Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Das Finanzgericht ist nach § 217 Abs. 1 Satz 2 AO verpflichtet, im Rahmen der Schätzung alle vom Steuerpflichtigen in substantiierter Weise vorgetragenen und als Schätzungsgrundlage in Frage kommenden Tatsachenbehauptungen zu berücksichtigen, auch wenn ihre Richtigkeit erst durch Beweiserhebungen geklärt werden muß und zur Anerkennung eines Verlustes führen würde.
Normenkette
AO § 217 Abs. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob die Bfin. 1955 in ihrem Betrieb einen durch Schätzung zu ermittelnden Gewinn oder Verlust erzielt hat.
Die Bfin. hat Ende Oktober 1954 von ihrem früheren Ehemann das wegen überschuldung aufgegebene Groß-und Einzelhandelsgeschäft für Futter- und Düngemittel mit Filialen übernommen. Eine Eröffnungsbilanz stellte die Bfin. nicht auf; dem Finanzamt wurde lediglich eine Aufstellung der übernommenen Aktiva und Passiva vom 17. Oktober 1954 vorgelegt, wie sie auch dem notariellen Geschäftsübernahmevertrag vom 17. Oktober 1954 zugrunde gelegt worden war. Danach standen den aktiven Vermögenswerten von 49.102 DM Schulden in gleicher Höhe gegenüber.
Die Bfin. führte für 1955 keine laufenden Aufzeichnungen über ihre Geschäftsvorfälle. Es war ihr daher nicht möglich, eine nachprüfbare Ermittlung ihres Betriebsergebnisses vorzunehmen. Aus dem gleichen Grunde gab sie auch keine Einkommensteuererklärung für 1955 ab. Erst nach der Veranlagung zur Einkommensteuer 1955 übergab die Bfin. dem Finanzamt eine als Bilanz zum 31. Dezember 1955 bezeichnete Gegenüberstellung ihrer Aktiva und Passiva, nach der die Aktiva 27.952,58 DM und die Passiva 34.509,55 DM betrugen.
Das Finanzamt schätzte bei der Einkommensteuerveranlagung 1955 den gewerblichen Gewinn der Bfin. auf 7.900 DM. Es ging dabei von dem nach den Voranmeldungen veranlagten Umsatz von 266.216 DM aus und nahm davon 3 v. H. als Reingewinn.
Gegen diese Schätzung wendet sich die Bfin mit ihrem Rechtsmittel. Sie bringt vor, es sei zwar richtig, daß sie ihre Einkünfte für 1955 buchmäßig nicht ermitteln und auch keine ordnungsmäßige Bilanz aufstellen könne. Ihr Unvermögen sei aber weder auf Fahrlässigkeit noch auf ein absichtliches Verhalten zurückzuführen. Wenn das Finanzamt behaupte, sie habe sich hartnäckig geweigert, eine Steuererklärung abzugeben, so sei das eine Entstellung der Wahrheit; sie habe einfach niemanden gehabt, der ihr geholfen hätte. Bei ihren schlechten finanziellen Verhältnissen habe es jeder Steuerberater abgelehnt, ihre Buchführung und ihre Steuerangelegenheiten zu übernehmen. Nachdem ihr geschiedener Ehemann das Geschäft wegen überschuldung aufgegeben habe, sei sie nur aus ihrer Notlage heraus bereit gewesen, den Betrieb trotz drückender Schuldenlast fortzuführen. Sie habe es nur getan, um den Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen. Es habe sich aber bald gezeigt, daß die Warenerlöse nicht ausgereicht hätten, um die laufenden Rechnungen zu bezahlen. Es hätten daher ständig Wechsel ausgestellt und prolongiert werden müssen. Bei der Einlösung der Wechsel habe ihr Schwager immer wieder einspringen müssen. Dieser habe auch sonst neben anderen Verwandten ihre Familie mit Lebensmitteln unterstützt. Die Schulden seien aber ständig gewachsen. Es sei daher unmöglich, daß sie 1955 einen Gewinn erzielt habe; sie habe nur aus der Substanz gelebt. Dem Finanzamt seien alle diese Tatsachen bekannt gewesen. Wenn es Zweifel gehabt habe, ob ihre Angaben der Wahrheit entsprächen, so hätte es nur die benannten Zeugen zu vernehmen brauchen. Diese seien seit vielen Jahren in der Firma tätig und über die finanzielle Lage des Geschäftes genau unterrichtet gewesen. Sie könnten bezeugen, daß die den Lieferanten gegebenen Wechsel nicht hätten eingelöst werden können, daß die Schulden ständig gewachsen seien und daß sie selbst ihre privaten Ersparnisse bei der Bank verpfändet bzw. dem Geschäft zur Verfügung gestellt hätten, um einen Zusammenbruch zu verhindern.