Leitsatz (amtlich)
Entscheidet das FG über eine Anfechtungsklage gegen einen Gewinnfeststellungsbescheid gemäß Art. 3 § 4 VGFG-EntlG, so hat das FA die Betragsberechnung regelmäßig unverzüglich nach Bekanntgabe der Entscheidung des FG und nicht erst nach Rechtskraft dieser Entscheidung vorzunehmen und mitzuteilen.
Normenkette
FGO § 100 Abs. 2; VGFG-EntlG Art. 3 § 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, zu der sich die Rechtsanwälte A und B zur gemeinsamen Ausübung des Anwaltsberufs zusammengeschlossen haben.
Im Anschluß an eine Betriebsprüfung vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) die Auffassung, die Klägerin habe sich ab 1968 in zunehmendem Maße vornehmlich durch ihren Gesellschafter A auch gewerblich betätigt, insbesondere Grundstücksverkäufe und Finanzierungen vermittelt, und in den Streitjahren 1971 und 1972 aus dieser gewerblichen Tätigkeit erhebliche Gewinne erzielt. Im Hinblick auf diese gewerbliche Tätigkeit seien die Einkünfte der Klägerin in den Streitjahren insgesamt als Einkünfte aus Gewerbebetrieb festzustellen.
Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 20. Juni 1980 die Gewinnfeststellungsbescheide 1971 und 1972 in der Fassung der Einspruchsentscheidung unter Berufung auf Art. 3 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFG-EntlG) teilweise auf mit der Maßgabe, daß das FA "die Gewinne gemäß den Entscheidungsgründen neu festzustellen und zu verteilen hat". Das FG entschied, die Klägerin sei nur in zwei Fällen gewerblich tätig geworden und habe hieraus in 1971 einen Gewinn von ... DM und in 1972 einen Gewinn von ... DM erzielt. Dies führe jedoch nicht dazu, daß die gesamten Einkünfte der Klägerin als gewerbliche Gewinne zu beurteilen seien; diese seien vielmehr teils als Einkünfte aus Gewerbebetrieb und teils als Einkünfte aus selbständiger Arbeit festzustellen. In zwei Fällen sei A im Rahmen einer Mitunternehmerschaft mit zwei Maklern tätig geworden; die Einkünfte hieraus seien gesondert festzustellen und nicht der Klägerin, sondern allein A zuzurechnen; sie müßten deshalb entgegen der Annahme des FA bei der Gewinnfeststellung für die Klägerin außer Ansatz bleiben.
Gegen dieses Urteil haben das FA und die Klägerin jeweils Revision eingelegt; über diese Revisionen ist noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 4. November 1980 hat die Klägerin das FA gebeten, die Gewinne entsprechend dem Urteil des FG vom 20. Juni 1980 neu festzustellen und zu verteilen. Diesen Antrag lehnte das FA mit Verwaltungsakt vom 10. November 1980 mit der Begründung ab, das Urteil sei noch nicht rechtskräftig. Die Beschwerde hiergegen hat die Oberfinanzdirektion (OFD) als unbegründet zurückgewiesen.
Die Klage hatte Erfolg. Das FG hob den Verwaltungsakt des FA vom 10. November 1980 und die Beschwerdeentscheidung der OFD auf und verpflichtete das FA, "in Vollzug des nicht rechtskräftigen Urteils des FG Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 1980 II 158-159/76 die Gewinne betragsmäßig festzustellen und neu zu verteilen". Die Verpflichtung des FA, die Betragsberechnung nach Art. 3 § 4 VGFG-EntlG schon vor Unanfechtbarkeit der gerichtlichen Entscheidung durchzuführen, ergebe sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 89 veröffentlicht.
Mit der Revision, die das FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen hat, beantragt das FA, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Das FA rügt unrichtige Anwendung des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG und Verletzung rechtlichen Gehörs, weil das FG im Verfahren, das zu dem Urteil vom 20. Juni 1980 geführt hat, nicht auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach Art. 3 § 4 VGFG-EntlG hingewiesen habe.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist unbegründet.
