Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Widerlegung eines Eingangsstempels durch eidesstattliche Versicherung – Urkundenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren – mehrfache Einlegung einer Revision
Leitsatz (amtlich)
1. Der Eingangsstempel einer Behörde oder eines Gerichts erbringt grundsätzlich Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreibens.
2. Dieser Beweis kann nicht durch eine eidesstattliche Versicherung widerlegt werden.
Orientierungssatz
1. Die Tatsache, daß § 82 FGO nicht auf §§ 415 bis 444 ZPO verweist, schließt im finanzgerichtlichen Verfahren, wie § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO zu entnehmen ist, den Urkundenbeweis nicht aus. Lediglich die formalisierten Beweisregeln der ZPO sollen zugunsten der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht übernommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 7.5.1969 I R 68/67; Literatur).
2. Wird eine auf § 116 Abs. 1 FGO gestützte Revision erhoben und –nach Zulassung der Revision durch das FG auf eine Nichtzulassungsbeschwerde hin– eine dem § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO entsprechende Revision eingelegt, liegt wegen der Nämlichkeit des Rechtsmittels eine einheitliche zulässige Revision vor (Abgrenzung zum Beschluß des BFH vom 12.4.1991 III R 181/90).
Normenkette
FGO §§ 82, 81 Abs. 1 S. 2, § 96 Abs. 1; AO 1977 § 122; ZPO §§ 415-444, 294; FGO §§ 155, 115 Abs. 1, § 116 Abs. 1, § 120 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
I. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) erließ gegenüber der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) Steueränderungsbescheide für 1982 bis 1985, die am 16. Januar 1990 mit einfachem Brief zur Post gingen. Die Klägerin legte hiergegen mit Schreiben vom 16. Februar 1990 Einspruch ein, der vom FA mit dem Eingangsstempel „21. Februar 1990 – Frühleerung” versehen wurde. Das FA verwarf den Einspruch mangels fristgerechter Einlegung als unzulässig.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, ihr Geschäftsführer habe das Einspruchsschreiben am 18. Februar 1990 gegen ca. 23.00 Uhr persönlich in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen. Dies könne der Zeuge W bestätigen. Auf Anforderung des Finanzgerichts (FG) legte die Klägerin eine eidesstattliche Versicherung des W vom 11. März 1994 vor, wonach dieser und seine Freundin K, am 18. Februar 1990 um ca. 23.00 Uhr mit dem Geschäftsführer der Klägerin zum FA gefahren seien, wo dieser einen Briefumschlag eingeworfen habe. Daraufhin beantragte das FA mit Schriftsatz vom 20. Mai 1994, eingegangen beim FG am 24. Mai 1994, für den Fall, daß nicht bereits eine Wiedereinsetzung in die verstrichene Einspruchsfrist ausscheide, mündliche Verhandlung und regte an, W und K als Zeugen zu vernehmen.
Der zuständige Senat des FG übertrug die Streitsache mit Beschluß vom 13. Mai 1994 dem Einzelrichter, der mit Urteil vom 25. Mai 1994 die Einspruchsentscheidung aufhob.
Gegen das Urteil legte das FA Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und nach Zulassung der Revision durch das FG Revision mit der Begründung ein, daß das FG gegen Beweisregeln verstoßen habe, weil es den Eingangsstempel nicht als öffentliche Urkunde i.S. des § 418 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gewürdigt und der eidesstattlichen Versicherung einen höheren Beweiswert beigemessen habe. Glaubhaftmachung des rechtzeitigen Briefeinwurfs genüge nicht.
Entscheidungsgründe
II. Auf die Revision des FA ist das Urteil des FG aufzuheben. Die Sache ist mangels Spruchreife an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 2 FGO). Dieses wird im zweiten Rechtsgang den oder die von der Klägerin benannten Zeugen im Rahmen einer Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu vernehmen haben.
1. Die Frage, ob die auf § 116 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 FGO gestützte Revision zulässig ist, kann im Streitfall offenbleiben. Das FG hat die Revision auf Nichtzulassungsbeschwerde hin nachträglich zugelassen. Das FA hat daraufhin eine dem § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO entsprechende Revision eingelegt. Wegen der Nämlichkeit des Rechtsmittels liegt damit eine einheitliche zulässige Revision vor (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 8. Oktober 1991 VIII R 52/90, BFH/NV 1992, 323; BFH-Urteil vom 23. März 1995 X R 36/95, nicht veröffentlicht –NV–; vgl. auch Beschluß vom 10. März 1994 IX R 43/90, BFH/NV 1994, 813 m.w.N.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 120 Rdnr. 16). Von der Entscheidung des III. Senats vom 12. April 1991 III R 181/90 (BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638) unterscheidet sich der Streitfall dadurch, daß im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats aufgrund der zweiten Revisionseinlegung eine zulässige Revision vorliegt.
2. Das Urteil des FG ist wegen unrichtiger Anwendung der Beweisregeln aufzuheben.
Der Einspruch der Klägerin gegen die Steuerbescheide vom 16. Januar 1990, die nach § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) am 19. Januar 1990 als bekanntgegeben gelten, wurde fristgerecht innerhalb eines Monats (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) eingelegt, wenn er am 19. Februar 1990 beim FA einging. Der rechtzeitige Eingang des Einspruchsschreibens ist zwischen den Beteiligten streitig. Das FA hat unter Hinweis auf den Eingangstempel „21. Februar 1990 – Frühleerung” vorgetragen, der Einspruch sei erst am 20. Februar 1990, und damit verspätet, eingegangen. Die Klägerin hat hingegen behauptet, sie habe das Einspruchschreiben durch ihren Geschäftsführer persönlich bereits am 18. Februar 1990, 23.00 Uhr eingeworfen und hierfür Zeugen benannt. Aufgrund dieser sich substantiiert widersprechenden Tatsachenbehauptungen ist das FG verpflichtet, Beweis zu erheben (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 81, Rdnr. 1).