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht führte aus, die Bfin. sei ihrer Steuererklärungspflicht für 1955 nicht nachgekommen; sie sei auch nicht in der Lage, Aufzeichnungen vorzulegen, die eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG zuließen. Infolge dieses Verhaltens sei eine Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen ohne überspannung der amtlichen Ermittlungspflicht unmöglich; das Betriebsergebnis müsse daher geschätzt werden. Es sei auch nicht zu beanstanden, daß das Finanzamt mangels anderer Unterlagen eine Reingewinnschätzung vorgenommen habe. Der dabei zugrunde gelegte Reingewinnsatz von 3 v. H. entspreche dem gewogenen Mittel aus einem Reingewinnsatz von 4 v. H. für die Einzelhandelsumsätze und von 1 v. H. für die Großhandelsumsätze. Da diese Sätze noch um je 2 v. H. unter den niedrigsten amtlichen Richtsätzen lägen, sei damit auch bei Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles die unterste Grenze des Schätzungsrahmens erreicht.
Die von der Bfin. als Zeuginnen benannten Angestellten hat das Gericht nicht vernommen, weil nach seiner Meinung die in ihr Wissen gestellten Tatsachen keinen Schluß auf ein Verlustergebnis zuließen. Auch könnten diese Angestellten nach Ansicht der Vorinstanz gar keinen Gesamtüberblick über das Unternehmen gehabt haben.
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Die Vorinstanz hat die Zulässigkeit der Schätzung des Betriebsergebnisses im Veranlagungszeitraum 1955 gemäß § 217 Abs. 1 AO mit Recht bejaht, da mangels genauer Aufzeichnungen über Einnahmen und Ausgaben weder die Bfin. selbst noch das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen anders ermitteln oder berechnen konnte.
Das Finanzgericht verkennt jedoch die sich für die Finanzbehörden bei einer Schätzung aus § 217 Abs. 1 Satz 2 AO ergebenden Pflichten, wenn es ohne nähere Begründung sagt, der geschätzte Reingewinnsatz von 3 v. H., der um 2 v. H. unter dem niedrigsten Erfahrungssatz der amtlichen Richtsätze liege, sei nicht zu beanstanden, weil damit auch bei Berücksichtigung der besonderen Umstände die unterste Grenze eines möglichen Schätzungsrahmens erreicht sei. Nach § 217 Abs. 1 Satz 2 AO sind bei einer Schätzung alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Dazu gehört auch eine Würdigung aller vom Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten vorgetragenen Umstände und Tatsachen, selbst wenn diese zur Anerkennung eines Verlustes führen würden und ihre Richtigkeit erst durch Ermittlungen geprüft werden muß. Das gilt auf jeden Fall dann, wenn - wie anscheinend hier - der Steuerpflichtige nicht durch schuldhaftes Verhalten, sondern infolge einer finanziellen Notlage außerstande war, seinen steuerlichen Verpflichtungen nachzukommen (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI 279/39 vom 19. Juli 1939, RStBl 1939 S. 906). Die Bfin. hat zwei Aufstellungen ihrer Aktiven und Passiven vorgelegt. Die eine Aufstellung wurde bei übernahme des Geschäftes am 17. Oktober 1954 erstellt und bildete die Grundlage des notariellen Geschäftsübernahmevertrages vom gleichen Tage. Die zweite Aufstellung stellt eine Bestandsaufnahme zum 31. Dezember 1955 dar; die einzelnen Beträge bildeten die Posten, mit denen am 1. Januar 1956 eine neue Buchführung (Deutsche Normaldurchschreibebuchführung) begonnen wurde. Diese beiden Aufstellungen, aus deren Gegenüberstellung sich ein bedeutender Vermögensschwund ergibt, konnten ohne schlüssige Begründung nicht außer acht gelassen werden, auch wenn sie nicht als Ergebnis einer Buchführung rechnerisch nachgeprüft werden können und mangels Angabe der Entnahmen und Einlagen nicht ohne weiteres Schlüsse auf ein Verlustergebnis dieses Zeitraums zulassen. Immerhin ist der Vermögensschwund so hoch, daß die Annahme noch höherer Entnahmen nicht sehr wahrscheinlich ist. Zumindest hätten die Vermögensaufstellungen - die in der Vorentscheidung mit keinem Wort erwähnt werden - das Finanzgericht veranlassen müssen, die von der Bfin. für die Richtigkeit des Vermögensschwundes angebotenen Beweise, nämlich die Aussagen der drei Angestellten, aufzugreifen.
