
Mit der Revision rügt der Kläger Verfahrensmängel. Er trägt vor: Die Entscheidung des FG beruhe auf subjektiven Wertungen. Das FG habe nicht seinen, des Klägers, entscheidungserheblichen Sachvortrag berücksichtigt, sondern sich über den nicht sachbezogenen Vortrag seines früheren Prozeßbevollmächtigten abfällig geäußert und damit gezeigt, daß es seine, des Klägers, gesamte Argumentation nicht ernst nehme.
Das Gericht habe ferner seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Es habe Zweifel an der Echtheit der Dienstsiegel geäußert und diese durch Reiben mit dem Finger geprüft. Die Echtheit des Stempels hätte indes von einem Sachverständigen überprüft werden müssen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen habe sich dem FG aufdrängen müssen.
Ein weiterer Verfahrensmangel bestehe darin, daß das Gericht ihn, den Kläger, nicht darauf hingewiesen habe, es werde die Unterhaltsbescheinigungen nicht anerkennen. Die vorgelegten Bestätigungen entsprächen den von der Finanzverwaltung entwickelten Vordruken. Sie seien im wesentlichen ordnungsgemäß ausgefüllt und von der zuständigen Behörde (Kaymakam) unterzeichnet. Er, der Kläger, sei insoweit seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen. Den Beteiligten und dem Gericht sei bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nicht aufgefallen, daß die Angaben in dem Formular erklärungsbedürftig seien.
Dadurch, daß das FG ihm, dem Kläger, vor Ergehen der Entscheidung keine Gelegenheit gegeben habe, sich zu der Erforderlichkeit der Zahlungen für den Unterhalt seiner Angehörigen zu äußern, habe es schließlich sein Recht auf Gehör verletzt. Aufgrund des Verlaufes der mündlichen Verhandlung, in der lediglich Beweis darüber erhoben worden sei, ob 6 000 DM übergeben und weitergeleitet worden seien, habe er, der Kläger, davon ausgehen müssen, daß nur noch der Nachweis der Zahlung an den Vater umstritten sei, nicht aber die Frage, ob ein Unterhaltsbedarf bestehe. Hätte ihn das Gericht auf die Zweifel hinsichtlich des Unterhaltsbedarfs hingewiesen, hätte er den anwesenden Zeugen, der die Verhältnisse im Hause seines Vaters kenne, dafür benannt, daß sein Vater in Anbetracht seines hohen Alters einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen könne und daß auch seine Schwägerinnen nicht arbeiten könnten.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und der Klage stattzugeben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzu weisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
1. Der Kläger rügt zu Recht die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG -- i. V. m. §96 Abs. 2 FGO) gewähr leistet den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, sich zu Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 11. Oktober 1978 2 BvR 214/76, BVerfGE 49, 325). Dem Kläger ist im Verfahren vor dem FG dieses Recht versagt worden. Er hatte vor Ergehen der Entscheidung keine Gelegenheit, sich zu dem vom FG als erheblich angesehenen Umstand zu äußern, daß Zweifel am Unterhaltscharakter der vom FG als erbracht angesehenen Zahlungen bereits deshalb bestünden, weil es sich um größere Summen gehandelt habe und weil die Unterhaltsbescheinigungen wegen widersprüchlicher Angaben über die berufliche Tätigkeit der nach dem Klagevortrag unterstützten Personen inhaltlich unklar seien.
Aufgrund der Klageerwiderung, die sich auf die Einspruchsentscheidung bezieht, ferner aufgrund des Beweisbeschlusses des FG und der Vernehmung der Zeugen in der mündlichen Verhandlung, die sich auf die Frage der Überbringung der geltend gemachten Beträge durch Boten beschränkte, konnte der Kläger davon ausgehen, es sei lediglich noch der Nachweis der Zahlung an den Vater umstritten und außerdem möglicherweise deren Unterhaltscharakter im Hinblick auf die Unterzeichnung der Unterhaltsbescheinigungen. Ohne einen besonderen Hinweis konnte er deshalb nicht damit rechnen, daß das FG die Bestimmung der Zahlungen für den Unterhalt seiner Angehörigen auch wegen der in dem angefochtenen Urteil genannten Umstände (Übergabe größerer Summen, inhaltliche Unklarheit der Unterhaltsbescheinigungen) in Zweifel ziehen würde. Hierin liegt eine das Recht auf Gehör verletzende Überraschungsentscheidung des FG.
Der Kläger hat den Verfahrensmangel schlüssig gerügt. Er hat vorgetragen, daß er auf einen entsprechenden Hinweis die Unterhaltsbedürftigkeit seiner Angehörigen und damit den Unterhaltscharakter der Zahlungen nachgewiesen hätte.
2. Die Versagung des rechtlichen Gehörs ist ein Revisionsgrund, der regelmäßig zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt, weil nach §119 Nr. 3 FGO unwiderleglich vermutet wird, daß das Urteil des FG auf dem gerügten Fehler beruht. Dies gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn es auf das Vorbringen des Revisionsklägers unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen kann (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §119 Anm. 14, m. w. N.).
Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Trotz der Unklarheiten, die hinsichtlich der Unterhaltsbescheinigungen bestehen und auf die das FG hingewiesen hat, kann es für die materiell-rechtliche Entscheidung u. a. darauf ankommen, ob der Kläger den Nachweis des Unterhaltscharakters der geltend gemachten Zahlungen erbringen kann. Denn ob die Unterhaltsbescheinigungen auch bereits deshalb, weil Zweifel an der Echtheit der Dienstsiegel bestehen, nicht anerkannt werden könnten, wurde vom FG offengelassen.
3. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne daß es eines Eingehens auf die weiteren Rügen des Klägers und auf die materiellen Rechtsfragen bedurfte. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Diesem ist auch die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zu übertragen (§143 Abs. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 66865 |
BFH/NV 1998, 173 |