Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Förderungsgesetze
Leitsatz (amtlich)
Die rückwirkende, den Abgabepflichtigen günstige änderung von ministeriellen Ermessensgrundsätzen ist vom Bundesfinanzhof - mit der Folge der Zurückverweisung der Streitsache an die Verwaltung - auch dann in Betracht zu ziehen, wenn sie erst nach dem Ergehen des angefochtenen Urteils eingetreten ist.
Normenkette
AO § 296 Abs. 1; FGO § 115/1; AO § 288/1; FGO § 115/2/3; LAG § 54
Tatbestand
Der Bf. will die Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge für den Zeitraum 1952 bis 1954 erlassen haben.
Am 21. Juni 1948 waren der Bf. und seine Ehefrau je Eigentümer eines kriegsbeschädigten Mietwohngrundstückes. Die Einheitswerte auf den 21. Juni 1948 betrugen je 8.000 DM.
Die Veranlagung vom 16. Juli 1956 zur Vermögensabgabe nach einem Vermögen von 16.000 DM bei Abzug von 5.000 DM Freibetrag ist unanfechtbar.
Die Ehefrau des Bf. verkaufte ihr Grundstück am 31. Mai 1955 für 6.000 DM. Dies führte zur Zurechnungsfortschreibung für dieses Grundstück auf die Käufer auf den 1. Januar 1956.
Auf Antrag des Bf. hat das Finanzamt die Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge 1952 bis 1954 auf Grund des § 54 LAG gestundet, weil der Bf. erklärte, am 15. März 1891 geboren (seine Frau am 15. Dezember 1894) sowie zu 100 v. H. erwerbsunfähig zu sein und als Einkommen jährlich nur 600 DM Mieteinkommen und 900 DM Unterhaltshilfe zu beziehen.
Am 20. Oktober 1956 hat der Bf. den streitigen Erlaßantrag hinsichtlich der gestundeten Beträge gestellt. Sein Einkommen gab er hierbei mit 400 DM Mieteinkommen (einschließlich Mietwert der eigenen Wohnung) und 1.800 DM Unterhaltshilfe an. Um diese zu erhalten und Schulden abzudecken, sei das der Ehefrau gehörige Grundstück verkauft worden. Den Erlös habe er verbraucht. Seine Frau bedürfe der Pflege. Er möchte das ihm gehörige Grundstück seiner Nichte als Erbin frei von Vermögensabgaberückständen hinterlassen.
Das Finanzamt hat den Antrag abgelehnt, weil die Abgabebeträge lebenslänglich gestundet seien und es daher an einer Zahlungsverpflichtung fehle.
Die Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben, weil nicht feststehe, daß nach dem Ableben des Bf. die Erbin nicht imstande sein werde, die Rückstände an Vermögensabgabe zu entrichten, bzw. daß ihr die Zahlung nicht zuzumuten sein werde, und weil das veranlagte Vermögen 10.000 DM übersteige, nämlich 16.000 DM betrage.
Auch die Berufung war erfolglos. Mit der Rb. wird der bisherige Antrag wiederholt. Zugleich beantragt der Bf., ihm das Armenrecht zu bewilligen und ihm die ihn vertretenden Rechtsanwälte beizuordnen.
Entscheidungsgründe
Zur Zeit fehlt eine gesetzliche Grundlage, dem Bf. in einem steuergerichtlichen Verfahren das sogenannte Armenrecht zu bewilligen. Sein diesbezüglicher Antrag muß deshalb abgelehnt werden.
In der Sache selbst ergibt die Prüfung folgendes: Nach Tz. 86 ff., insbesondere Tz. 87 der zu § 54 LAG ergangenen Verwaltungsanordnung (VAO zu § 54 LAG) vom 17. März 1955 (BStBl 1955 I S. 132) in der Fassung des Erlasses des Bundesministers der Finanzen vom 8. Januar 1960 (BStBl 1960 I S. 24, LA-Kartei, § 54, Karte 16) kommt ein Erlaß der rückständigen Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge 1952 bis 1954 in Betracht, wenn "mit einiger Sicherheit" zu erwarten ist, daß sich die schlechte wirtschaftliche und finanzielle Lage des Bf. und seiner Ehefrau nicht oder nicht erheblich bessern wird, und wenn ferner die Verwertung des Grundstückes durch Veräußerung oder Belastung wegen der dadurch entstehenden besonderen Härte nicht zumutbar erscheint. Sosehr der Akteninhalt eine Bejahung dieser Fragen nahelegt, bedarf es doch der erforderlichen Feststellung des Sachverhaltes durch die Tatsacheninstanz.
Die hier wiedergegebene Regelung ist durch den angeführten Erlaß des Bundesministers der Finanzen vom 8. Januar 1960 in Abänderung der VAO zu § 54 LAG vom 17. März 1955 neu geschaffen. Die neue Bestimmung enthält eine Erweiterung der Erlaßbefugnis. Nunmehr besteht die Erlaßbefugnis schon zu Lebzeiten des Abgabepflichtigen, ohne daß abzuwarten ist, wie die Vermögensverhältnisse und die sonstige wirtschaftliche Lage des Erben zur Zeit des Ablebens des Abgabepflichtigen sein werden.
Die geschilderte änderung der VAO zu § 54 LAG kann nach ihrem ausdrücklichen Inhalt auf alle Vierteljahrsbeträge mit Wirkung vom 1. April 1952 angewandt werden. Die Frage, ob der Bundesfinanzhof die änderung der VAO zu § 54 LAG in der vorliegenden Sache in Betracht ziehen kann, obgleich sie erst nach dem Ergehen des Urteils des Finanzgerichts vorgenommen worden ist, ist zu bejahen. Zwar läßt sich eine Rb. - von den Fällen eines gerügten wesentlichen Verfahrensmangels und eines Verstoßes wider den klaren Inhalt der Akten abgesehen - lediglich auf Verletzung einer bestehenden Rechtsnorm stützen (ß 288 Ziff. 1 AO). Aber selbst wenn man, was nicht zutrifft, die Bestimmungen der VAO zu § 54 LAG als Rechtsnormen ansähe, würde die Einführung der neuen "Rechtsnormen" rückwirkend erfolgt sein; es ist deshalb so anzusehen, als ob die neue Regelung bereits zu der Zeit bestanden hat, als das Urteil des Finanzgerichts erging (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 48/52 S vom 6. November 1953, BStBl 1953 III S. 364 ff., Slg. Bd. 58 S. 190).
Da nicht einmal die änderung einer Rechtsnorm vorliegt, sondern lediglich eine rückwirkende änderung in der Erkenntnis der Grundsätze des billigen Ermessens, kann die Neuregelung um so mehr in Betracht gezogen werden. Die Ermessensausübung selbst obliegt allerdings der Verwaltung.
Das angefochtene Urteil und die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion unterliegen daher der Aufhebung. Die Sache geht zur erneuten Entscheidung an die Oberfinanzdirektion zurück.
Fundstellen
Haufe-Index 410331 |
BStBl III 1962, 111 |
BFHE 1962, 294 |
BFHE 74, 294 |