1. Wird mit einer Anfechtungsklage die Änderung eines Gewinnfeststellungsbescheids beantragt, so ist das FG, soweit es den Gewinnfeststellungsbescheid für rechtswidrig erachtet, gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheid selbst zu ändern, d. h. den Gewinn neu festzustellen und zu verteilen (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 16. Dezember 1968 GrS 3/68, BFHE 94, 436, 441, BStBl II 1969, 192).
Dieser Grundsatz erleidet gemäß Art. 3 § 4 VGFG-EntlG eine Ausnahme. Danach kann das FG, sofern es bei einer Entscheidung über eine Anfechtungsklage nach § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO den Betrag nicht ohne besonderen Aufwand selbst festsetzen kann und weder der Kläger noch der Beklagte widersprechen, "den Verwaltungsakt teilweise aufheben und den aufgehobenen Teil durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nichtberücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Finanzbehörde den Betrag aufgrund der Entscheidung errechnen kann".
2. Zu Recht geht die Vorentscheidung davon aus, daß der Wortlaut des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG offenläßt, wann das FA die Betragsberechnung vorzunehmen und dem Steuerpflichtigen mitzuteilen hat, insbesondere, ob dies in jedem Falle erst nach Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung zu geschehen hat und demgemäß, sofern z. B. gegen ein Urteil Revision eingelegt ist, keine Verpflichtung zur Betragsberechnung und -mitteilung besteht, solange über die Revision nicht entschieden ist.
Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, das FA habe die Betragsberechnung unverzüglich bzw. in angemessener Frist nach Bekanntgabe der Entscheidung des FG, und nicht erst nach Rechtskraft dieser Entscheidung, vorzunehmen und mitzuteilen (Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rz. 12461; Rößler, Die Information über Steuer und Wirtschaft -- Inf -- 1981, 368 bis 370). Diese Rechtsansicht lag der angefochtenen Entscheidung zugrunde. Der erkennende Senat schließt sich ihr im wesentlichen an.
Zwar beinhaltet, wie das FG zu Recht hervorhebt, eine in Anwendung des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG ergangene finanzgerichtliche Entscheidung über eine Anfechtungsklage keine -- ggf. vollstreckbare -- Verurteilung des FA zu einer bestimmten Leistung, weil auf eine Anfechtungsklage nur ein Gestaltungsurteil und kein Leistungsurteil ergehen kann (vgl. auch Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, a. a. O., Rz. 12465 bis 12466). Eine Verpflichtung des FA, die gemäß Art. 3 § 4 VGFG-EntlG erforderliche Betragsberechnung vorzunehmen und mitzuteilen, entsteht aber unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen mit ihrer Verwirklichung unmittelbar kraft Gesetzes. Welche tatbestandlichen Voraussetzungen dies im einzelnen sind, muß angesichts der Unzulänglichkeit des Wortlauts der gesetzlichen Regelung (und auch ihrer Entstehungsgeschichte) aus ihrem Sinn und Zweck abgeleitet werden. Dieser Sinn und Zweck des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG spricht dafür, daß zu den tatbestandlichen Voraussetzungen, an die das Gesetz die Entstehung der Verpflichtung des FA zur Betragsberechnung undmitteilung knüpft, mindestens im Regelfalle, d. h. wenn das FG ohne Verfahrensverstöße gemäß Art. 3 § 4 VGFG-EntlG entschieden hat, nicht die Rechtskraft der finanzgerichtlichen Entscheidung gehört. Zweck des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG ist es allein, die Gerichte nach Möglichkeit von aufwendiger Rechenarbeit zu entlasten und diese den dafür besser ausgestatteten FÄ zu übertragen. Aus diesem Gesetzeszweck folgt, wie die Vorentscheidung zu Recht betont, daß der Anfechtungskläger, wenn das Gericht von der Möglichkeit des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG Gebrauch macht, im wesentlichen so gestellt werden muß, als wenn ein Urteil mit Betragsberechnung nach § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO ergangen wäre. Im wesentlichen gleichgestellt ist der Anfechtungskläger aber nur, wenn das FA in den Fällen, in denen es seinerseits Revision gegen das Urteil des FG eingelegt hat, die Betragsberechnung nicht erst nach Rechtskraft des FG-Urteils vornimmt, sondern bereits in angemessener Frist nach Bekanntgabe der finanzgerichtlichen Entscheidung.
