Leitsatz (amtlich)
Das Schriftenminimum einer Druckerei ist einer selbständigen Bewertung und Nutzung i. S. von § 6 Abs. 2 EStG fähig.
Normenkette
EStG § 6 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob Schriftenminima geringwertige Wirtschaftsgüter i. S. von § 6 Abs. 2 EStG sind.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt eine Buchdruckerei und einen Verlag. Die für seine Druckerei angeschafften Schriftenminima sah er als geringwertige Wirtschaftsgüter an und nahm dafür die Bewertungsfreiheit nach § 6 Abs. 2 EStG in Anspruch.
Nach einer Betriebsprüfung kam das damals sachlich zuständige Finanzamt (FA S) zu der Auffassung, Schriftenminima seien einer selbständigen Nutzung nicht fähig, weil sie - wie Schriften allgemein - nur i. V. m. anderen Wirtschaftsgütern wie Linien, Füll- und Blindmaterial, Regletten sowie Schließzeilen, Schließrahmen und Druckrahmen genutzt werden könnten. Das FA S versagte deshalb dem Kläger die Bewertungsfreiheit für die Schriftenminima und erließ dementsprechend einen berichtigten Einkommensteuerbescheid für 1968.
Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte in seiner in Entscheidungen der Finanzgerichte 1973 S. 60 (EFG 1973, 60) veröffentlichten Entscheidung im wesentlichen aus:
Der Kläger könne für die Schriftenminima die Bewertungsfreiheit nach § 6 Abs. 2 EStG in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung nicht in Anspruch nehmen. Zwar seien Schriftenminima früher in der Finanzrechtsprechung und von der Finanzverwaltung als geringwertige Wirtschaftsgüter angesehen worden. Nunmehr sei jedoch die von der Finanzverwaltung geänderte Rechtsauffassung zutreffend. Schriftzeichen seien nur i. V. m. anderen Wirtschaftsgütern wie Füll- und Blindmaterial verwendbar. Ihre technische Funktion allein reiche nicht aus, um sie als einer selbständigen Nutzung fähig anzusehen.
Mit der Revision wird unrichtige Anwendung des § 6 Abs. 2 EStG gerügt und geltend gemacht, bei Anwendung der im Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. März 1973 I R 105/71 (BFHE 109, 323, BStBl II 1974, 2) aufgestellten Grundsätze müßten Schriftenminima als selbständig nutzungsfähige Wirtschaftsgüter angesehen werden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht, wenn auf das von der früheren Rechtsprechung des BFH herausgestellte Merkmal einer bestimmungsgemäßen und für den einzelnen betrieblichen Zweck erforderlichen Verbindung abgestellt werde.
Der dem Verfahren nach § 122 Abs. 2 FGO beigetretene Bundesminister der Finanzen (BdF) hat sich dahin geäußert, daß bei einem handelsüblichen Schriftenminimum die selbständige Nutzungsfähigkeit i. S. von § 6 Abs. 2 EStG nicht gegeben sei und dazu im wesentlichen ausgeführt:
Nach den von der Rechtsprechung des BFH erarbeiteten Grundsätzen für die Beurteilung der selbständigen Nutzungsfähigkeit - insbesondere nach dem BFH-Urteil vom 16. Dezember 1958 I 286/56 S (BFHE 68, 198, BStBl III 1959, 77) komme es vor allem darauf an, ob nach außen ein einheitliches Ganzes in Erscheinung trete. Werde hierauf abgestellt, dann könnten Schriftenminima nicht als der selbständigen Nutzung fähige Wirtschaftsgüter angesehen werden. Für die Herstellung eines Drucksatzes würden nicht das Schriftenminimum als Ganzes, sondern die einzelnen Lettern i. V. m. anderen notwendigen Wirtschaftsgütern verwendet.
