Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Der Begriff "Verlust der Erwerbsgrundlage" in § 7 a und § 10 a EStG 1955 setzt den Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage voraus, aus der der Steuerpflichtige zur Zeit der Vertreibung im wesentlichen seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte und bestritten hat.
Wirtschaftliche Nachteile durch Verlust einer Erbanwartschaft oder durch die Unterbrechung der Berufsausbildung bedeuten keinen Verlust der Erwerbsgrundlage.
Ehefrauen oder haushaltszugehörige Kinder, deren Ehemann oder Vater durch die Vertreibung seine Erwerbsgrundlage verloren hat, haben durch die wirtschaftliche Gefährdung des Unterhaltsanspruchs nicht selbst eine Erwerbsgrundlage verloren, auch wenn sie mit dem Ehemann oder Vater zusammen veranlagt wurden.
Normenkette
EStG § 7a/1, § 10a/1
Tatbestand
Der Bf. verlangt die Vergünstigung für den nicht entnommenen Gewinn. Er betreibt seit 1947 zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder in X. eine Papierwarenfabrik. Er ist 1926 geboren. Bis 1943 besuchte er eine höhere Schule im Sudetenland; anschließend war er bis Februar 1944 Luftwaffenhelfer, dann ab Mai 1944 im Arbeitsdienst und nachher ab Juni 1944 im Wehrdienst. In den freien Monaten war er, wie er behauptet, in der elterlichen Papierwarenfabrik im Sudetenland tätig. Im Juli 1945 wurden seine Eltern aus dem Sudetenland vertrieben. Der Bf. geriet in Kriegsgefangenschaft und hielt sich nach der Entlassung zunächst in österreich auf, bis er 1947 nach X. kam.
Das Finanzamt lehnte die Anwendung des § 10 a EStG 1955 ab, weil der Bf. keine Erwerbsgrundlage verloren habe.
Die Sprungberufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht führte im wesentlichen aus: Der Bf., der Vertriebener im Sinne des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes sei, könne die beantragte Steuervergünstigung nicht bekommen, weil er keine "frühere Erwerbsgrundlage" verloren habe. Eine Erwerbsgrundlage könne nur jemand verlieren, der eine solche schon gehabt habe. Personen, die durch die Vertreibung nur in der Schaffung einer Erwerbsgrundlage behindert worden seien, würden nicht begünstigt. Die kurzfristige Mitarbeit des Bf. im Betrieb seiner Eltern sei allenfalls eine Vorbereitung für die spätere Schaffung einer eigenen Erwerbsgrundlage gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Rb., mit der der Bf. unrichtige Auslegung des § 10 a EStG rügt, ist nicht begründet.
Nach § 10 a Abs. 1 Ziff. 1 EStG 1955 können Vertriebene die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns in Anspruch nehmen, wenn sie ihre frühere Erwerbsgrundlage verloren haben. Der Verlust der Erwerbsgrundlage muß die Folge der Vertreibung sein (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 57/57 U vom 5. September 1957, BStBl 1957 III S. 374, Slg. Bd. 65 S. 372). Eine Erwerbsgrundlage konnten, wie das Finanzgericht unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 411/55 U vom 19. Juli 1956 (BStBl 1956 III S. 282, Slg. Bd. 63 S. 220) zutreffend annimmt, durch die Vertreibung nur solche Steuerpflichtige verlieren, die vorher eine hatten. Solchen Steuerpflichtigen will der Gesetzgeber durch die Steuerbegünstigung beim Wiederaufbau einer neuen Existenz im Bundesgebiet helfen.
Der Begriff "Erwerbsgrundlage" ist, wie das Finanzgericht im Anschluß an das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 58/53 U vom 25. Juni 1953 (BStBl 1953 III S. 267, Slg. Bd. 57 S. 698) zutreffend bemerkt, nicht eng auszulegen. Es genügt der Verlust einer selbständigen oder unselbständigen Tätigkeit oder auch der Verlust von Vermögen, vorausgesetzt, daß der Steuerpflichtige zur Zeit der Vertreibung aus der Tätigkeit oder dem Vermögen im wesentlichen seinen Lebensunterhalt bestritt. Insofern werden im Abschnitt 45 EStR 1955, der sich auf den soweit gleichlautenden § 7 a EStG 1955 bezieht, die Begriffe "Erwerbsgrundlage" und "Existenzgrundlage" mit Recht gleichgesetzt. Das Gesetz verlangt nicht, daß der Steuerpflichtige in der Bundesrepublik dieselbe Erwerbstätigkeit wieder aufnimmt, die er in der Heimat durch die Vertreibung verloren hat. Ein Vertriebener, der in der Heimat Arbeitnehmer war, kann - vorbehaltlich der anderen gesetzlichen Voraussetzungen - darum z. B. die Vergünstigung des § 10 a EStG 1955 in Anspruch nehmen, auch wenn er in der Bundesrepublik als Land- und Forstwirt, Gewerbetreibender oder Freiberufler tätig wird.