Als denkbare Beweismittel haben dem FG der Eingangsstempel auf dem Einspruchsschreiben als öffentliche Urkunde und der benannte Zeuge W und ggf. auch K zur Verfügung gestanden. Die Tatsache, daß § 82 FGO nicht auf §§ 415 bis 444 ZPO verweist, schließt im finanzgerichtlichen Verfahren, wie § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO zu entnehmen ist, den Urkundenbeweis nicht aus. Lediglich die formalisierten Beweisregeln der ZPO sollten zugunsten der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht übernommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 7. Mai 1969 I R 68/67, BFHE 95, 395, BStBl II 1969, 444; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 82 FGO Tz. 1; Gräber/Koch, a.a.O., § 82 Rdnr. 40).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kommt einer öffentlichen Urkunde auch im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung ein hoher Beweiswert zu, so daß diese nach allgemeinen Erfahrungssätzen im Regelfall vollen Beweis für die in ihr beurkundeten Tatsachen erbringt. So erbringt der Eingangsstempel einer Behörde oder eines Gerichts grundsätzlich Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreibens (vgl. BFH-Urteil vom 25. April 1988 X R 90/87, BFH/NV 1989, 110; BFH-Urteil vom 14. März 1985 IV R 216/84, BFH/NV 1987, 17; BFH-Beschluß vom 29. Juli 1991 III E 1/91, BFH/NV 1992, 482; BFH-Urteil vom 24. Juni 1981 I R 206/79, NV; BFH-Urteil vom 9. Dezember 1987 I R 128/85, NV; BFH-Beschluß vom 22. Dezember 1988 VIII B 131/87, insoweit NV; vgl. auch BFH-Urteil vom 20. Februar 1992 V R 39/88, BFH/NV 1992, 580 m.w.N.; BFH-Beschluß vom 27. März 1990 VII B 114/89, BFH/NV 1990, 788; BFH-Urteil vom 17. Oktober 1972 VIII R 36-37/69, BFHE 108, 141, BStBl II 1973, 271). Dieser Beweis kann nicht durch eine eidesstattliche Versicherung, die lediglich ein Mittel der Glaubhaftmachung, aber nicht des Beweises ist (§ 155 FGO i.V.m. § 294 ZPO), widerlegt werden (BFH-Beschluß vom 14. November 1977 VIII B 52/77, BFHE 124, 5, BStBl II 1978, 156). Die insoweit gegenteilige Auffassung des FG widerspricht § 96 FGO, wonach der Richter vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache und damit auch von der Rechtzeitigkeit einer Rechtsbehelfs- oder Rechtsmitteleinlegung überzeugt sein muß (vgl. z.B. Gräber/von Groll, a.a.O., § 96 Rdnr. 16 m.w.N.; BFH-Urteil vom 11. Oktober 1989 II R 147/85, BFHE 158, 462, BStBl II 1990, 188). Eine Fristversäumnis muß dementsprechend mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 96 FGO Tz. 9; Gräber/von Groll, a.a.O., § 96 Rdnr. 16 m.w.N.). Für die Glaubhaftmachung hingegen genügt es, daß nicht nur ein geringes Maß an Wahrscheinlichkeit für die Rechtzeitigkeit des Rechtsbehelfs oder des Rechtsmittels spricht (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 10. Juli 1974 I R 223/70, BFHE 113, 209, BStBl II 1974, 736; BFH-Urteil vom 20. November 1987 III R 208/84, III R 210-211/84, BFH/NV 1989, 370). Sie ist daher nur dort ausreichend, wo sie vom Gesetz –in Abweichung von § 96 Abs. 1 FGO– ausdrücklich zugelassen ist (vgl. z.B. § 79b Abs. 3, § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO; Zöller, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 294 Rdnr. 1) oder die Art des Verfahrens einer Erhebung von (nicht präsenten) Beweismitteln entgegensteht (vgl. z.B. § 69, 114 FGO).
Gegenteiliges läßt sich auch nicht aus der Entscheidung des BFH in BFH/NV 1990, 788 entnehmen, wenn dort nicht beanstandet wird, daß die Tatsacheninstanz solange von der Richtigkeit der durch den Eingangsstempel bekundeten Tatsache des Eingangs eines Schriftstücks an einem bestimmten Tag ausgeht, als kein Sachverhalt dargetan und wenigstens glaubhaft gemacht ist, der es nach der freien Überzeugung des Gerichts als wahrscheinlich erscheinen läßt, daß der Eingangsstempel sachlich unrichtig ist. Diese Ausführungen besagen nur, bis zu welchem Zeitpunkt den Angaben im Eingangsstempel uneingeschränkt Glauben geschenkt werden kann, nicht aber, daß der durch die öffentliche Urkunde erbrachte Beweis durch bloße Glaubhaftmachung widerlegt werden könnte. Aus der zitierten Entscheidung ergibt sich aber, daß die Streitsache zur Nachholung einer Beweisaufnahme an das FG zurückzuverweisen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 557408 |
BFH/NV 1996, 3 |
BStBl II 1996, 19 |
BFHE 178, 303 |
BFHE 1996, 303 |
BB 1995, 2414 (L) |
BB 1996, 149 |
BB 1996, 149-150 (LT) |
DB 1995, 2460 (LT) |
DStR 1995, 1794-1795 (KT) |
DStZ 1996, 255 (K) |
HFR 1996, 21-22 (LT) |
StE 1995, 743 (K) |