Zu einer anderen Entscheidung könne man nur unter Zugrundelegung des BFH-Urteils I R 105/71 gelangen. Der dieses Urteil bestimmenden Auffassung, schon die Möglichkeit, ein Wirtschaftsgut aus seinem konkreten Nutzungszusammenhang zu lösen und im Betrieb in einem anderen Nutzungszusammenhang wieder zu verwenden, begründe die Anwendbarkeit des § 6 Abs. 2 EStG, könne jedoch nicht gefolgt werden. Nach der Lösung eines Wirtschaftsgutes aus dem bisherigen konkreten technischen und wirtschaftlichen Zusammenhang sei das einzelne Wirtschaftsgut als solches im Betrieb nicht mehr sinnvoll nutzbar. Deshalb könne das Fehlen der selbständigen Nutzungsfähigkeit nicht davon abhängig gemacht werden, daß der Nutzungszusammenhang mit anderen Wirtschaftsgütern "unauflösbar" sei. Andernfalls könne die selbständige Nutzungsfähigkeit nur noch den wesentlichen Bestandteilen i. S. von § 93 BGB abgesprochen werden. Entgegen dem Urteil I R 105/71 und dem darin zitierten Gutachten der Steuerreformkommission 1971 (Schriftenreihe des BdF, Heft 17) könne ferner nicht angenommen werden, daß die bisherige Rechtsprechung zur Auslegung des § 6 Abs. 2 EStG den vom Gesetzgeber bei der Einführung dieser Vorschrift beabsichtigten Vereinfachungseffekt beeinträchtigt habe. Deshalb habe die Bundesregierung auch keine Veranlassung gesehen, im Entwurf eines Dritten Steuerreformgesetzes (Bundestags[BT]-Drucksache 7/1470) eine Änderung der genannten Vorschrift vorzuschlagen, zumal eine Änderung i. S. der Steuerreformkommission 1971 ebenso wie die Entscheidung I R 105/71 neue Abgrenzungsschwierigkeiten gebracht hätte und mit hohen Steuerausfällen - für 1974 geschätzt: mindestens rd. 5 Mrd. DM - verbunden gewesen wäre.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat wurde vom Vorsteher des FA S, das den angefochtenen Bescheid erlassen hat, mitgeteilt, daß seit dem 1. Januar 1974 sachlich an die Stelle des FA S das FA H gemäß § 17 Abs. 1 des Gesetzes über die Finanzverwaltung (FVG) getreten sei. Eine vom Vorsteher des FA H auf den Vorsteher des FA S ausgestellte Prozeßvollmacht wurde dem Senat vorgelegt.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur anderweitigen Steuerfestsetzung.
1. Beklagter in dem anhängigen Verfahren ist das FA H. Nach der Rechtsprechung des BFH tritt das FA, auf das Verwaltungsaufgaben eines anderen FA aufgrund einer auf § 17 Abs. 1 FVG beruhenden Anordnung übergegangen sind, in einem gegen dieses FA anhängigen Rechtsstreit, der sich auf den übergegangenen Aufgabenbereich bezieht, an dessen Stelle als Beklagter; mit dem Übergang der sachlichen Zuständigkeit wechselt auch die Passivlegitimation (vgl. BFH-Urteil vom 19. November 1974 VIII R 192/72, BFHE 114, 390, BStBl II 1975, 210). Da im vorliegenden Falle die sachliche Zuständigkeit auf das FA H übergegangen ist, ist dieses FA passiv legitimiert. Es war in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch unter Verzicht auf Verfahrensrügen vertreten, da das Auftreten des Vorstehers des FA S vom Vorsteher des FA H durch Erteilen einer Prozeßvollmacht genehmigt wurde.
2. Das FG ist einem Rechtsirrtum unterlegen, wenn es die vom Kläger angeschafften Schriftenminima nicht als geringwertige Wirtschaftsgüter i. S. von § 6 Abs. 2 EStG angesehen und die Bewertungsfreiheit versagt hat.