Das Gesetz begünstigt aber nur Steuerpflichtige, die eine eigene Erwerbsgrundlage verloren haben, aus der sie zur Zeit der Vertreibung selbst und unmittelbar im wesentlichen ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten und bestritten haben. Diese Voraussetzung ist z. B. erfüllt, wenn ein minderjähriges Kind vor der Vertreibung im Erbwege den elterlichen Betrieb erworben hatte, also dessen Eigentümer war, auch wenn es in dem Betrieb noch nicht mitgearbeitet hat. Dagegen kann nicht vom Verlust der eigenen Erwerbsgrundlage gesprochen werden, wenn ein zur Zeit der Vertreibung jugendlicher Steuerpflichtiger nach dem voraussichtlichen Verlauf der Dinge wahrscheinlich später in der Heimat durch Erbschaft des elterlichen Betriebs oder Vermögens eine Grundlage für seinen eigenen Lebensunterhalt erworben haben würde. Auch ein Steuerpflichtiger, der vor der Vertreibung eine Berufsausbildung begonnen oder vollendet hatte, die ihm, wenn er nicht vertrieben worden wäre, vermutlich in der Heimat eine wirtschaftliche Existenz verschafft hätte, hat keine eigene Erwerbsgrundlage verloren, aus der er seinen Lebensunterhalt vor der Vertreibung bestritten hat; er hat vielmehr nur eine Aussicht auf eine künftige eigene Erwerbsgrundlage verloren.
Hat ein Kind vor der Vertreibung im elterlichen Betrieb schon mitgearbeitet, so kann der Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage angenommen werden, wenn es als vollwertige ausgebildete Kraft mitgearbeitet hat und bei gleicher Arbeitsleistung in einem fremden Betrieb seinen vollen Lebensunterhalt hätte verdienen können.
Der Verlust eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs ist kein Verlust einer Erwerbsgrundlage. Deshalb können Kinder oder Ehefrauen die Vergünstigung des § 10 a EStG 1955 nicht mit der Begründung in Anspruch nehmen, daß der bürgerlich-rechtliche Unterhaltsanspruch gegen den Vater oder Ehemann durch die Vertreibung aus der Heimat beeinträchtigt worden sei, weil der unterhaltsverpflichtete Vater oder Ehemann seine Erwerbsgrundlage verloren habe. Der gesetzliche Unterhaltsanspruch kann nach Wortlaut und Sinn keine "Erwerbsgrundlage" im Sinne des § 10 a EStG sein. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob die Eheleute oder die Eltern mit den Kindern zur Zeit der Vertreibung nach §§ 26 und 27 EStG zusammen zu veranlagen waren; die Haushaltseinheit oder die Zusammenveranlagung können nicht dazu führen, daß der Verlust einer eigenen Erwerbsgrundlage für einen den Verlust der eigenen Erwerbsgrundlage für alle bedeutet. Will man den Verlust einer "eigenen" Erwerbsgrundlage feststellen, so kommt es auf die persönlichen Verhältnisse des einzelnen Steuerpflichtigen an.
Der Bf. will das Gesetz weiter ausgelegt wissen; er betrachtet auch schon den Verlust einer Erbanwartschaft oder die wirtschaftliche Gefährdung eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs als Verlust der Erwerbsgrundlage. Eine solche Auslegung ist aber schon mit dem Wortlaut des Gesetzes kaum zu vereinbaren; sie gibt dem Ausdruck "Erwerbsgrundlage" einen Sinn, der gemeinhin nicht damit verbunden wird. Vor allem wird sie aber dem Sinn der Sache nicht gerecht. Wollte man der Auffassung des Bf. folgen, so würde der Kreis der Begünstigten so erheblich ausgeweitet, daß es zu einer mit Art. 3 des Grundgesetzes nicht zu vereinbarenden ungleichmäßigen Behandlung aller Steuerpflichtigen kommen müßte. Es läßt sich rechtfertigen, den Vertriebenen, die durch die Vertreibung eine eigene Erwerbsgrundlage verloren haben, bei Begründung einer neuen Existenz im Bundesgebiet auch durch steuerliche Maßnahmen zu helfen. Steuerpflichtige aber, die zur Zeit der Vertreibung noch keine eigene Erwerbsgrundlage hatten, würden durch die Gewährung von steuerlichen Vergünstigungen der in Frage stehenden Art ungerechtfertigt bevorzugt. Diese Steuerpflichtigen stehen wirtschaftlich nicht anders als die vielen Nichtvertriebenen, die durch den Krieg und seinen Folgen auch in ihrer wirtschaftlichen Existenz oder im beruflichen Fortkommen schwer beeinträchtigt wurden. Der Gesetzgeber gleicht bei ihnen solche Nachteile nicht allgemein durch steuerliche Sondervergünstigungen aus. Dann aber kann es auch nicht in seinem Sinn liegen, zugunsten der Vertriebenen den Begriff "Erwerbsgrundlage" so weit auszudehnen, wie es der Bf. wünscht.
Die Vorentscheidung entspricht diesen Rechtsgrundsätzen. Der Bf. hatte zur Zeit der Vertreibung noch keine eigene wirtschaftliche Existenz; er lebte im Haushalt der Eltern. Daß er vorübergehend im elterlichen Betrieb mithalf, spielt demgegenüber keine Rolle.
Fundstellen
Haufe-Index 409809 |
BStBl III 1960, 462 |
BFHE 1961, 570 |
BFHE 71, 570 |