3. Art. 3 § 4 VGFG-EntlG sieht allerdings vor, daß das FG die Betragsberechnung abweichend von § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO nur dann nicht selbst durchzuführen und in sein Urteil aufzunehmen hat, wenn weder der Kläger noch der Beklagte, also das FA, widerspricht. Im Schrifttum wird hierzu die Auffassung vertreten, wegen dieses Widerspruchsrechts müsse das Gericht vor einem Urteil den Kläger und den Beklagten auf die Möglichkeit einer Tenorierung nach Art. 3 § 4 VGFG-EntlG hinweisen (Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, a. a. O., Rz. 12421). Der Senat kann offenlassen, ob dem beizupflichten ist und bejahendenfalls, ob daraus weiter folgt, daß immer dann, wenn ein solcher Hinweis unterblieben ist, das FA aber bei ordnungsgemäßem Hinweis aus schutzwürdigen Gründen widersprochen hätte, eine Verpflichtung zur Betragsberechnung und -mitteilung in angemessener Frist nach Bekanntgabe des Urteils und noch vor dessen Rechtskraft nicht entstehen kann (weil sonst der Verfahrensverstoß ohne rechtliche Sanktion bliebe, insbesondere das FA, sofern der BFH nicht ausnahmsweise sofort über eine Revision des FA gegen das FG-Urteil entscheidet, zu Maßnahmen gezwungen wäre -- Betragsberechnung --, die es bei ordnungsmäßigem Verfahren des FG -- Hinweis mit der Folge eines berechtigten Widerspruchs des FA -- nicht hätte treffen müssen). Denn in jedem Falle können Verfahrensverstöße des FG bei Anwendung des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG die Entstehung der gesetzlichen Verpflichtung, in angemessener Frist nach Bekanntgabe des FG-Urteils und noch vor dessen Rechtskraft die Betragsberechnung vorzunehmen und mitzuteilen, nur dann hindern, wenn gegen das FG-Urteil Revision eingelegt ist und in diesem Revisionsverfahren diese Verfahrensverstöße ordnungsmäßig, d. h. der Vorschrift des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO entsprechend gerügt sind. Dabei gehören zu einer solchen ordnungsmäßigen Rüge -- unterstellt, daß ein vorheriger Hinweis des FG auf die Möglichkeit einer Tenorierung nach Art. 3 § 4 VGFG-EntlG für geboten erachtet wird -- sowohl die Behauptung, daß ein solcher Hinweis unterblieben ist, als auch die substantiierte Darlegung, daß das FA, wenn es auf die fragliche Möglichkeit hingewiesen worden wäre, einem Verfahren nach Art. 3 § 4 VGFG-EntlG aus Gründen widersprochen hätte, die als schutzwürdig anzuerkennen und nicht etwa als rechtsmißbräuchlich zu erachten und damit rechtsunerheblich sind.
Im Streitfall macht das FA zwar im vorliegenden Revisionsverfahren geltend, das FG hätte auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach Art. 3 § 4 VGFG-EntlG hinweisen müssen, ein solcher Hinweis sei unterblieben; damit habe das FG das rechtliche Gehör verletzt, denn es könne nicht unterstellt werden, daß das FA nicht widersprechen werde oder dürfe. Im Revisionsverfahren, das die Revision des FA und der Klägerin gegen das in Anwendung des Art. 3 § 4 VGFG-EntlG ergangene FG-Urteil in der Gewinnfeststellungssache zum Gegenstand hat, hat das FA aber keine den oben dargestellten Erfordernissen gerecht werdende Verfahrensrüge erhoben. Demgemäß ist für das vorliegende Verfahren davon auszugehen, daß das FG ohne Verfahrensfehler gemäß Art. 3 § 4 VGFG-EntlG entschieden hat, und daß deshalb kraft Gesetzes eine Pflicht des FA entstanden ist, in angemessener Frist nach Bekanntgabe des FG-Urteils die Betragsberechnung vorzunehmen und mitzuteilen.
Fundstellen
Haufe-Index 74768 |
BStBl II 1983, 776 |
BFHE 1984, 119 |