Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewerbesteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
ß 36 Abs. 2 Satz 2 und § 36 a Abs. 1 GewStG 1962 bieten nicht die Möglichkeit, einen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO erlassenen Berichtigungsbescheid über den Gewerbesteuermeßbetrag über den Rahmen des § 234 AO hinaus mit der Begründung anzufechten, der ursprüngliche, vor dem 25. Januar 1962 unanfechtbar gewordene Gewerbesteuermeßbescheid beruhe auf der für verfassungswidrig erklärten Vorschrift des § 8 Ziff. 6 GewStG a. F.
GewStG 1957 § 8 Ziff. 6; GewStG 1962 § 36 Abs. 2 Satz 2, § 36 a Abs. 1; AO § 222, § 234.
Normenkette
GewStG § 8 Ziff. 6, § 36 Abs. 2 S. 2, § 36a/1; AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2, §§ 234, 232/1
Tatbestand
Streitig ist, ob der Gewerbesteuermeßbescheid für das Jahr 1959, der zum Teil auf einer für verfassungswidrig erklärten Norm beruht, zugunsten der Bfin. geändert werden darf.
Bei der erstmaligen Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags wurden bei der Ermittlung des Gewerbeertrags dem Gewinn aus Gewerbebetrieb Vergütungen gemäß § 8 Ziff. 6 GewStG hinzugerechnet. Der Bescheid wurde vor dem 25. Januar 1962 unanfechtbar. Im August 1961 fand bei der Bfin. eine Betriebsprüfung statt, bei der neue Tatsachen festgestellt wurden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigten. Das Finanzamt erließ daraufhin gemäß § 222 AO einen berichtigten Gewerbesteuermeßbescheid, dem ein einheitlicher Gewerbesteuermeßbetrag in Höhe des ursprünglich festgesetzten Betrages zugrund gelegt wurde. Das Finanzamt ging davon aus, daß die durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl 1962 I S. 500) festgestellte Nichtigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG gemäß § 234 AO nur insoweit berücksichtigt werden könne, als die ursprüngliche Festsetzung nicht unterschritten werde.
Hiergegen richtete sich die Sprungberufung der Bfin., mit der sie geltend machte, die Berichtigung nach § 222 AO habe zur Folge, daß der gesamte Steuerfall wieder aufgerollt werden könne. § 234 AO könne nicht zur Anwendung kommen, wenn es darum gehe, die Auswirkungen einer für nichtig erklärten Vorschrift zu berücksichtigen. Wenn die Nichtigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG bei bereits rechtskräftigen Bescheiden nicht mehr oder nur noch dann berücksichtigt werden könne, wenn auch neue Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen festgestellt würden, dagegen bei anderen Steuerpflichtigen, die den Bescheid nicht hätten rechtskräftig werden lassen, voll berücksichtigt würde, so liege darin ein Verstoß gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze, insbesondere gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Im übrigen lägen neue Tatsachen zu ihren Gunsten (ß 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO) im Streitjahr vor. Seit langen Jahren habe sie mit ihren gewinnbeteiligungsberechtigten Arbeitnehmern vereinbart, daß diese ihre entsprechende Gewinnbeteiligung an einem durch die Betriebsprüfung festgestellten Mehrgewinn nachbezahlt bekämen. Diese Vereinbarungen seien dem Finanzamt erst bei der Betriebsprüfung bekanntgeworden. Für die Nachzahlungsansprüche seien in der Bilanz für 1959 Rückstellungen gebildet worden.
Die Berufung der Bfin. hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht verneinte das Vorliegen neuer Tatsachen im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO. Die Rückstellungen, die auf Grund der Vereinbarungen mit den gewinnberechtigten Arbeitnehmern gebildet worden seien, seien nur Folgetatsachen, die nicht als selbständige neue Tatsachen gewertet werden könnten. Sie seien eine notwendige Auswirkung der Feststellung des höheren Gewinns. Jedenfalls aber lägen keine neue Tatsachen des Jahres 1959 vor. Da somit für 1959 nur neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO festgestellt worden seien, dürfe gemäß § 234 AO der ursprüngliche Gewerbesteuermeßbetrag nicht unterschritten werden.