Der Meinung des Finanzgerichts, auf eine Vernehmung dieser Zeugen verzichten zu können, weil die in ihr Wissen gestellten Tatsachen, nämlich die Aushilfe mit Darlehnsbeträgen, keinen sicheren Schluß auf ein Verlustergebnis zuließen, liegt eine Verkennung des Akteninhalts zugrunde. Denn alle drei Angestellten sollten nach den Beweisanträgen vom 19. September 1957 und vom 11. November 1957 nicht nur bekunden, daß sie ihre Ersparnisse der Bfin. zur Verfügung gestellt und zugunsten der Bfin. verpfändet haben, sondern vor allem auch auf Grund ihrer langjährigen Tätigkeit als leitende Angestellte über das Gesamtbetriebsergebnis Auskunft geben. Wenn demgegenüber die Vorinstanz von vornherein von der Annahme ausgeht, daß die Angestellten keinen sicheren Gesamtüberblick über die Geschäftslage haben könnten, weil sie nur in der einen oder anderen Betriebstätte tätig gewesen seien, so stellt das ein im gerichtlichen Verfahren unzulässiges Arbeiten mit Vermutungen dar. Das Gericht unterstellt hier eine Tatsache, von der es bei seiner Entscheidung nur hätte ausgehen dürfen, wenn sie durch die Beweisaufnahme als richtig erwiesen worden wäre. Die Vorinstanz verkennt, daß grundsätzlich auch im Rahmen eines Schätzungsverfahrens nach § 217 Abs. 1 AO die allgemein anerkannten Beweisregeln des steuergerichtlichen Verfahrens Geltung haben. Dazu gehört auch, daß Tatsachenbehauptungen des Steuerpflichtigen, die für die Höhe der Schätzung von ausschlaggebender Bedeutung sein können und für deren Richtigkeit gewichtige Argumente vorgetragen und Zeugen angeboten werden, nicht ohne triftige Gründe entweder ganz außer acht gelassen oder auf Grund bloßer Vermutungen beiseite geschoben werden dürfen. Denn Ziel der Schätzung ist es nicht, unter allen Umständen an Hand der Erfahrungsrichtsätze zu einer Steuerfestsetzung zu gelangen, sondern ein Ergebnis zu finden, das die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich hat.
Gegen den nicht schlüssig begründeten Verzicht auf Beweiserhebungen wendet sich daher die Bfin. zu Recht. Da die Möglichkeit besteht, daß das Finanzgericht hinsichtlich der Höhe der Schätzung zu einem anderen Ergebnis, vielleicht sogar zur Anerkennung eines Verlustes gekommen wäre, wenn es alle vorgetragenen Umstände und Tatsachen durch geeignete Beweiserhebungen aufgeklärt hätte, war die Vorentscheidung wegen mangelnder Sachaufklärung aufzuheben. Die Sache wird an das Finanzgericht zurückverwiesen, das vor einer erneuten Entscheidung alle der Bfin. zum Beweis ihres Verlustergebnisses vorgebrachten Umstände und Tatsachen - womöglich unter Beiziehung eines Betriebsprüfers - nachzuprüfen und vor allem auch durch Vernehmung der angeführten Zeugen sich ein genaueres Urteil über das Betriebsergebnis 1955 zu bilden haben wird.
Fundstellen
Haufe-Index 409789 |
BStBl III 1960, 451 |
BFHE 1961, 545 |
BFHE 71, 545 |