Nach § 6 Abs. 2 EStG in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung können unter weiteren hier nicht streitigen Voraussetzungen die Anschaffungs- oder Herstellungskosten von beweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens, die einer selbständigen Bewertung und Nutzung fähig waren, im Jahre der Anschaffung oder Herstellung in voller Höhe als Betriebsausgaben abgesetzt werden, wenn die Anschaffungs- oder Herstellungskosten 800 DM nicht überstiegen. Zu den Voraussetzungen der Bewertungsfreiheit gehören demnach das Vorliegen eines - selbständig bewertbaren - Wirtschaftsgutes und dessen selbständige Nutzungsfähigkeit. Beides ist bei Schriftenminima einer Druckerei gegeben.
a) Das ein Schriftenminimum - verkehrsübliche Mindestmenge von Schriftzeichen (Alphabetbuchstaben, Ziffern und Zeichen eines bestimmten Schriftgrades), die von Schriftgießereien abgegeben und von Druckereien verwendet wird - ein bewegliches Wirtschaftsgut des Anlagevermögens einer Druckerei ist, wird von keinem der Beteiligten in Zweifel gezogen. Im Hinblick darauf, daß einzelne Lettern nicht gehandelt werden und demnach wirtschaftlich nicht greifbar sind, hat auch der erkennende Senat keine Bedenken, nicht schon das einzelne Schriftzeichen, sondern erst das Schriftenminimum als selbständig bewertbares Wirtschaftsgut anzusehen.
b) Zu Unrecht hat das FG jedoch ein Schriftenminimum in einer Druckerei für nicht selbständig nutzungsfähig gehalten.
Wie in dem BFH-Urteil I R 105/71 ausgesprochen wurde, ist das Merkmal der selbständigen Nutzungsfähigkeit i. S. von § 6 Abs. 2 EStG erfüllt, wenn das zu beurteilende Wirtschaftsgut nicht Teil eines einheitlichen Ganzen ist. Dabei ist für die selbständige Nutzungsfähigkeit davon auszugehen, daß die Abschreibungsfreiheit nicht schon dann zu versagen ist, wenn das Wirtschaftsgut in eine größere Einheit (Fabrik, Anlage usw.) eingeordnet ist und in diesem Zusammenhang eine dienende Funktion ausübt, sondern nur dann, wenn der Nutzungszusammenhang mit den anderen Wirtschaftsgütern der Einheit, wirtschaftlich betrachtet, unauflösbar ist und das Wirtschaftsgut außerhalb dieser Einheit einer Nutzung nicht mehr fähig ist.
Für diese Auslegung des § 6 Abs. 2 EStG, nach der ein Wirtschaftsgut einer selbständigen Nutzung fähig ist, wenn es ohne wesentliche Veränderung aus seinem bisherigen Nutzungszusammenhang herausgelöst werden kann und in einem anderen Nutzungszusammenhang funktionsfähig bleibt, sprechen folgende Überlegungen:
Da alle Wirtschaftsgüter eines Betriebs in mehr oder weniger engen Nutzungszusammenhängen miteinander stehen, erscheint es gerechtfertigt, für die Frage nach der selbständigen Nutzungsfähigkeit auf den Grad des jeweiligen Nutzungszusammenhangs abzustellen und die Grenze der selbständigen Nutzungsfähigkeit dort zu ziehen, wo der Nutzungszusammenhang mehrerer Wirtschaftsgüter einer Einheit, wenn nicht schon technisch, so doch wirtschaftlich unauflösbar und das Wirtschaftsgut außerhalb dieser Einheit nicht mehr funktionsfähig ist. Vom Wortlaut des § 6 Abs. 2 EStG, der eine selbständige Nutzungs fähigkeit fordert, ist eine solche Auslegung möglich. Dem Zweck der Vorschrift, einen Vereinfachungseffekt hinsichtlich der Abschreibung zu erreichen (vgl. BFH-Urteil I R 105/71 mit Nachweis), steht es nicht entgegen, den Begriff der selbständigen Nutzungsfähigkeit weit zu fassen. Bei einer weiten Auslegung sind auch Abgrenzungsschwierigkeiten eher geringer als zahlreicher - wie der BdF annimmt -. Der vom BdF befürchtete Steuerausfall kann kein Kriterium bei der Gesetzesauslegung sein; es muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, wirtschafts- oder steuerpolitisch unerwünschte Folgen durch eine entsprechende Gesetzesfassung zu beseitigen.