Mit der Rb. wiederholt die Bfin. ihre Einwendungen und beantragt hilfsweise, den Berichtigungsbescheid gemäß § 36 Abs. 2 GewStG 1962 zu berichtigen und dabei die Hinzurechnung nach § 8 Ziff. 6 GewStG in vollem Umfang in Wegfall zu bringen. In § 36 GewStG sei § 234 AO nicht erwähnt. Diese Vorschrift enthalte auch kein Verbot, den bisherigen Gewerbesteuermeßbetrag zu unterschreiten. Außerdem ergebe sich die Berichtigung aus der entsprechenden Anwendung des ß 36 a Abs. 1 GewStG 1962.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist nicht begründet.
Der ursprünglich festgesetzte Gewerbesteuermeßbetrag könnte dann unterschritten werden, wenn anläßlich der Betriebsprüfung neue Tatsachen festgestellt worden wären, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigten (ß 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO). Dies ist, wie das Finanzgericht im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat, nicht der Fall. Ob die im Lauf des Rechtsmittelverfahrens bekanntgewordenen Vereinbarungen mit den gewinnbeteiligungsberechtigten Arbeitnehmern selbständige neue Tatsachen darstellen oder ob sie nur Folgetatsachen sind, die sich aus der Feststellung eines höheren Gewinns ergeben, braucht nicht abschließend beurteilt zu werden. Jedenfalls handelt es sich nicht um neue Tatsachen des Streitjahres 1959. Dabei ist von ähnlichen Grundsätzen auszugehen, wie sie die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Bildung von Rückstellungen für nachzuholende Betriebsteuern in dem Jahr, zu dem die Steuerschuld wirtschaftlich gehört, ausgesprochen hat (Urteile des Bundesfinanzhofs IV 117/58 U vom 10. August 1961, BStBl 1961 III S. 534, Slg. Bd. 73 S. 735; I 248/60 U vom 21. August 1962, BStBl 1962 III S. 501, Slg. Bd. 75 S. 643;I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BStBl 1963 III S. 100, Slg. Bd. 76 S. 282). Wie in diesen Fällen, so ist auch im Streitfall die Bildung der Rückstellungen in dem Jahr, zu dem die Schuld wirtschaftlich gehört, nur über eine Bilanzänderung nach § 4 Abs. 2 EStG zulässig. Diese ist von der Ausübung eines dem Steuerpflichtigen zustehenden Wahlrechts und damit von seinem Willen abhängig. Eine Passivierungspflicht in diesem Jahr hätte nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung nur dann bestanden, wenn die Bfin. bei sorgfältiger Prüfung der ihr bei der Bilanzaufstellung auf den 31. Dezember 1959 bekannten oder erkennbaren Umstände mit der höheren Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer hätte rechnen müssen. Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden (vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs I 253/64 vom 23. März 1965, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1965 Nr. 353 S. 433). Die Bildung der Rückstellung im Jahre 1959 ist deshalb nicht Ausfluß einer neuen Tatsache.
Bei der Betriebsprüfung sind mithin nur neue Tatsachen festgestellt worden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen (ß 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO). Ein auf Grund dieses Ergebnisses erlassener Berichtigungsbescheid kann, wie das Finanzgericht zutreffend ausgeführt hat, nur insoweit angefochten werden, als die Änderung gegenüber dem ursprünglich festgesetzten Gewerbesteuermeßbetrag reicht (ß 234 AO). Im Urteil I 286/62 U vom 7. Oktober 1964 (BStBl 1965 III S. 103, Slg. Bd. 81 S. 286) hat der Senat im einzelnen ausgeführt, daß dies auch dann gilt, wenn in der ursprünglichen Festsetzung Beträge enthalten sind, die auf einer inzwischen durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruhen. Hieran wird festgehalten. § 234 AO verstößt in dieser Auslegung auch nicht gegen das GG. Insbesondere kann nicht ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt werden. Es gelten insoweit dieselben Gründe, wie sie der Senat im Urteil I 143/64 S vom 28. Oktober 1964 (BStBl 1965 III S. 196, Slg. Bd. 81 S. 542) bei der verfassungsrechtlichen Prüfung des § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) dargelegt hat. Sowohl § 79 Abs. 2 BVerfGG als auch § 234 AO beruhen auf der Erwägung, daß die Beständigkeit einer Entscheidung ihrer materiellen Richtigkeit vorgeht. Für die unterschiedliche Behandlung anfechtbarer und (ganz oder teilweise) nicht mehr anfechtbarer Entscheidungen sind somit sachlich einleuchtende Gründe gegeben, weil die Forderung nach Beständigkeit einer unanfechtbaren Entscheidung aus dem Prinzip der Rechtssicherheit folgt, das Verfassungsrang hat (vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 678/57 vom 12. Dezember 1957, BStBl 1958 I S. 52).
Die Anwendung des § 234 AO wird auch nicht durch § 36 GewStG 1962 ausgeschlossen. § 36 Abs. 2 Satz 2 GewStG 1962, auf den sich die Bfin. stützt, besagt nur, daß § 8 Ziff. 6 GewStG vom Erhebungszeitraum 1949 an nicht mehr anzuwenden ist. Für den Streitfall bedeutet dies, daß der Berichtigungsbescheid keine erstmaligen Hinzurechnungen nach § 8 Ziff. 6 GewStG enthalten darf. Hingegen ist dieser Vorschrift nicht zu entnehmen, nach welchen Grundsätzen ein bereits unanfechtbarer Bescheid, der zum Teil auf ß 8 Ziff. 6 GewStG beruht, geändert werden darf. Dies entscheidet sich nach den allgemeinen Vorschriften.
Die Bfin. kann sich auch nicht auf § 36 a Abs. 1 GewStG 1962 berufen. Danach sind Gewerbesteuermeßbescheide für die Erhebungszeiträume 1949 bis 1961, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes vom 30. Juli 1963 erlassen und nach dem 24. Januar 1962 rechtskräftig geworden sind und die auf den Vorschriften des § 8 Ziff. 5 und 6 GewStG a. F. beruhen, auf Antrag des Steuerpflichtigen zu berichtigen. Aus dieser Vorschrift, nach der unter bestimmten Voraussetzungen auch unanfechtbare Bescheide wegen der Nichtigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG berichtigt werden dürfen, kann nicht geschlossen werden, daß dann gegenüber noch anfechtbaren Berichtigungsbescheiden der Einwand der Nichtigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG erst recht in vollem Umfang zum Zuge kommen müßte. § 36 a Abs. 1 GewStG 1962 hat den Sinn, für eine Übergangszeit, in der die Verfassungswidrigkeit auf Grund des bereits ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts hätte gerügt werden können, wegen Unkenntnis dieser Entscheidung aber nicht gerügt worden ist, eine Berichtigung unanfechtbarer Bescheide zu ermöglichen (vgl. Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV 923 S. 6). Da der ursprüngliche Gewerbesteuermeßbescheid vor dem 25. Januar 1962 unanfechtbar geworden ist, kann § 36 a Abs. 1 GewStG 1962, wie die Bfin. selbst einräumt, unmittelbar nicht zur Anwendung kommen. Dann widerspräche es aber gerade dem systematischen Sinn des § 234 AO, die Nichtigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG über den ursprünglich festgesetzten Betrag hinaus nur deshalb zu berücksichtigen, weil später auf Grund neuer Tatsachen zugunsten der Steuerpflichtigen ein Berichtigungsbescheid ergangen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs I 286/62 U a. a. O.).
Das Finanzgericht hat auch die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 4 Abs. 3 Ziff. 2 des Steueranpassungsgesetzes zu Recht verneint, weil durch die Nichtigerklärung des § 8 Ziff. 6 GewStG kein Merkmal der Besteuerung weggefallen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs I 143/64 S a. a. O.; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar 19651 BvR 768/64, Finanz-Rundschau 1965 S. 123). Schließlich entspricht es auch den Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs I 286/62 U a. a. O., daß das Finanzamt nicht etwa - wie die Vorinstanz angenommen hat - den Erlaß eines Berichtigungsbescheids abgelehnt, sondern den Gewerbesteuermeßbetrag in der ursprünglichen Höhe neu festgesetzt hat.
Die Rb. war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 411815 |
BStBl III 1965, 669 |
BFHE 1966, 471 |
BFHE 83, 471 |