Geht man für die Beurteilung der selbständigen Nutzungsfähigkeit von dieser Auslegung des § 6 Abs. 2 EStG aus, dann ist jedes Schriftenminimum der Druckerei einer selbständigen Nutzung fähig. Zwar steht das Minimum als solches in einem engen Nutzungszusammenhang mit anderen Gegenständen oder Wirtschaftsgütern der Druckerei, insbesondere solchen, die zur Herstellung eines Drucksatzes erforderlich sind - z. B. sog. Blindmaterial, Regletten, Linien und Winkelhaken -. Dieser Nutzungszusammenhang ist indessen technisch und wirtschaftlich in einer Weise auflösbar, daß das Minimum auch in einem anderen Nutzungszusammenhang funktionsfähig bleibt. Sowohl das Minimum als Ganzes - soweit theoretisch einmal vollständig für einen Drucksatz benötigt - als auch seine einzelnen Gegenstände - die Schriftzeichen - können nach Herstellung eines Drucksatzes jederzeit wieder aus diesem gelöst und für die Anfertigung eines anderen Drucksatzes verwendet werden. An dieser Beurteilung würde sich auch nichts ändern, wenn regelmäßig nicht das Minimum als Ganzes, sondern nur ein Teil der in ihm enthaltenen Lettern für die Herstellung eines Drucksatzes gebraucht wird. Hinsichtlich der Lettern kann sich die Frage nach der selbständigen Nutzungsfähigkeit nicht stellen, weil das einzelne Schriftzeichen kein selbständig bewertbares Wirtschaftsgut ist.
Für den vorliegenden Fall kann es indessen offenbleiben, ob die neuere Rechtsprechung des BFH den Begriff der selbständigen Nutzungsfähigkeit wesentlich anders definiert als die ältere Rechtsprechung, die bei ihrer Begriffsbestimmung die Möglichkeit der Lösung eines Wirtschaftsguts aus dem Nutzungszusammenhang mit anderen Wirtschaftsgütern und der Verwendbarkeit des Wirtschaftsguts in einem anderen Zusammenhang ebenfalls nicht außer Betracht ließ (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 20. November 1958 IV 76/57, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz, § 6 Abs. 2, Rechtsspruch 8; vom 13. September 1966 I R 53/64, BFHE 86, 799, BStBl III 1966, 692). Denn selbst dann, wenn für die Beurteilung der selbständigen Nutzungsfähigkeit - wie im BFH-Urteil I 286/65 S - als bedeutsam angesehen wird, ob nach außen ein einheitliches Ganzes in Erscheinung tritt, und dafür auf die betrieblich bedingte Art und Dauer der Verbindung - Festigkeit, technische Gestaltung und Dauer der Verbindung - sowie auf die Abstimmung der verbundenen Wirtschaftsgüter aufeinander abgestellt wird, ist bei den Schriftenminima einer Druckerei die selbständige Nutzungsfähigkeit zu bejahen.
Das einzelne Schriftenminimum ist weder im Anschaffungszeitpunkt noch während seiner bestimmungsgemäßen Verwendung im Betrieb Teil eines einheitlichen Ganzen. Bei der Anschaffung stellt es in der Zusammensetzung aus einer handelsüblichen Menge von Schriftzeichen ein Ganzes dar. Diese Eigenschaft geht auch bei der Verwendung nicht verloren. Zur Nutzung des Schriftenminimums im Zusammenhang mit anderen Gegenständen des Betriebs bedarf es keiner besonderen Festigkeit der Verbindung. Eine bestimmte technische Gestaltung im Hinblick auf die Verbindung ist nicht erforderlich. Verbindungen sind auch nicht auf Dauer angelegt. Es fehlt schließlich an einer Abstimmung des Minimums mit den zu verbindenden Gegenständen. Minima verschiedener Schriftgrade können miteinander und zusammen mit Blindmaterial unterschiedlichen Umfangs jederzeit zusammengesetzt und wieder getrennt werden, ohne daß dabei ihre Funktionsfähigkeit verlorenginge. Die Bestimmung des Schriftenminimums liegt gerade darin, jeweils in einem anderen Zusammenhang funktionsfähig zu sein und damit nicht Teil eines Ganzen zu werden.
3. Die Vorentscheidung, die von anderen Überlegungen ausgegangen ist, war danach aufzuheben. Der Senat kann selbst entscheiden und setzt die Steuer anderweitig fest.
Fundstellen
Haufe-Index 71752 |
BStBl II 1976, 214 |
BFHE 1976, 243 |